Leben zur Sprache bringen – Sprache zum Leben bringen
Die Geschichte, der Plot, wie es neudeutsch heißt, ist schnell erzählt: Der britische Übersetzer Simon Leyland geht mit heftigen Kopfschmerzen zur ärztlichen Untersuchung. Die Diagnose lautet; ein Hirntumor, inoperabel, erwartbare Lebenszeit noch einige Monate. Leyland will das Seine ordnen, verkauft den Verlag, den er von seiner vor einiger Zeit bei einem Autounfall umgekommenen Frau Livia in Triest – sie ist Italienerin – geerbt hat, verabschiedet sich von seinen engsten Freunden und Freundinnen, nur um dann zu erfahren, dass er eine falsche Diagnose bekam: Die Bilder des MRT wurden in der Klink vertauscht. Leyland kann nicht nur, er muss neu beginnen.
Und alles dreht sich ums Wort, in seiner Aufgabe als Übersetzer, in den Werken des Verlages, den er jetzt abgibt, in den Gesprächen mit seinen Freunden, in den Briefen, die er an seine verstorbene Frau schreibt, vor allem, um sich auch vor sich selbst richtig ausdrücken zu können.
Ich fühle mich von Pascal Mercier bzw. von Simon Leyland mitgenommen auf diese Reise im Ringen um Worte, um Sprachfähigkeit und Sprachunfähigkeit; mich rührt im über 500 Seiten starken Buch die Macht an, die das richtige oder auch das falsche Wort an den Tag legen kann. Verrückt, aber es ist nicht die Handlung, es ist die Sprache, die dieses Buch zu einem Gewinn für mich gemacht hat.
Wenn sich auch manches wiederholt – Leyland erlebt etwas, was erzählt wird, und dann schreibt er es nochmal in seinen Worten seiner verstorbenen Frau oder erzählt es seinen erwachsenen Kindern Sophia und Sidney, und ich lese das Erlebte in den Worten Simon Leylands -, so kommt doch keine Langeweile in mir auf, weil die Sprache so wunderschön ist.
Und es ist nicht zu viel versprochen, wenn ich Ihnen sage, dass das „Gewicht der Worte“ am Ende des Rom ans noch einmal so richtig zur Geltung kommt. Lassen Sie sich überraschen!
Die Zitate sind entnommen aus Mercier, Pascal (2020): Das Gewicht der Worte, 2. Aufl., München, die Seitenangabe steht in Klammern am Ende des Zitates.
Die Zitate:
„Wenn jemand etwas sucht, um sich, wie wir sagen, die Zeit zu vertreiben, wenn er also nach einem Zeitvertreib sucht: wie fahrlässig mir das jetzt vorkommt! Und geradezu unglaublich mutet mich das Bedürfnis an, Zeit totzuschlagen.“ (101)
„Die Erwartungen der anderen – sie können eine Tyrannei sein, und ihre Tücke besteht darin, dass sie sich der Wahrnehmung entzieht und ihr Unwesen im Schattenreich des Unbewussten treibt, so dass man sich nicht zur Wehr setzen kann. Warum, frage ich mich, hat es eines Tumors bedurft – dieser rohen, brutalen Demonstration der Endlichkeit -, damit ich dieser Tyrannei gewahr wurde?“ (102)
„Und natürlich ging es um das Handwerk der Worte, um Poesie als eine Art, das Leben nicht nur zu erleiden. Sondern zu gestalten.“ (130)
„Beide liebten sie die Abenddämmerung und verfolgten sie an Deck. La nuit tombe. Night is falling. Mit Einbruch der Dunkelheit – warum klang das gewaltsamer als das Fallen? Warum brach die Morgendämmerung an und die Abenddämmerung herein?“ (144)
„Das Feuer, sagtest Du, ist nicht etwas, was man einem Toten antut, es ist ein Schritt, der dem Verfall und der Verwesung zuvorkommt, ein befreiender Schritt also.“ (154)
