Zum 23.08.: Übertragung der Gebeine der Hl. Drei Könige nach Köln – Die Blickrichtung ändert sich

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„Der Club der toten Dichter“ (1989)

Der eine oder die andere wird sich noch erinnern können an den Erfolg des amerikanischen Spielfilm „Dead Poet’s Society“ („Der Club der toten Dichter“), in dem Robin Williams einen sehr frei denkenden Lehrer in einem amerikanischen Eliteinternat der 1950er Jahre spielt. Eine Schlüsselszene ist, dass er die Schüler seiner Klasse auf einen Tisch steigen lässt, sie sollen sich von dort den Klassenraum anschauen – quasi in anderer Perspektive. Wen sich der Standpunkt ändert, bekommen die vermeintlichen Wirklichkeiten ein anderes Aussehen, auch eine andere Bewertung.

Die Übertragung der Gebeine der Heiligen Drei Könige

Die Legenden erzählen von den Gebeinen der hl. Drei Könige, die erst von der hl. Helena nach Konstantinopel gebracht und von dort durch den hl. Bischof Eustorgius nach Mailand überführt wurden. Im Jahre 1162 ergab sich das belagerte Mailand dem Kaiser Barbarossa, die Stadt wurde geplündert und zerstört. Der Bischof Heinrich von Lüttich wurde mit der vorläufigen Verwaltung vor allem des Kirchenvermögens beauftragt und hätte die Gebeine gerne für sich behalten, Kaiser Barbarossa schenkte sie jedoch dem Erzbischof von Köln, Rainald von Dassel. Der brachte die Gebeine nach Köln – und das nennt man „Übertragung“. Würden Sie wie die Schüler im Film auf einen Stuhl steigen und die perspektive ändern, fielen Ihnen wahrscheinlich andere deutende und erklärende Begriffe ein.

Statt Wallfahrt – Abmarsch

Und dann die Lesungen: „Nationen wandern zu deinem Licht, und Könige zu deinem strahlenden Glanz, Sie versammeln sich, kommen zu dir.“ Da kommt die Domwallfahrt in den Blick, die Köln seit dem 12. Jahrhundert zu seiner Größe hat kommen lassen. Aber Menschen haben die Perspektive verändert. Im Jahr 2019 gab es den historischen Höchststand an Kirchenaustritten, mehr als eine halbe Million Katholiken und Protestanten verließen ihre Kirche. Statt Wallfahrt – Abmarsch.

Für die Menschen bis in die Moderne hinein galt: Wir haben Antworten, Riten, Verhaltensweisen, die gelten. Der Gottesdienst, die Wallfahrt, die Reliquien gehören dazu. Für Menschen in der Epoche danach, in der Postmoderne, ist das anders. Die Blickrichtung ändert sich. Nicht mehr wir gestalten die Dinge und da Leben, sondern das Leben und die Dinge gestaltet uns – wir sehen es an der Corona-Pandemie am ehesten. Wir haben keinen wirklich helfenden Zugriff mehr auf die Antworten, Riten, Verhaltensweisen. Wir müssen und dem stellen, was von außen immer wieder neu und anders auf uns zukommt. Dem postmodern lebenden und betenden Menschen nützen die „übertragenen Gebeine“ nichts, ihm nützen Weggefährtinnen und Weggefährten, ihm nützen Menschen, die in einem guten Geist mit ihm nach Antworten fragen und – noch besser – diese Antworten auch leben.

Wenn die Postmoderne so etwas ist wie das Steigen auf die Stühle, um hilfreiche Perspektiven für die Gegenwart zu suchen, dann ist das Entdecken der Koinonia, der Dimension der gelebten Gemeinschaft wahrscheinlich das neue, und dann ist der Gang in die Häuser der Brüder und Schwestern, das Gespräch und der Austausch, die geteilte Hoffnung und das Bestärken das, was an die Stelle der übertragenen Gebeine der Heiligen drei Könige treten wird.

Köln, 23.07.2020
Harald Klein