Um was es geht
Es mag sein, dass Dir der 1944 in Bern geborene Philosoph Peter Bieri nicht so geläufig ist. Sein Pseudonym, unter dem er seine philosophischen Erkenntnisse in literarische Figuren einfließen, wirst Du sicher kennen. Unter dem Namen Pascal Mercier hat Peter Bieri „Perlmanns Schweigen“ (1995), den „Klavierstimmer“ (1998) und die Novelle „Lea“ (2007) geschrieben; die beiden Romane „Nachtzug nach Lissabon“ (2004) und „Das Gewicht der Worte“ (2020)[1] sind wahrscheinlich seine populärsten Schriftwerke. Peter Bieri lehrte an verschiedenen Hochschulen und Universitäten, zuletzt in Berlin. Analytische Philosophie, Erkenntnistheorie und Ethik waren seine Schwerpunkte. 2023 starb Peter Bieri in Berlin.
Ich bin ihm 2013 in seiner Schrift „Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde“ zuerst begegnet, später habe ich mir die kleine Schrift Wie wollen wir leben?“ von 2011 besorgt. Lange Jahre stand diese nur 83 Seiten umfassende Büchlein in meinem Regal. Bieri legt hier eine schriftliche Ausarbeitung von drei Vorlesungen vor, die sich um das Thema „Selbstbestimmtes Leben“ drehen.
Die Vorlesungen sind überschrieben mit „Was wäre ein selbstbestimmtes Leben?“, „Warum ist Selbsterkenntnis wichtig?“ und „Wie entsteht kulturelle Identität?“ Sie stellen nach eigener Auskunft Vorarbeiten für das Buch über die Würde dar. Es geht hier um die Frage der Selbsterkenntnis und der Selbstbestimmung, es geht um das aus beidem konstruierte Selbstbild. Immer geht es um die Begegnung mit der Natur, mit den Anderen und mit sich selbst – und um den Einfluss, den alle drei auf Selbsterkenntnis, Selbstbestimmung und Selbstbild hat, bzw. umkehrt: wie das Individuum aus welchen Gründen, in welcher Logik und mit welchen steuernden Bildern und Vorstellungen auf Natur, auf die Anderen und auf sich einwirkt. So ist der Titel dieser drei Vorlesungen gut nachzuvollziehen: „Wie wollen wir leben?“
In diesem verw:ortet versuche ich, Dir aus einem sowieso schon sehr komprimierten Text einige Textpassagen herauszuschreiben, die besonders aussagekräftig sind. Manchmal wird dabei Bezug auf frühere Passagen genommen, die dann jedoch nicht eigens aufgeführt sind. Es wurde darauf geachtet, dass der Sinn der einzelnen Zitate auch ohne diesen Zusammenhang gewahrt bleibt.
Alle Zitate sind entnommen aus Bieri, Peter (2015): Wie wollen wir leben? 6. Aufl., München. Die Ziffern in der Klammer am Ende des Zitats verweisen auf die Seitenzahl.
Die Zitate
Erste Vorlesung: Was wäre ein selbstbestimmtes Leben?
