Verw:ortet 04/2023: Aladin El-Mafaalani – Wozu Rassismus?

  • Worte, auf denen ich stehe
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Hinführung zum Buch

Der Hintergrund dieses „Verw:ortet“ liegt ein wenig zurück! Eine (nennen wir es mal) Meinungsverschiedenheit unter Freunden in Sachen „Winnetou-Debatte“, über die Rolle der Sprache und der Weitertradierung von Unrecht durch rassistische Sprache – und das Erschrecken über rassistische Muster, die so eingespielt sind, dass ich nie im Leben darauf gekommen wäre, sie als solche zu identifizieren.

An dieser Stelle seien in gewohnter Manier Zitate eines Buches gesammelt, die mehr in Thesenform als in Lehrform eine Antwort versuchen auf die Frage „Wozu Rassismus?“ Aladin El-Mafaalani ist 1978 im Ruhrgebiet geboren und wirkt als Professor für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück. Mir selber bekannt wurde er durch die Teilnahme an der Runde am 10. Januar 2023 bei Markus Lanz, in der Friedrich Merz von den „kleinen P*“, ihrem Verhalten in Schule und später auf der Straße sprach. Aladin El-Mafaalani versuchte auf andere, soziologisch profunde Weise, dem offenen und auch dem untergründig schwelenden Rassismus Paroli zu bieten. Ein – mittlerweile bearbeitete – Einblick in diese Diskussion bietet [online] https://www.youtube.com/watch?v=g1YMqV7oVuk [3003.2023].

Das Buch, seinem Aufbau und seinen Thesen versuche ich an anderer Stelle in einer kleinen Rezension näherzukommen. Die hier aufgeführten Zitate stammen alle aus El-Mafaalani, Aladin (2021): Wozu Rassismus? Von der Erfindung der Menschenrassen bis zum rassismuskritischen Widerstand, Köln. In Klammern sind am Ende der Zitate die Seitenzahlen angegeben.

Die Zitate

„Rassismus benachteiligt, entwürdigt, macht krank. Rassismus tötet.“ (7)

„Fast alles, was die moderne Weltgesellschaft ausmacht, entstand in der Hochphase des Rassismus: Aufklärung, Wissenschaft, Globalisierung, Kapitalismus, Nationalstaaten und ihre Staatsbürgerschaften.“ (8)

„Wie kann Rassismus derart hartnäckig bestehen bleiben, obwohl Menschenrechte, Demokratie und Wissenschaft ihm diametral entgegenstehen?“ (14)

Definition der niederländischen Soziologin Philomena Essed: „Rassismus ist ‚eine Ideologie, eine Struktur und ein Prozess, mittels derer bestimmte Gruppierungen auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften als wesensmäßig andersgeartete und minderwertige ‚Rassen‘ oder ethnische Gruppen angesehen werden. In der Folge dienen diese Unterschiede als Erklärung dafür, dass Mitglieder dieser Gruppierungen vom Zugang zu materiellen und nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlossen werden.‘“ (15)

„Rassistische Diskriminierung erkennt man zunächst an der Wirkung. […] Der Effekt der Handlung, nämlich dass sie nach rassistischen Kategorien für bestimmte Menschen benachteiligend wirkt, ist das zentrale Kriterium.“ (19)

„Rassismus als Herrschaftsideologie hatte eine Reihe von extremen Ausformungen: KOLONIALISMUS größter Teile der Welt, auch in Europa; SKLAVEREI , von der am stärksten Afrika betroffen war; AUSROTUNG ganzer Völker, insbesondere in Amerika; der NATIONALSOZIALISMUS als Zuspitzung der Rassenlehre und der HOLOCAUST als intendierter industrieller Völkermord, von dem insbesondere Juden und Roma betroffen waren; APARTHEID, die Rassentrennung, die noch lange in den USA, Namibia und Südafrika vorherrschte. Heute sind diese extremen Formen kaum noch zu beobachten. All diese Exzesse des Rassismus basierten auf der expliziten Rassenlehre, dem offenen Rassismus, den es heute in dieser Form kaum noch gibt. Vielmehr handelt es sich heute zunehmend um latente, subtile, implizite oder strukturelle Formen.“ (33f)

