Um was es geht
Dass die christlichen Kirchen in Europa in einer Krise sind, ist hinlänglich bekannt. Aber auch christlicher Glaube und christliche Religion sind von dieser Krise nicht verschont. Es ist schon ein genaues Hinsehen und ein genaues Unterscheiden notwendig, wenn sich Einzelne oder ganze Gruppen fragen, ob sie sich aus der Kirche, aus dem Glauben oder aus der Religion bzw. den Religionen zurückziehen möchten – oder was sie vielleicht zum bewusst entschiedenen Bleiben bewege könnte.
Wessen Sorge könnte das sein, diesen Unterscheidungs- und Entscheidungsprozess ins Laufen zu bringen und ihn zu begleiten? Es versuchen vor Ort die Liturgiker mit (an was auch immer) angepassten und zielgruppenorientierten Gottesdiensten bzw. Gottesdienstformen. Es versuchen Verantwortliche für die Pastoral regional oder überregional mit gruppenspezifischen oder gruppenübergreifenden Begegnungsangeboten. Es versuchen Menschen in gewählten Gremien auf dem Synodalen Weg oder den synodalen Wegen im Miteinander der Beratungen an beinahe nicht mehr lösbaren Schrauben zu drehen. Und es versuchen die Verantwortlichen der Weltkirche durch die Lehre des Aufleuchtens eines sich im Niederbrennen befindendes Licht des Glaubens, so etwas wie eine Attraktivität des Bleibens zu predigen.
Was glaubst Du? Was davon hilft, überzeugt, könnte Dich animieren, zu bleiben, wenn Du ans Gehen denkst – könnte Dich zur Rückkehr anstiften, wenn Du eines, zwei oder alles drei hinter dir gelassen hast: Kirche, christlicher Glaube, christliche Religion?
In den vergangenen Wochen ist ein Buch des Religionspädagogen Hubertus Halbfas[1] mit mir gegangen, aus dem ich hier einige Worte weitergeben will, die zumindest mir hilfreich waren. Es ist 1981 erschienen, aber zeitlos, und das hat einen Grund: Halbfas bleibt bei dem, was Aufgabe eines Religionspädagogen ist; er beschreibt in vielen Metaphern und Geschichten diese Aufgabe – und dann kommt seine größte Leistung: Er schweigt! Er schweigt und überlässt es den Einzelnen, den Leserinnen und Lesern, eine persönliche, individuelle Antwort auf die Fragen zu formulieren, die er im Buch entwickelt und vorgelegt hat. Lebenswelten verändern sich über die mehr als 40 Jahre, die das Buch „auf dem Buckel“ hat; die Fragen, mit denen es diese Lebenswelten je neu begegnet wird, bleiben dieselben! Der wichtigste, entscheidendste Dienst der Religionspädagogik ist, individuelle Lebenswirklichkeiten ins Wort, die die Frage zu bringen – und dann erst, wenn überhaupt, „Verbindungen und Schnittmengen“ mit kirchlichen, christlichen und religiösen Fragen „auf Augenhöhe“ zu identifizieren, besser vielleicht: zu benennen und anzubieten.[2] – Ein Schwachpunkt der Religionspädagogik ist, dass ihr für die Vorschul- und für die Schulsituation Kompetenz zugedacht wird. Für die Frage, die oben aufgeworfen wird, gibt es wenig religionspädagogisch gut durchdachte Konzepte, auch die Erwachsenenbildung kennt m.W. nach wenig religionspädagogische Impulse und Anstöße, die ergebnisoffen lebensweltliche Situationen der Menschen thematisieren.
Um so schöner, dass ein Buch in den „besten Jahren“ – mit 43 Jahren – und ein Autor, der im März 1922 mit beinahe 90 Jahren starb, mir – und vielleicht Ihnen genauso – die richtigen Fragen und Impulse zu geben vermag. Wie steht es um das Gehen oder das Bleiben, in Kirche, Glaube, Religion?
Die hier aufgeführten Zitate stammen alle aus Halbfas, Hubertus (1981): Der Sprung in den Brunnen. Eine Gebetsschule, Düsseldorf. In Klammern sind am Ende der Zitate die Seitenzahlen angegeben.
Die Zitate:
„DER JUNGE: Könnt ihr mich lehren, wie man lernt?
