Um was es geht
In die Klage über (s)ein überbehütetes und überbeschütztes Leben schreibt der Erzählende, in der Erzählung nur „S“ (wie Simon) genannt, aus Angst vor einem unbemerkten, überfließenden Übergang ins Erwachsenwerden von seinem Wunsch, in einer Art Kairos das Leben beim Schopfe zu packen, alles zu riskieren, sich bar jeden Schutzes angreifbarzu machen und die Gefahr selbst zu suchen, weil sie ihm sonst ja nirgends begegne. Sich schützen vor zu viel Schutz, das möge sein Programm werden. Die große Sehnsucht nach Selbstverwirklichung oder nach dem Wagnis des Lebens, das einzugehen sich lohnt, diese beiden Attribute der Genration Y („Why?!“) der Jahrgänge zwischen den frühen 1980er und den späten 1990er Jahren (Strauß ist 1988 geboren) liegt hier offen auf dem Tisch.
Ein flüchtiger namenloser Bekannter gesellt sich in dieser Situation zu ihm, bietet ihm an, in sieben Nächten sich je einer der sieben Todsünden an-, besser sie zu übernehmen und sie auszuleben, „‘Auf dass du eine findest, in der du dich wohlfühlst. Oder dich für immer von ihnen abkehrst, hat er gesagt.“[1] Es ist offensichtlich und irgendwie wohltuend, in welcher bleibenden Aktualität das Dramatische der Goethe‘schen Figuren des Heinrich Faust und des Mephistopheles über allem schwebt. Als Preis erwartet der Unbekannte einen siebenseitigen schriftlichen Bericht – wohl eine Art Tätigkeitsbericht, verbunden mit einer Art Selbstreflexion – über jede der sieben Nächte.
Das ‚sich schützen vor zuviel Schutz‘ steht jeder Selbstverwirklichung und jeder Flexibilität, jeder Weltoffenheit und jedem Unterwegssein, sei es als Digital Native oder als Entdecker in der greifbaren Welt entgegen. Etwas riskieren, die Gefahr, abgemildert vielleicht die Herausforderung sich selbst suchend, starten nun die ‚Sieben Nächte‘“.
Das eigentlich Dramatische ist das Sich-Einlassen von „S.“ auf die sieben Todsünden und seine Unfähigkeit, den „Schutz“ wirklich hinter sich zu lassen. Es ist, als verließe er den Container seines Lebens, aber nicht, ohne an einem Seil zu gehen, an dem er sich zu jeder Zeit wieder zurück in den Schutz der eigenen Lebensmauern zurückziehen (im doppelten Sinne des Wortes) könne.
Die sieben Nächte enden nicht nur mit einer „Quasi-Reflexion“ von „S“ über sich – stellvertretend für eine ganze Generation und der bitteren Erkenntnis, dass die Überhütung von dieser Generation scheinbar völlig übernommen und der Schutz von zuviel Schutz eher von innen denn von außen kommt. Als Beigabe bekommt „S“ von „T“ ein „Quasi-Zeugnis“ in Form eines Briefes überreicht. An dieser Stelle sind jedoch die Zitate entscheidend, das Angebot einer Deutung der Zitate ist in meiner Rezension des Buches zu finden.
Alle Zitate sind entnommen aus Strauss, Simon (2017): Sieben Nächte, Berlin. In Klammern sind hier die Seiten aus dem Buch genannt, auf denen sich die Zitate finden. Um sie einordnen zu können, sind die Kapitelüberschriften – die Titel der sieben Todsünden in christlicher Tradition – eingearbeitet. Kapitelanfänge schreibt Strauss immer in Großbuchstaben. Das wurde bei den Zitaten übernommen.