Selbstbestimmung in einer ersten Lesart: „Ein selbständiges Leben in einer Gemeinschaft, die durch rechtliche und moralische Regeln bestimmt ist – Regeln, die soziale Identitäten definieren, ohne die es ebenfalls keine Würde und kein Glück gibt.“ (8)
„Bei der „Fähigkeit, über sich selbst zu bestimmen“, als Selbstbestimmung in einer zweiten Lesart, geht es „darum, in einem noch ganz anderen Sinne der Autor und das Subjekt meines Lebens zu werden: indem ich Einfluss auf meine Innenwelt nehme, auf die Dimension meines Denkens, Wollens und Erlebens, aus der heraus sich meine Handlungen ergeben.“ (vgl. 9)
„Auch wenn meine Innenwelt aufs engste verflochten ist mit dem Rest der Welt, so gibt es doch einen gewaltigen Unterschied zwischen einem Leben, in dem jemand sich so um sein Denken, Fühlen und Wollen kümmert, dass er in einem empathischen Sinne sein Autor und Subjekt ist, und einem anderen Leben, das der Person zustößt und von dessen Erleben sie wehrlos überwältigt wird, sodass statt von einem Subjekt nur von einem Schauplatz des Erlebens die Rede sein kann.“ (11)
Sich selbst zum Thema werden und sich um uns kümmern können: „Das ist die Fähigkeit, einen Schritt hinter sich selbst zurückzutreten und einen inneren Abstand zum eigenen Erleben aufzubauen. Diese Distanz zu sich selbst gibt es in zwei Varianten. Die eine ist eine Distanz des Erkennens und Verstehens. […] Noch deutlicher zeigt sich da in der zweiten Variante der inneren Distanz, wo es um die Bewertung des eigenen Erlebens geht.“ (11f)
„Was wir jetzt sagen können, ist: Selbstbestimmt ist unser Leben, wenn es uns gelingt, es innen und außen im Einklang mit unserem Selbstbild zu leben – wenn es uns gelingt, im Handeln, im Denken, im Fühlen und Wollen der zu sein, der wir sein möchten. Und umgekehrt: die Selbstbestimmung gerät an ihre Grenzen oder scheitert ganz, wenn zwischen Selbstbild und Wirklichkeit eine Kluft bleibt.“ (13)
„Selbsterkenntnis ist dasjenige, was dazu führt, dass wir eine transparente seelische Identität ausbilden und dadurch in einem empathischen Sinne zu Autor und Subjekt unseres Lebens werden können.“ (15)
„Sich erinnern heißt meistens, sich und anderen die erlebte Vergangenheit erzählen.“ (21)
„Wie können wir unterscheiden zwischen einem Einfluss, der uns an der Selbstbestimmung hindert, und einem, der sie fördert? Es gibt nicht viele Fragen, die für das menschliche Zusammenleben so wichtig sind wie diese.“ (28)
„Sich selbstbestimmt zu entwickeln, kann nur heißen, dem Blick der Anderen zu begegnen und ihm standzuhalten.“ (31)
„Was also unterscheidet Einfluss, den wir als Manipulation empfinden, von Einfluss, der die Selbstbestimmung nicht bedroht, sondern fördert? Ich halte das für die tiefste und schwierigste politische Frage, die man aufwerfen kann.“ (32)
„Manipulation ist planvoller Einfluss.“ (32)
„Die Kultur, wie ich sie mir wünschte, wäre eine leisere Kultur, eine Kultur der Stille, in der die Dinge so eingerichtet wären, dass jedem geholfen würde, zu seiner eigenen Stimme zu finden. Nichts würde mehr zählen als das; alles andere müsste warten. Unnötig zu sagen: die Utopie eines Phantasten; eine phantastische Utopie.“ (34)
Zweite Vorlesung: Warum ist Selbsterkenntnis wichtig?