DER LEHRER: Kannst du lernen, mich lehren zu lassen? (9)
DER LEHRER: Genauso wenig kann ein Buch, wenn es um den inneren Weg geht, den Lehrer und die Erfahrung ersetzen.“ (10)
„Beten lernt niemand durch Wissen und Können, sondern durch Erfahren und Leben.“ (12)
„Stille ist die Mitte des Menschen. Wo sie aufgebraucht ist, meldet sich alles laut an: Die Sprache wird leer, die Bewegung der Hände unruhig, der ganze Mensch Oberfläche. Und weil er das Schweigen nicht mehr kennt, kann er auch nicht mehr zuhören.“ (20)
Das Bild des Labyrinths: „Such mit dem Finger den Weg in die Mitte. Du kannst den Lebensweg eines Menschen er-fahren, der die alltägliche Welt verlässt, um durch eigenständiges Fragen, Denken und Handeln an den Wendepunkt zu kommen. Du gerätst in ein Gewirr von Gängen, die dich viermal siebenmal zwingen, deine Richtung zu ändern. Manchmal glaubst du, die Mitte erreicht zu haben – und gleich darauf sieht es so aus, als ständest du erneut am Anfang. Es ist ein Gehen und Suchen und Suchen und Gehen über Jahre. Alles kommt darauf an, nicht aufzugeben, nicht zurückzuwollen, sondern die Mitte anzustreben. Mitte heißt hier: neues Leben.“ (35f)
„Wenn du nach Gott fragen willst, lerne zu fragen. […] Vertrau auf dich und wage zu fragen. Das führt dich ins Weite.“ (74)
„Religion ist eine Straße zu Gott. Eine Straße ist kein Haus.“ (74)
„Gott ist ein Wort für den Brunnengrund, in den du springen musst, wenn du dich selbst finden willst. […] Wenn du nach Gott fragen willst, liebe die Welt.“ (77f)
„Ich habe verstanden, dass man von Gott nichts weiß, wenn man nur übernommene Antworten hat, ohne eigene Erfahrung und Sprache.“ (80)
„Der Weg zu Gott führt nie von dir weg. […] Überall kannst du schneller und leichter hingelangen als zu dir selbst. Es ist immer ein langer Weg, bei sich selbst anzukommen.“ (104)
„‚Was für einen Namen gebt Ihr Gott, Ehrwürden?‘ – ‚Er hat keinen Namen‘, antwortete der Derwisch. ‚Gott kann man nicht in einen Namen pressen. Der Name ist ein Gefängnis. Gott ist frei.‘ – ‚Wenn ihr ihn aber rufen wollt? Wenn es notwendig ist, wie ruft ihr ihn? – ‚Ach!‘, antwortete er. ‚Nicht: Allah. Ach! werde ich ihn rufen.‘ Ich erbebte. ‚Er hat Recht‘, murmelte ich. […] ‚Ach! wenn du leidest! Ach! wenn du staunst! Ach! wenn du betroffen bist! Du sagst es nicht zu einem anderen, sondern so sprichst du zu dir selbst. Gott ist nicht außerhalb deiner selbst, er ist innen. Gott – du unser Ich!‘“ (107)
„Solange wir Gott noch außen suchen, anstatt im eigenen Seelengrund, sind Mensch und Gott sich fremd.“ (117)
„Beten ist, in der Gegenwart Gottes leben.“ (126)
„Wenn ein Mensch sich ganz und wahrhaftig auf den tiefsten Grund seiner selbst einlässt, wird er von hier, also von Gott her, heil. Ich meine nicht eine psychologische Technik, sondern unsere Rückbindung in die reine Liebe; nur das tut uns wirklich wohl.“ (155)
„Meditiere das Brunnensymbol: Du darfst dich fallen lassen, weil du dabei nicht von dir weg, sondern in deine Mitte gelangst. Meditiere das Labyrinth: Es sind Wege ins nächtliche Dunkel, aber auch Prozesse der Erneuerung und Wiedergeburt. Meditiere den Lebensbaum: Du trägst ihn als Stab in der Hand deiner Tagewerke; eines Nachts soll er Blätter treiben und Früchte tragen.“ (157)
„SCHÜLER: Aber, wie bitte, betet man für irgendwen? […]
LEHRER: Man gibt die Verhältnislosigkeit auf, die verschiedenen Formen der Gleichgültigkeit, und nimmt teil an dem, was er tut und erleidet.“ (180)
„Beten heißt teilhaben.“ (187)
„Wahrhaft fromme Menschen sind gütig. Ich kann auch sagen: Gütig sind nur Menschen, die bei sich sein können, die sich gefunden haben, die ein inneres Glück kennen. [……] Wer Gott will, in dem wird alles verbrannt, was nicht in Gott eingehen kann. Wenn wir beten, vollzieht sich diese Läuterung. Darum ist der Weg es Gebetes immer ein Weg der wachsenden Liebesfähigkeit. Es wächst die Erkenntnis der Güte Gottes, unsere Seele wandelt sich in diese Güte hinein, und wir beginnen, Gott zu lieben ‚aus unserer ganzen Seele, aus unserem ganzen Herzen, aus unserem ganzen Gemüte und aus allen unseren Kräften.‘“ (196f)
Köln, 01.01.2024
Harald Klein
[1] Halbfas, Hubertus (1981): Der Sprung in den Brunnen. Eine Gebetsschule, Düsseldorf.
[2] Vgl. die Definition der Religionspädagogik der TU Dresden: „Als theologisch-pädagogische Disziplin hat die Religionspädagogik die Aufgabe, zwischen individuellen Lebenswirklichkeiten und fachwissenschaftlichen Inhalten auf Augenhöhe Verbindungen und Schnittmengen zu identifizieren. Die Religionspädagogik nimmt innerhalb des theologischen Fächerkanons somit eine gewisse Schlüsselstellung ein: Sie tritt sozusagen als Anwalt der faktischen Lebenswirklichkeit in den theologischen Binnendiskurs ein, dabei kommt ihr die kritisch-empirische Aufgabe einer Wirkungsanalyse, Problemerschließung sowie einer geschichtlich-gesellschaftlichen Relevanzprüfung für die Gesamttheologie zu. Dies legt einerseits einen umfassenden Lebensweltbezug als pädagogisch-didaktisches Prinzip für die inhaltliche sowie die didaktische Ausgestaltung der Lehre nahe sowie andererseits die Verschränkung aller theologischen Disziplinen.