Die Zitate
Vor dem Anfang
„DAS HIER SCHREIBE ICH AUS ANGST. Aus Angst vor dem fließenden Übergang. Davor, gar nicht gemerkt zu haben, erwachsen geworden zu sein. Ohne Initiation, ohne Reifeprüfung einfach durchgerutscht bis zur Dreißig.“ (11)
„Alle Abschlüsse gemacht, alle Termine eingehalten, viel gelächelt, wenig geweint, aber vor allem gelächelt. Auf viele Züge aufgesprungen, kurz mitgefahren, dann wieder die Richtung gewechselt.“ (11)
„Ich war schon weit weg, kenne mich aus in der Welt, habe mit vielen gesprochen, eine Menge Bilder gesehen, Stimmen gehört, stand hier und da auch im Wind, aber was mir wirklich etwas bedeutet, woran ich glaube, kann ich nicht sagen. Wohin ich will, schon: Immer weiter nach oben – die Leiter ist lang.“ (11)
„Immer um sieben Uhr abends würde er sich melden und mich auf einen Streifzug schicken durch die Stadt. Immer würde ich einer Sünde begegnen, einer der sieben Todsünden. ‚Auf dass du eine findest, in der du dich wohlfühlst. Oder dich für immer von ihnen abkehrst‘, hat er gesagt. Eine Nacht lang gebe er mir Zeit, nach dem Sturm zu suchen, ihn selbst zu entfachen. Aber wenn der Morgen graute, müsse ich geschrieben haben. Bis sieben Uhr früh sieben Seiten, jedesmal. Ich solle es mir überlegen.“ (21)
Superbia – der Hochmut
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Gula – die Völlerei
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Acedia – die Faulheit
„Statt raus zu gehen, den Alltag auszufüllen wie ein Kreuzworträtsel, bleibe ich heute zu Hause. In dieser Wohnung, die niemand mehr mit besonderen Erwartungen betritt. Die bis oben hin zugestellt ist mit Gewohnheit.“ (57)
Avaritia – die Habgier
„SCHLIMM IST NICHT DAS VERLIEREN. Schlimm ist der Gewinn der anderen.“ (71)
„Die Habgier hat mich gepackt. Ich will gewinnen. Unbedingt.“ (78)
Invidia – der Neid
„Die Bücher, die stehen am Rand. Sie passen nicht ins Bild einer modernen Architektur der Leere. Deshalb werden sie ausgelagert und zu Platzhaltern degradiert. Von einem Ort, an dem Bücher wie Schätze behandelt wurden, dicker Staub das Wissen schützte, hat sich die Bibliothek zu einem profanen Ort gewandelt, an dem viel geschieht und wenig gelesen wird. Revolutionen fressen ihre Kinder nicht immer gleich, manchmal saugen sie sie auch nur aus.“ (89)
„Jetzt kommen die Bücher dran. Tag für Tag werden sie penibel gesäubert, bis die letzte Staubfluse ausgemerzt ist. Sie glänzen wie nie zuvor, diese Bücher, aber gelesen werden sie nicht. Mit dem Staub verschwindet auch das Wissen. Die Aura von Berührbarkeit. Uns fehlt das Feuer. Der Mut. Wir ewigen Zweiten. Die wir nachts heimlich die eigenen Namen in die Bücher unserer Väter schreiben, in der Hoffnung, das Erbe gäbe uns Kraft.“ (95)
Luxuria – die Wollust
„Der Traum von der einen Nacht, in der alles verziehen wird. Wo man die Scham verliert, sie endlich einmal loswird, die alte Klette, die sich seit Kindesbeinen an einen geheftet hat. Nackte Haut berühren, Gläser splittern lassen, durch Labyrinthe streifen. Dunkelheit und Kerzen, ein Schatten von irgendwoher, der zum Freund wird, zur Geliebten für kurze Zeit. Und dann weiterzieht, als wäre nichts gewesen, als dürfte diesmal das Spiel alles sein und die Rechnungen unbezahlt. Lippen schweigen / Flüstern Geigen / Hab mich lieb. Den Traum habe ich schon lange.“ (100)
„Alles tun, was wir wollen, und nicht fürchten, dass etwas nach draußen dringt.“ (101)
„Am Roulettetisch treffen sich die Glücklosen. Was sie in der Liebe verfehlen, muss doch wenigstens im Spiel zu finden sein. Sie setzen alles auf Schwarz, ihre Farbe der Hoffnung.“ (108)
Ira – der Jähzorn
