Du Träumer!
Ich kenne Sie zu wenig, um über Ihre Schulzeit Bescheid zu wissen, aber da mag es den einen Lehrer, die andere Lehrerin gegeben haben, die Sie im Sachkundeunterricht der Grundschule oder während des Englisch- oder Französischunterrichts in der Oberstufe leicht angesäuert angesprochen oder aufgerufen haben mit „Hey, Du Träumer!“ – oder gendergerecht: „Hey, Du Träumerin!“
Sie wissen, ein Lob der Lehrenden war das sicher nicht! Aber am heutigen Tag, am Josefstag, und nur für heute, soll das „Hey, Du Träumerin!“ Ihre Verbindung zu hl. Josef sein.
Josef – ein Tagträumer?!
Ich finde es immer wieder spannend, die gleichen Texte zum wiederholten Mal zu lesen und dann Dinge zu entdecken, die mir noch nie auffielen. Hören Sie mal:
„Josef, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, beschloss, sich in aller Stille von ihr zu trennen. Während er noch darüber nachdachte, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sagte: Josef, Sohn, Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen.“
Den geschilderten Vorgang, die Geschichte kennen Sie so gut wie ich. Aber wie spannend ist denn die Formulierung: „Während er noch darüber nachdachte, siehe, da erschien ihm der Engel des Herrn im Traum…“
Sie lässt nur zwei Möglichkeiten des Verstehens zu: Entweder schlug Josef sich mit der Frage einige Tage herum, und nachts erschien ihm der Engel im Traum. Oder er träumte vor sich hin, wie Sie damals in Sachkunde, Englisch oder Französisch, und in diesem Tagtraum entwickelte er eine Empfänglichkeit für das, was Gott selbst ihm sagen ließ. Das „Als Josef erwachte“ mag für die eine wie für die andere Möglichkeit der Deutung gelten. „Erwachen“ steht für ein Handeln in vollem Bewusstsein, „Träumen“ für eine Bildwelt, für ein tieferes Empfinden, für eine Wirklichkeit hinter oder unter der alltäglichen Wirklichkeit, die tiefer liegt und weiter zu sehen vermag. Ich stelle die Worte „Meditation“, „Kontemplation“, „Betrachtung“ und „Atem- oder Herzensgebet“ mal dazu; es sind für mich Möglichkeiten, dieser Art von Tagtraum eine Tür zu öffnen.
Und zwei Dinge fallen mir dabei. Josef träumt – einmal von Gott her, und einmal auf Gott hin.
Träumen – von Gott her
Ich sehe den „nachdenklichen“ Josef vor mir – so beschreibt es Matthäus, und setze für mich ein: den meditierenden, den in Kontemplation und Betrachtung verweilenden, das Herzens- oder Atemgebet praktizierenden Josef. So wird er ein Betender, einer von uns. Diese Weise des „evangelischen Tagtraums“ öffnet alle Türen für das Kommen, für die Berührung Gottes. In dieser Weise des Gebets kann ich auch in schweren und schwierigsten Situationen erahnen, welchen Traum Gott für mich träumt. Denen, die in diesen Formen des „Gott darf berühren und auch verfügen“ eingeübt sind, ist klar, dass sich da Ideen und Wege zeigen, dass sich da Zugkräfte entwickeln, an die Sie im Traum nicht gedacht hätte. Das ist das Träumen von Gott her – Sie hätten im Traum nicht daran gedacht, aber Gott zeigt es Ihnen, lockt Sie mit seinem Traum für Sie. Es sind Engel, keine Teufel, die diese Träume bringen. Und die Träume ziehen Sie mehr und mehr in die Nähe Gottes, sie machen Sie liebens- und leidensfähiger.
Träumen – auf Gott hin
Das Ganze geht auch andersherum – Josef träumt nicht nur von Gott her, er träumt auch auf Gott hin. Spannend dabei scheint mir, dass das „auf Gott hin“ träumen nicht einfach kompatibel ist mit der Erfüllung des „Gesetzes“ – das wäre dann ein Akt der Frömmigkeit, eben das zu tun, was das Gesetz vorsieht. Aber auf Gott hin träumen hat viel mehr zu tun mit Glauben – Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugt sein von Dingen, die man nicht sieht (Hebr 11,1) – und mit Gnade. Paulus beschreibt das in den Worten der Lesung aus dem Römerbrief: „Abraham und seine Nachkommen erhielten nicht aufgrund des Gesetzes die Verheißung, Erben der Welt zu sein, sondern aufgrund der Glaubensgerechtigkeit. Deshalb gilt. ‚aus Glauben‘, damit auch gilt: ‚aus Gnade.‘“ Auf Gott hin träumen heißt immer, sich aus dem Bestehenden heraus- und wegbewegen, Neuland unter die Füße zu nehmen, aufzubrechen auf ein Mehr, ein „Magis“ an Leben hin.
Josef will sich zu Beginn in aller Stille von der schwangeren Maria trennen, ohne sie bloßzustellen. Dann kommt ein Traum, von Gott her, ein Engel, der einen anderen Weg zum Leben zeigt. Sein Traum von Gott her lässt Josef aufbrechen zum verwirklichten Traum auf Gott hin. Das heutige Evangelium beschreibt das kurz und bündig mit dem Satz „Als Josef erwachte, tat er, was der Engel des Herrn ihm befohlen hatte.“ Hier geht es um geistiges Neuland – Josef bleibt bei seiner schwangeren braut und steht an Vater statt dem Kind gegenüber. Dasselbe wird sich bei der Flucht nach Ägypten wieder abspielen. Da geht es um geographisches Neuland.
Das vermögen Träume – wenn sie von Gott her und wenn sie auf Gott hin gehen.
Hat Ihr Lehrer, Ihre Lehrerin Sie einmal Träumerin oder Träumer genannt? Dann haben Sie was Gutes getan! Sollten Sie es ausgetrieben bekommen haben, dann wünsche ich Ihnen, dass Sie es wieder lernen, das Träumen. Das verbindet Sie mit dem hl. Josef.
Amen.
Köln 18.03.2021
Harald Klein