„Leyland legte den Brief zur Seite. Es war nicht nur Notwehr gewesen, ihn zu schreiben. Es war auch darum gegangen, durch das Suchen nach den richtigen Worten die Konturen seines Erlebens zu erkunden. Herauszufinden, was genau er empfand. Manchmal hatte er innegehalten und mit Verwunderung gespürt, dass er zum ersten Mal dabei war zu entdecken, wer er war.“ (159)
„Die Worte, die er schrieb, traute er sich eher zu als die Worte, die er nur las. Wenn er schrieb, war es sich näher, als wenn er sich nur zuhörte.“ (166)
„Intimität ist unteilbar.“ (187)
„Stets sind es Wörter, die mir helfen, den Bann der Zeitlichkeit zu brechen. Etwas im Geiste der Poesie, also ganz der Form und der stimmigen Melodie verpflichtet, in Worte fassen: Es ist ein Weg, sich von der Illusion der Zeit als Form der Geschäftigkeit freizumachen.“ (221)
„Poesie verlangsamt die Zeit, hebt sie auf und befreit uns von ihr, sei es die Poesie der Worte in der Literatur oder die Poesie der Töne in der Musik. Sie schafft Gegenwart, eine gewissermaßen ewige Gegenwart, ewig, weil sie immer da ist und durch nichts aufgehoben werden kann.“ (221)
„Die Bewunderung für ein großartiges Stück Dichtung gilt nie seiner verblüffenden Geschicklichkeit, sondern der Neuheit der Entdeckung, die es enthält.“ (276)
„‘Dafür sind Kathedralen gebaut worden‘, hatte sie gesagt, als sie im Dom saßen: „als Orte, an die man gehen kann, wenn die Dinge des Lebens einen überwältigen: Schmerz, Verzweiflung, Einsamkeit, Tod. Man braucht, wie Sie und ich, an nichts zu glauben. Der Raum allein genügt.‘“ (314)
„Was eigentlich Poesie sei, hatte er auf der Rückfahrt plötzlich gefragt. Er meinte nicht Gedichte, hatte er hinzugefügt, sondern Poesie im weitesten Sinne, wie es sie in der Prosa gebe, aber auch in Gemälden, in Fotografien, im Film, in der Musik. ‚Poesie – sie hat, scheint mir, mit der Erfahrung von Zeit zu tun‘, hatte Leyland gesagt. ‚Vielleicht könnte man sagen: Sie ist eine Art, die Gegenwart ganz Gegenwart sein zu lassen. Ein Mittel, die Zeit anzuhalten.“ (361)
„Es geht nicht darum, das Mysterium zu verstehen, es geht nur darum, es zu leben.“ (375)
„Es gibt keine größere Fremdheit als die der zersetzten Intimität.“ (390)
„‚Sprachliche Zeichen‘, pflegte er zu sagen, ‚sind das Mysterium des Geistes.‘“ (401)
„‘Aber auch wenn es im Lichte eines bestimmten Ziels, eines festgelegten Nutzens, so aussieht‘, sagte Sophia, ‚ist vertrödelte Zeit doch nicht unbedingt verlorene Zeit. Ich kann im Trödeln etwas für mich und meine anderen Wünsche getan haben, für diejenigen, die ständig im Schatten der praktischen Ziele standen und nun auch einmal zur Geltung kommen sollen. Dann ist die vertrödelte Zeit keine entfremdete, entfremdet verbrachte Zeit. Ich komme in ihr zu meinem Recht. Zeit vertrödeln kann deshalb auch eine Art der stillen Revolte sein.‘“ (427)
„Er setzte sich in eine weitere Bar. Plötzlich ging es ihm gut. Das Nachdenken über das Schreiben, auch wenn es noch rhapsodisch und ungeordnet war, hatte eine neue Wachheit in ihm entstehen lassen. War schreiben wie aufwachen?“ (514)
Köln, 01.01.2023
Harald Klein