„In drei gesellschaftsübergreifenden Bereichen lässt sich das Strukturelle des Rassismus zeigen: in den kulturellen, sozioökonomischen und normativen Fundamenten. In diesen drei Bereichen, die immer und überall unser Leben prägen, kann nachgewiesen werden, dass das rassistische historische Erbe heute noch Wirkung entfaltet (Kultur, Sozialstruktur, normative Legitimationsstruktur).“ (41)

„Man kann sogar so weit gehen, dass Rassismus dafür sorgt, dass bestimmte Menschen immer fremd bleiben, weil ‚fremd‘ durch ‚anders/minderwertig‘ ersetzt wird und damit ein dauerhaftes Herrschaftsverhältnis entsteht – das Prinzip des Othering bzw. der VerAnderung. […] Rassismus […] ist nicht Natur, sondern Kultur. Er kanalisiert Ängste, bietet Orientierung, stärkt den Selbstwert durch Hierarchiebildung. Er hat kulturelle Funktionen: Er funktioniert und ist in dieser Hinsicht für Herrschende und Privilegierte eine ständige, eine strukturelle Versuchung.“ (43)

„Diskriminierendes Verhalten, das sich auf kulturelle Merkmale (Religion, Nationalität, Ethnie) und/oder biologische Merkmale (Hautfarbe, Haarstruktur, Augenform) bezieht oder zurückführen lässt, wird als rassistisch klassifiziert. […] Rassistisch diskriminieren ist eine Handlung […] dann, wenn man einem oder mehreren Menschen aufgrund der genannten Merkmale gruppenbezogene Eigenschaften zuschreibt und diese Zuschreibung dann zu Abwertung und schließlich zu Ausgrenzung führt. Und damit ist der Prozesscharakter von Diskriminierung idealtypisch erfasst: Kategorisierung, Abwertung, Ausgrenzung.“ (58)

„Dieser Dreiklang beinhaltet Denk- und Handlungsmuster gleichermaßen. Während der erste Schritt Kategorisierungklar als Denkmuster und der dritte Schritt Ausgrenzung klar als Handlungsmuster verstanden werden kann, ist der Zwischenschritt ein Sowohl-als-auch. Abwertungen und Vorstellungen von Ungleichwertigkeit sind in jedem Fall kognitive Konstruktionen, können aber auch als Handlungen begriffen werden, etwa bei kommunikativer Abwertung als sprachliche Handlung.“ (61)

„‘Ihr Türken seid eine große Bereicherung für uns Deutsche.‘ […] Es ist die Frage nach der Intentionalität von Handlungen. Rassistische Handlungen können intendiert, also bewusst und in ‚böser’ Absicht vollzogen werden – nur dann spräche man bei den Akteur:innen von Rassist:innen – oder sie sind unbewusst und gegebenenfalls gut gemeint – dann  bleiben sie dennoch rassistisch.“ (62)

„Struktureller Rassismus beeinflusst Denk- und Handlungsmuster in der gesamten Gesellschaft, also sowohl von Menschen im Alltag und im Privaten als auch in Organisationen und Institutionen. Wenn Diskriminierung regelhaft in bestimmten Organisationen, Sektoren oder Branchen auftritt, wird das als institutionelle Diskriminierung bezeichnet.“ (71)

„Ein geringeres Niveau von objektiver messbarer Diskriminierung korrespondiert […] mit einem höheren Niveau von wahrgenommener Diskriminierung. […] Je prekärer und benachteiligter die Lebensumstände, geringes Einkommen, geringes Bildungsniveau), desto seltener werden Diskriminierungserfahrungen berichtet. Umgekehrt wird rassistische Diskriminierung umso häufiger wahrgenommen und berichtet, je höher Bildungsniveau und Einkommen sind.“ (92)

„Um die Entwicklung der Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten darzustellen,  habe ich vielfach die Raum-Tisch-Metapher verwendet, Zunächst saßen Migrant:innen beziehungsweise PoC (mit allen anderen benachteiligten Gruppen) auf dem Boden, im Laufe der Zeit setzten sich viele von ihnen (insbesondere die Nachfolgegenerationen) an den Tisch, wollten einen schönen Platz am Tisch und ein Stück vom Kuchen, heute sind wir an dem Punkt, dass einigen von ihnen (häufig wiederum aus der jüngeren Generation) das nicht mehr reicht und sie vielmehr eine Veränderung des Kuchenrezepts, der Esskultur und der Tischordnung anstreben. Diese drei Realitäten (Boden, Tisch, Rezeptur) bestehen gleichzeitig, weil es weiterhin Migration gibt, sie bauen aber auch aufeinander auf und erfordern sehr unterschiedliche Maßnahmen und Strategien.“ (98f)