„Wenn wir wissen wollen, was unsere bestimmenden Wünsche sind, ist es manchmal nötig, uns selbst wie einem Fremden gegenüberzutreten und uns in unserem Tun wie von außen zu betrachten. Erst dann wird uns vielleicht klar, dass wir am liebsten allein leben möchten, im Verborgenen und nicht, wie wir dachten, im Rampenlicht.“ (37)
„Worum es jetzt geht, ist eine Vergewisserung über tiefer liegende Überzeugungen, Hoffnungen und Befürchtungen. Eine solche Vergewisserung verlangt einen Blick in die Vergangenheit: auf die Entstehung unseres Fühlens, Denkens und Wollens. Wie bin ich in meinem Erleben geworden, was ich bin? Was waren die bestimmenden Faktoren, vielleicht auch die Traumata? Wie hat sich ein Erleben aus einem anderen heraus entwickelt? Wieviel Stimmigkeit und Unstimmigkeit gibt es in meinem Denken und Erleben?“ (39)
„Das Erkennen greift nicht in seinen Gegenstand ein.“ (42)
„Einen Gedanken wirklich zu kennen, heißt auch zu wissen, welche anderen Gedanken er voraussetzt und welche aus ihm folgen. Es heißt, mit anderen Worten, zu wissen, wie man ihn begründen kann. Wenn man Licht in die eigene Gedankenwelt zu bringen trachtet, so bedeutet das deshalb, die fraglichen Gedanken daraufhin zu prüfen, wie gut sie begründet sind. Dieser Prozess des Prüfens kann weitreichende Folgen haben: Bisherige Überzeugungen können aufgegeben und durch andere ersetzt werden; es kann zu weitläufigen Veränderungen meiner Gedankenwelt kommen. Hier greift das Erkennen in das Erkannte ein.“ (42f)
„In dem Maße, in dem das innere Drama begrifflich transparenter wird und das lebensgeschichtliche Verstehen größer, müssen wir uns das Erleben und Wollen nicht länger verschleiern, sondern können es anerkennen als das, was es ist. Es kann eine neue Dynamik entfalten, sich auf neue Weise mit anderen Provinzen des Erlebens verbinden, und wir können es nun in neue Muster des Handelns einbinden. Es findet eine seelische Entwicklung statt, die bisherige, erstarrte Strukturen auflöst und neue Formen des Erlebens und Wollens möglich macht. Auch hier greift das Erkennen in das Erkannte ein, und Selbsterkenntnis wird zu Selbstbestimmung.“ (44)
„Wer sich in dem, was er ist, nicht ausdrückt, verpasst eine Möglichkeit zu erkennen, wer er ist.“ (46)
„Wir kennen ein Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit, nach intellektueller Redlichkeit: Wir möchten unser Leben nicht hinter einem Schleier von Täuschungen und Selbstbetrug leben.“ (55f)
„Ein weiterer Grund ist die Bedeutung, die Selbsterkenntnis für das Ideal eines selbstbestimmten Lebens hat. Selbstbestimmung kann nach außen hin gelesen werden: Dann bedeutet sie Bewegungsfreiheit. Man kann sie aber auch nach innen lesen: Dann geht es darum, dass ich im Denken, Erleben und Wollen so bin, wie ich sein möchte. Entsprechend fehlt mir die Selbstbestimmung, wenn Erleben und Selbstbild auseinanderklaffen.“ (57)
„Um nun die Anderen als Andere achten und in ihren eigenen Bedürfnissen respektieren zu können, muss ich sie alsAndere erkennen, und das wiederum setzt voraus, dass ich weiß, wie ich selbst bin.“ (59)
Dritte Vorlesung: Wie entsteht kulturelle Identität?
„Menschen haben auch eine kulturelle Identität. Wer jemand ist und als wer er sich erlebt, wird maßgeblich bestimmt durch das komplexe Gewebe von bedeutungsvollen, sinnstiftenden Aktivitäten, das wir Kultur nennen. Menschen schaffen sich ein solches Gewebe, um sich ihre Beziehung zur Natur, zu den anderen Menschen und zu sich selbst zurechtzulegen.“ (61)
„Kulturwesen als sprachfähige Wesen sind nicht bloß faktisch, sondern aus begrifflichen Gründen Mitglieder einer Gemeinschaft.“ (64)
