Verw:ortet 04/2022: Ichiro Kichimi / Fumitake Koga – Du musst nicht von allen gemocht werden. Vom Mut, sich nicht zu verbiegen (1. Teil)

  • Worte, auf denen ich stehe
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Alfred Adler meets Japan

Am Ende der lit.cologne ist dieses Buch zweier japanischer Autoren so etwas wie eine literarische Fortsetzung des Festivals. Kichimi, 1950 geboren, studierte klassische westliche Philosophie mit dem Schwerpunkt auf Platon. Sein zweites Interesse galt der sog. Individualpsychologie Alfred Adlers. Koga, 1973 geboren, ist Autor mehrere Sachbücher. Sein Interesse an Alfred Adlers Psychologie – oder ist es eher eine Philosophie? – führte ihn zu Kichimi. In ihren Gesprächen machte sich Koga einige Notizen, die schließlich zum Inhalt des Buches führten.

Unterteilt ist das Buch in fünf Abende, zur Lektüre angeboten werden die Dialoge zwischen einem fiktiven „Jungen Mann“ und einem älteren „Philosophen“ – unschwer erkennt man die Gesprächssituation zwischen Kichmi und Koga. Die Titel der fünf „Abende“ sind „Dem Trauma begegnen“, „Alle Probleme sind zwischenmenschliche Beziehungsprobleme“, „Die Aufgaben der anderen abweisen“, „Wo der Mittelpunkt der Welt ist“ und „Bewusst im Hier und Jetzt leben.“

Mich faszinierte (neben dem Titel und der Zusage des Buches auf dem Deckblatt) sehr schnell die Unterscheidung zwischen der „Psychologie des Besitzes“ – Freuds und Jungs „Ich“, „Überich“ und „Es“, die zum Menschen gehören und sein Verhalten quasi von der Vergangenheit her beeinflussen – und der „Psychologie der Anwendung“ – Adlers verschiedene Denk- und Handlungsangebote, die von der erwünschten, erhofften oder angestrebten Zukunft her einwirken und ihre Kraft haben.

Die Zitate sind wegen ihrer „Sprengkraft“ ausgewählt, oder weil sie wirkliche Reibungsflächen für einen mutigen Blick nach vorn darstellen. Sie sind aus Zusammenhängen im Gespräch herausgelöst und von daher oft nicht einfach verstehbar. Es genügt, wenn sie neugierig aufs Buch – und aufs Ausprobieren – machen. Im April werden Zitate aus den ersten beiden „Abende“ angeboten, im Mai folgen die Zitate der anderen drei „Abende“. Die Seitenzahlen (in Klammern nach den Zitaten) beziehen sich auf das Buch Kichimi, Ichiro / Yoga, Fumitake (2019): Du musst nicht von allen gemocht werden. Vom Mut, sich nicht zu verbiegen, Reinbek. Sie können den Artikel zu verw:ortet o4/2022 hier downloaden.

Die Zitate

„Es gibt kein Entkommen vor der eigenen Subjektivität. […] Es geht nicht darum, wie die Welt ist, sondern darum, wie Sie sind.“ (15)

„In der Adler’schen Psychologie denken wir nicht an zurückliegende ‚Ursachen‘, sondern mehr an gegenwärtige ’Ziele‘.“ (27)

„Wir leiden nicht unter dem Schock unseres Erlebens – dem sogenannten Trauma -, sondern wir machen aus ihm genau das, was unserm Zweck dient. Wir werden nicht durch unsere Erfahrung bestimmt, sondern die Bedeutung, die wir ihnen geben, stellt diese Bestimmung her.“ (30)

„Dein Leben ist nichts, was dir jemand gibt, sondern etwas, was du selbst wählst – und du bist derjenige, der entscheidet, wie du lebst.“ (30f)

„In der Adler’schen Psychologie beschreiben wir Persönlichkeit und Anlagen mit dem Wort ‚Lebensstil‘. […] Lebensstil bedeutet die Ausrichtung des Denkens und Handelns im Leben. […] Wie jemand die Welt sieht. Und wie es sich selbst sieht.“ (50)

„Wenn man sich für einen neuen Lebensstil entscheidet, kann niemand vorhersagen, was mit dem neuen Ich passieren wird, oder sich vorstellen, wie man dann auf kommende Ereignisse reagiert. […] Die Menschen beklagen sich über verschiedene Dinge, aber es ist einfacher und sicherer, so zu bleiben wie man ist.“ (54)

„Sie bemerken nur Ihre Mängel, weil Sie beschlossen haben, sich nicht zu mögen. Um sich nicht selbst zu mögen, sehen Sie Ihre Stärken nicht und konzentrieren sich nur auf Ihre Mängel.“ (63)

„Es ist nicht das Alleinsein, was das Gefühl der Einsamkeit hervorruft. Einsamkeit heißt, andere Menschen, Gemeinschaften und eine ganze Gesellschaft um sich herum zu haben und tief im Innern zu fühlen, dass man von ihnen ausgeschlossen ist.“ (71)

„Adler sagt, dass das Streben nach Überlegenheit und das Minderwertigkeitsgefühl keine krankhaften Zustände sind, sondern Anreize für ein normales, gesundes Streben nach Wachstum.“ (82)

„Ein gesundes Minderwertigkeitsgefühl entsteht nicht aus dem Vergleich mit anderen, sondern aus dem Vergleich mit seinem Ideal von einem selbst.“ (95)

„Adler schuf drei Kategorien von zwischenmenschlichen Beziehungen, die aus diesen Prozessen heraus entstehen. Er nannte sie ‚Aufgaben der Arbeit‘, ‚Aufgaben der Freundschaft‘ und ‚Aufgaben der Liebe‘ und alle zusammen die ‚Lebensaufgaben‘.“ (114f)

„Wie Adler sagt: ‚Wenn zwei Menschen auf einer guten Basis zusammenleben wollen, müssen sie sich gegenseitig als gleichwertige Persönlichkeiten behandeln.‘“ (121)

„Adler hat darauf aufmerksam gemacht, dass man alle möglichen Vorwände benutzt, um den Lebensaufgaben auszuweichen, und nannte dies die ‚Lebenslüge‘.“ (124)

„Selbst, wenn Sie Ihren Lebensaufgaben ausweichen und an Ihren Lebenslügen festhalten, liegt das nicht daran, dass Sie abgrundtief böse sind. Es ist nichts, was von einem moralischen Standpunkt zu verurteilen wäre. Es ist eine Frage des Mutes.“ (126)

„Die Freud’sche Psychoanalyse ist eine Psychologie des Besitzes und mündet schließlich in den Determinismus. Die Adler’sche Psychologie andererseits ist eine Psychologie der Anwendung, und Sie sind es, der darüber entscheidet.“ (127)

Köln, 01.04.2022
Harald Klein