„Rassismus spielt aber auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen und Interaktionen innerhalb der Bildungsinstitutionen eine Rolle. Diese finden auf dem Pausenhof (zwischen den Kindern) im Klassenzimmer (zwischen Lehrkräften und Kindern) und im Lehrerzimmer (zwischen den Lehrkräften) statt.“ (105f)

„Der erste Schritt auf dem Weg zur Bewältigung eines Problems ist […] Kommunikation und Entwicklung eines Problembewusstseins. Es geht also um die Thematisierung. Ein wesentlicher Teil dessen ist die Thematisierung von Rassismuserfahrungen von Schüler:innen. Und ein wesentliches Ziel müsste es sein, Kinder und Jugendliche dazu zu ermächtigen, ihre Erfahrungen zu kommunizieren, einen konstruktiven Umgang damit zu finden und insbesondere selbstbestimmt die eigenen Interessen zu vertreten.“ (106)

„Das Einbürgerungsrecht wurde 2001 reformiert, man konnte jetzt Deutscher werden, es steckte nicht mehr im Blut – zumindest rechtlich.“ (121)

El-Mafaalani sieht vier Muster, die einen Diskurs über Rassismus unterlaufen: „Es lassen sich vier […] Dethematisierungsmuster beziehungsweise Distanzierungsmuster darstellen: Skandalisierung, Kulturalisierung, Gleichsetzung mit Rechtsextremismus und Gleichsetzung mit historischem Nationalsozialismus.“ (122)

„Das Thema Rassismus hat den Mainstream erreicht, was notwendigerweise zu einem gewissen Niveauverlust im Diskurs führt.“ (141)

„Rassismuskritik führt zu mehreren (neueren) Prinzipien, die den Widersprüchlichkeiten, Wechselbeziehungen und der Komplexität Rechnung tragen. Von zentraler Bedeutung ist (a) die Erkenntnis, dass Rassismus strukturell in Kultur und Gesellschaft verankert ist, wodurch jede:r auch immer persönlich und organisational involviert ist, ob sie oder er will oder nicht. […] Wer nicht rassistisch sein möchte, muss sich mit Rassismus auseinandersetzen, darüber sprechen und aktiv werden. Niemand muss sich rechtfertigen, dass er oder sie rassistisch denkt und handelt, sondern nur, wenn sie oder er nichts daran ändert. Ändern bedeutet Thematisieren. Daher gehört (b) das Bewusstsein dazu, dass man Rassismus thematisieren muss, man aber auch durch diese Thematisierung den Rassismus reproduziert. Die Thematisierung ist also in sich widersprüchlich, aber notwendig. […] Wer behauptet, farbenblind zu sein, läuft Gefahr, blind gegenüber Rassismus zu sein. Rassismuskritik ist also eine Haltung, die reflexiv erfasst, dass das Sprechen über Rassismus notwendig ist, es aber zugleich zur Reproduktion rassistischer Denkmuster führt. Damit sind wir (c) bei der Mehrperspektivität beziehungsweise der Perspektivenerweiterung. Denn es geht bei Weitem nicht mehr nur um die Benachteiligung der Benachteiligten, sondern auch um die Privilegien der Privilegierten. […] Diese Perspektivenerweiterung bezieht sich auf Inhalt, Form und Sprecher:innen, also Repräsentanz. Worüber wird gesprochen, und was wird gesagt? Wie wird es gesagt? Aber zunehmend geht es auch um die Repräsentation, also um die Frage: Wer spricht?“ (142f)

„Rassismuskritik ist letztlich eine kontinuierliche Praxis der Selbstreflexion und der Reflexion der sozialen Ordnung und ihrer Legitimität – für jeden Menschen, der Diskriminierungen und Verletzungen anderer möglichst vermeiden möchte.“ (152)

Köln, 01.04.2023
Harald Klein