„DER ZORN HAT SCHMUTZ unter den Fingernägeln. Er kratzt am Lack, an der Oberfläche, kratzt und reißt so lange herum, bis die Haut offen ist und die Nerven blitzend und blank daliegen. Am Steintisch sitzen und Karten spielen? Das ist ein Bild für spätere Tage. Vorher, mit fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig, muss man den Mund aufreißen, sonst bleibt er später für immer trocken und die Karten werden niemals neu gemischt.“ (115)
„Im Auto neben mir sitzt der, in dem ich mich spiegle. Kein Freund, kein Fremder. Ein Mensch dazwischen. Der Handschlag ist gefällig geworden mit der Zeit. Er sieht mir nur kurz in die Augen, und dann gleich am Kopf vorbei in die Ferne, er ist noch nicht ganz da, oder schon einen Schritt weiter, bei der nächsten Aufgabe, dem nächsten Geschäft. Das Lenkrad hält er wie ein Jungunternehmer, mit einer Hand, während der linke Arm lässig aus dem offenen Fensterhängt.“ (115)
„Wir haben die Taschen voll. Wir teilen Autos und Ansichten, wollen nie besitzen, hasten von einer Verspätung zur nächsten – immer entschuldigt, immer kurz vorher einen Zweizeiler abgeschickt -, wir hatten immer schon das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, und werden nie verstehen, wie wichtig es ist, einmal das Falsche zu tun. Mit vollen Segeln in die verkehrte Richtung zu steuern, gegen den Strom, gegen den Wind.“ (116)
„Als könne man das Abgründige einfach eingemeinden in die Ländereien der dumpfen Zufriedenheit, in denen die Fahnen immer auf Halbmast wehen, ohne dass einer sagen könnte, worüber man trauert.“ (123)
Am Ende der siebten Nacht – Nach(t)gedanken eines Sünders?
„Die sieben Nächte mit den sieben Sünden waren sieben Nächte gegen die Zeit. Durch sie ist meine Prüfung für den Moment aufgeschoben. Ich habe gesehen, was es heißt zu reifen. Bin durch viele Formen geschritten und habe Kinderfragen gestellt. Habe nach Sinn und Sagbarem gesucht und Umrisse in den Sand gezeichnet. Gegen die Leere. Damit etwas bleibt.“ (128)
Vor dem Ende – ein Brief des „Unbekannten“
„Wütend und traurig bin ich, weil ich mir selber so viel davon versprochen habe. Für mich. Weil ich gehofft hatte, ein Rezept zu bekommen, um meinem Leben mit Frau und Hund und Gewohnheit etwas entgegenzusetzen. Leider vergeblich. Wo sind bei dir schon die Gedanken, die Sätze, die Formeln, die mich retten, wenn es nötig ist? Was sind die Veränderungen, die du bewirkt hast, welche Spuren hast du hinterlassen, welchen Eindruck gemacht, gegen wen hast du dich aufgelehnt, welche neue Epoche begründet? War die Besonderheit deines Blicks nur eine Färbung des Lichts, nachtblau das eine und zornesrot das andere Mal? Kein schwerer Schlag, keine echte Bedrohung, kein Neuanfang war dabei, nichts, das mich verpflichtet hätte, mich loszusagen von allem, woran ich bisher geglaubt habe.“ (133)
„Ich komme dich bald besuchen in deinem neuen Leben. Dann können wir nochmal einen Abend lang so tun, als ob wir träumen. Von einem letzten Sommer. In Freiheit, ohne Fesseln, ohne Sorgen. In Wirklichkeit aber gibt es für uns keinen Weg zurück zu diesem Spätsommertag, auch wenn die Wegbeschreibung irgendwo tief in deinen Texten verborgen ist.“ (138)
„Ganz sicher kann diese Welt neue Luftschiffer und echte Träumer gerbrauchen. Das Gute ist, dass wir uns jetzt, wo du auf unsere Straßenseite gewechselt bist, häufiger sehen werden. Das eine oder andere Glas werden wir schon austrinken – da bin ich mir sicher. Weise Männer pflegten einst zu sagen: Gute Nacht und viel Glück! Dein T“ (138)
Köln, 01.02.2025
Harald Klein
[1] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 21.