„Für die kulturelle Identität einer Gemeinschaft ist entscheidend, was ihre Mitglieder unter Denken und Vernunft, unter Wissen und Wahrheit verstehen. Die Rede von diesen Dingen ist zunächst wiederum ein Nachplappern, die erste Aneignung ist die bloße Nachahmung eines Sprachspiels, das uns die anderen mit diesen Begriffen vorspielen. Bildung besteht dann darin, einen Schritt hinter die begriffliche Routine zurückzutreten und sich auf einer zweiten Stufe der Aneignung zu fragen, wovon wir da eigentlich reden. Es geschieht, was für Bildung typisch ist: Vertrautes wird verfremdet, um es später, wenn es transparenter geworden ist, erneut zu etwas Eigenem, Vertrautem zu machen.“ (68)
„Wir leben einen großen Teil unseres Lebens unter dem Blick der Anderen, und wer wir sind hat viel damit zu tun, wie wir diesen Blick erleben und wie wir ihm begegnen.“ (70)
„[…] Selbstbestimmung. Bildung ist hier, wie bei der Idee der Würde, der Versuch, sich darüber klar zu werden, wer man sein möchte: Man vergegenwärtigt sich, welche blinden Prägungen man erfahren hat, lernt darüber nachzudenken und zu diskutieren, lässt das verborgene Menschenbild und Selbstbild zu Bewusstsein kommen und entschließt sich am Ende angesichts wahrgenommener und verstandener Alternativen zu einer eigenen Stimme auch in diesen Dingen.“ (74)
„Moralisches Handeln ist genau das: sich einmischen, wenn man von Grausamkeit erfährt.“ (77)
„Eine Religion ist in der Regel ein Weltbild mit drei Komponenten: einer Auskunft über den Ursprung der Welt, einer Vorstellung von moralischer Integrität und einem Vorschlag zum Umgang mit Erfahrungen, die unsere Kräfte zu übersteigen drohen, wie Tod, Schmerz und Einsamkeit. Will man eine Kultur verstehen, so muss man sich fragen, in welchem Ausmaß und welcher Form sie eine religiös geprägte Kultur ist. Und wenn man in einem Prozess der Bildung aus blinden Prägungen herauswächst und sich eine bewusste kulturelle Identität erarbeitet, so bedeutet das immer auch, sich vis-á-vis von religiösen Weltdeutungen zu definieren.“ (77)
„Für jemanden, der aus einer religiösen Identität heraus lebt, gibt es eine Definition eines sinnvollen und glücklichen Lebens, die von außen kommt und ihre Autorität aus heiligen Schriften, einer Offenbarung oder einer kirchlichen Institution herleitet. […] Für eine säkulare, weltliche Identität ist es anders. Hier gibt es keinen übergeordneten, von mir unabhängigen Sinn und keinen Maßstab für das Glück, der jenseits meiner Bedürfnisse läge. Den Sinn meines Lebens schaffe ich mir selbst, er ergibt sich aus der Logik meines seelischen Lebens, er ist wandelbar, und ich anerkenne keine Autorität, die mich darüber belehren könnte.“ (79f)
„Sich bilden – das ist wie aufwachen. Das kulturelle Gewebe, von dem ich zu Beginn sprach, stößt uns am Anfang des Lebens nur zu, es wirkt auf uns ein und prägt uns, ohne dass wir uns dagegen wehren können. Wir bewegen uns darin wie Schlafwandler: unauffällig und zielsicher, aber ohne gedankliche und emotionale Plastizität, ohne reflektierende Distanz und ohne Sinn für Alternativen. Wenn wir dann die Stufen oder Phasen der Aneignung durchlaufen, die ich beschrieben habe, werden wir immer wacher: Wir lernen, über die Grammatik der zunächst blinden Kultur zu sprechen, sie in größeren Zusammenhängen zu verstehen und als eine unter mehreren Möglichkeiten zu betrachten. Je größer Transparenz und Übersicht werden, desto größere wird die innere Freiheit, aus dem Schatten blinder Prägungen herauszutreten und sich zu fragen, wer man sein möchte. Dieser Prozess der Bildung und des Erwachens ist nie abgeschlossen. Eine kulturelle Identität ist nichts Festes, nichts Endgültiges. Das Besondere an Kulturwesen ist, dass sie sich stets erneut zum Problem werden und die Frage aufwerfen können, wer sie sind und was ihnen wichtig ist. Und Bildung, richtig verstanden, ist der komplizierte Prozess, in dem es um die Beantwortung dieser Fragen geht.“ (83 – Schlusswort des Buches)
Köln, 01.04.2024
Harald Klein
[1] vgl. auf dieser Seite „verw:ortet 01/2023: Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte“