Verw:ortet 04/2025: Benedict Wells – Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben

  • Worte, auf denen ich stehe
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Um was es geht

Er braucht Zeit! Zwischen 2008 und 2024 hat Benedict Wells sieben Bücher veröffentlicht. Äußere und innere Reisen sind ihm ein beliebtes Thema. Menschen, die an Grenzen stehen und sie überwinden, tauchen immer wieder auf. Wenn du dann noch das großartige dreistündige Interview im „Hotel Matze“ zwischen Gastgeber Matze Hielscher und Benedict Wells anhörst[1], wird schnell deutlich: Wenn Benedict Wells schreibt, schreibt er zunächst einmal über Benedict Wells.

Aber Achtung: Benedict Wells schreibt nicht nur über Benedict Wells. Er schreibt auch über Menschen, die ihm ähnlich empfinden, empfinden wollen oder versuchen zu empfinden wie er. So schreibt er gleich im Vorwort seines 2024 erschienenen Buches „Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben“:

„Eine alte Frage lautet: Wenn in einem Wald ein Baum umfällt und niemand ist da, gibt es dann ein Geräusch? Genauso könnte es heißen: Wenn ich keine Worte für meine tieferen Gefühle habe, empfinde ich sie überhaupt? Weiß ich dann wirklich, wer ich bin, oder bleibe ich mir am Ende ein Schatten? Diese Frage stelle ich mir seit der Jugend, als mir jahrelang die Worte fehlten. Dass ich sie mir stellte, weiß ich aber erst, seit ich es ausdrücken kann.“[2]

Einer, dem die Worte fehlten. Das „Ich“, von dem hier die Rede ist, ist das „Ich“ von Benedict Wells, kann aber genauso gut übernommen werden von dir, wenn du seine Zeilen liest oder sie dir von ihm sagen lässt. Wenn du merkst, dass dir die Worte fehlen. Das ist die erste wichtige Anmerkung, die ich zu diesem Buch machen möchte: Es lebt von der Zustimmung, vom Weiterfragen, manchmal auch von der Ablehnung. Benedict Wells spricht zuerst von sich, aber auch gleichzeitig mit dir, wenn du „Die Geschichten in mir“ liest. Du kannst es lesen, als sei es dein Buch.

Von den bisher sieben erschienenen Titeln ist dieses das für mich am meisten dialogische, das, was mich – in doppeltem Sinne des Wortes – am meisten anspricht. Sicher deswegen, weil es ausgesprochen persönlich ist und die Persönlichkeit des Autors sich nicht hinter bzw. in den Romanfiguren verbirgt. Ich kann direkt Ja (oder auch Vielleicht, sogar Nein) sagen zu Benedict Wells und habe in „Die Geschichten in uns“ keine ihn verbergende, keine ihn nur manchmal durchblitzende Persönlichkeit vor mir bzw. neben mir. Er ist direkt da, er gibt mit dem Buch einen Teil seines Lebens, seines Denkens und Handelns in meine Hände.

Meine zweite wichtige Anmerkung zu diesem Buch ist meine tief empfundene Freude, die im Untertitel des Buches aufscheint: „Vom Schreiben und vom Leben“. Wie gut kenne ich diesen Zusammenhang, beinahe die Notwendigkeit, die auch für mich zwischen beidem steht.

Benedict Wells beginnt sein siebtes Buch mit seinem „Weg zum Schreiben“. Hier geht es um die Frage, warum man – also zunächst er, dann vielleicht du oder ich – anfängt und warum man – wieder er, du ich, – nicht aufhört.

Der zweite Teil ist trägt den Titel „Über das Schreiben“. Benedict Wells stellt dar, wie (s)ein Roman entsteht, und fügt gleich eine Liste der Werkzeuge zum Überarbeiten einer Geschichte an.

Im abschließenden dritten Teil berichtet er aus der Werkstatt, zeigt an Beispielen aus seinen Büchern auf, wie er mit Motiven, Charakteren und Handlungssträngen überarbeitend umgeht, indem er sich der geschilderten Werkzeuge bedient, mit dem Ziel der Klarheit, der Präzision..

Ob es die Inhalte sind, die Benedict Wells hier vor- und darstellt, ob es sein Weg zum Schreiben ist, den er sehr ehrlich erzählt, oder sein Vorgehen beim Schreiben samt den Werkzeugen, deren er sich bedient – immer ist es so, dass du ihn und sein Vorgehen auf diese Weise kennenlernst und dass du dich gleich positionieren kannst, ob du ihm folgen möchtest, dich anregen lassen möchtest oder ihn eher kopfschüttelnd und unverständlich anschaust. Sein zutiefst biographisch geprägtes Buch bringt dir den Autor der Romane näher – und, es mag nachteilig oder vorteilhaft sein, es ist ein Schlüssel für die anderen Romane und Erzählungen. „Die Geschichten in uns“ machen zum einen biographische Anklänge in den Figuren und Handlungsabläufen der anderen Romane und Erzählungen erkennbar. Zu anderen gehen die Figuren und deren Handlungen aber auch ganz andere Wege, lösen sich von der Biografie ab – oder fordern so diese Biografie neu heraus.

Die dritte Anmerkung ist mir die wichtigste: Benedict Wells triggert mit seinem Buch „Die Geschichten in uns“ – wie sollte es anders sein – die Geschichten in mir, und er könnte auch die Geschichten in dir triggern. Seine Werkzeuge können meine Werkzeuge werden, mir selbst – und vielleicht auch anderen – von den Geschichten in mir zu erzählen, von meinem Schreiben und meinem Leben. Ich habe bisher kaum ein schöneres Buch gelesen, das den Zusammenhang zwischen Schreiben und Leben für mich so stimmig auf den Punkt gebracht hat wie dieses siebte Buch von Benedict Wells. Dafür gilt ihm mein Dank und meine Hochachtung.

Alle Zitate sind entnommen aus Wells, Benedict (2024): Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben, Zürich. In Klammern sind hier die Seiten aus dem Buch genannt, auf denen sich die Zitate finden.

» Ich habe Schreiben gelernt,
um Gefühlen nicht mehr ausgeliefert zu sein,
sondern sie ins Bewusstsein zu holen
und mit Menschen zu teilen, die mir wichtig sind. «
Wells, Benedict (2024): Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und Leben, Zürich, 101.

Die Zitate

„Ich wurde einmal gefragt, wieso ich schreibe, und ich habe gesagt, weil ich schief zur Welt stehe. Ich sei nicht ganz mit ihr im Einklang und würde versuchen, diesen Bruch oder mich selbst zu korrigieren.“ (18)

„Ich verstand früh, dass Lesen einen in manchen Momenten retten kann. Dieses Gefühl trage ich noch immer in mir.“ (29)

„Wenn schon scheitern, dann mit etwas, das ich liebte.“ (46)

„Niemand erwartete etwas von mir, niemand bemerkte mich, wenn ich von meinen stundenlangen Streifzügen durch die Stadt zurückkehrte, den Kopf voller Pläne. Meine Wohnung war ein Loch, die Dusche spendete nur eine Minute lang warmes Wasser, auch sonst ließ ich kein Klischee eines Bohemiens aus.
Vermutlich war ich in meinem Leben nie freier gewesen.“ (49)

„Ich kann also bloß meinen Weg als Autor schildern und ihn hier auf wackelige Weise interpretieren, aber er lässt sich nicht auf andere übertragen. Dabei stelle ich fest, dass ich über die Zeit von Spinner am besten erzählen kann, wenn ich den saloppen Ton der Hauptfigur übernehme, und über Vom Ende der Einsamkeit, wenn ich dafür wieder die Erzählstimme des Buchs nutze. Die Orte von damals habe ich verlassen. Geblieben ist die Sprache.“ (54)

„Ich wusste, dass ich nicht übermäßig talentiert war. Vielleicht hatte ich eine echte Freude am Geschichtenerzählen und auch ein gewisses Gespür für Worte und Dialoge, aber das haben viele. […] Überhaupt schien mir Talent nichts, das man kontrollieren kann, ebenso wenig Glück oder Timing. Das Einzige, was man selbst in der Hand hatte, war das Durchhalten. Weshalb in kreativen Prozessen ein simpler, fast indischer Trotz manchmal das Wichtigste sein kann.“ (72f)

„Ich könnte die beste Geschichte der Welt serviert bekommen und wäre unfähig, sie zu schreiben, wenn dieser innere Zugang fehlte.“ (76)

„Der Publizist Alexander Kluge sagte in einem Interview auf die Frage, wieso er schreibe, er habe im Grunde in all seinen Werken versucht, seine Eltern wieder zusammenzubringen. Vielleicht ist so ein Satz zutreffend. Vielleicht ist auch mein Schreiben geprägt von dem unmöglichen Versuch, die Brüche im Leben meiner Eltern oder meiner Kindheit zu reparieren. Von dem Wunsch, fremde und eigene Fehler zu korrigieren. Und von der Hoffnung meines jugendlichen Ichs, endlich von anderen Menschen gesehen zu werden und all die unausgesprochenen in mir schlummernden Gefühle, Ängste und Gedanken mit ihnen zu teilen. Sie sind die weißen Blätter, auf die ich bis heute schreibe.“ (99)

„Wir sind die Geschichten in uns; nicht nur die, die wir erlebt haben, sondern auch die, die wir anderen und uns selbst erzählen. Dabei fasziniert mich, wie sehr sich die gleiche Geschichte im Laufe der Zeit verändert. Ich habe versucht, meinen Werdegang als Autor nachzuzeichnen, aber ich tue es im Nachmittagslicht meines Lebens. Mit Ende dreißig bin ich erst dabei, mich zu verstehen, bin ich noch rastlos und mir selbst oft ein Rätsel. Später werde ich über manches hier wohl amüsiert den Kopf schütteln und es anders erzählen. Doch das ist okay.“ (100f)

„Ich habe Schreiben gelernt, um Gefühlen nicht mehr ausgeliefert zu sein, sondern sie ins Bewusstsein zu holen und mit Menschen zu teilen, die mir wichtig sind.“ (101)

„Schreiben ist für mich eine Übersetzungsarbeit von der Fantasie ins geschriebene Wort. Bei den frühen Fassungen fühle ich mich oft, als müsse ich die Geschichte in einer fremden Sprache erzählen, etwa in Portugiesisch. Ich bin enthusiastisch und möchte so viel sagen, nur leider fehlen mir meistens die Vokabeln, ich kann mich nur bruchstückhaft verständigen. Frustriert verfehle ich immer wieder den Text und mich selbst.“ (135)

„Sprache ist Gefühl, Sprache ist Sound, Sprache ist Identität und Milieu, ist die richtige Stimme. Im Idealfall klingen jede Figur und jede Geschichte verschieden – und nach sich selbst.“ (153)

„Gute Literatur lebt von der Kunst, komplizierte Vorgänge genial einfach wirken zu lassen und umgekehrt alltägliche Gefühle, Szenen und Beobachtungen zu poetisieren und ihnen so Bedeutung zu verleihen.“ (213)

„Ich persönlich mag Sätze, die nach außen simpel wirken, aber in Wahrheit das Gewicht tiefer Reflexion in sich tragen. So kann man in einem Text lange darüber philosophieren, dass jahrelang unverarbeitete, verdrängte Erlebnisse einen zwingen, manche Situationen mehrfach zu durchleben. Oder man bringt es wie in Krachts Roman Eurotrash auf den Punkt: ‚Denn alles, was nicht ins Bewusstsein steigt, kehrt als Schicksal zurück.‘“ (220 – Fußnote)

„Eine Poesie der Einfachheit ist für mich große Literatur, im Sinne Schopenhauers: ‚Man gebrauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge.‘“ (221)

„Guter Stil ist für mich keine elitäre Party, die andere ausschließt, sondern eine Einladung. Und: Guter Stil ist wichtig, ein eigener Stil wichtiger.“ (225)

„Erst wenn man weiß, was für einen selbst gute Literatur ausmacht, kann man seine eigenen Texte daran messen.“ (229)

„Es gibt über siebzig Millionen Holden Caulfields, einen für jede Leserin und jeden Leser. Würde man die Geschichte verfilmen, gäbe es nur noch einen Holden Caulfield für siebzig Millionen.“ (272)

„Offenbar brauchen wir die fiktiven Geschichten, um unsere eigene erzählen zu können. Sei es, weil sie uns zu nahe geht, die Privatsphäre anderer Menschen verletzen könnte oder wir noch nach Perspektive und Ton suchen. Erst in der Distanz, in der Umwandlung in Literatur kommen wir zum Atmen. Oft liegt ein Trost darin, unsere Erfahrungen in fremdes Gewand zu kleiden und so zu kontrollieren: In der fiktiven Geschichte des nach langer Krankheit verstorbenen Bruders verbirgt sich in Wahrheit die echte Erinnerung an die letzten Jahre des an Demenz erkrankten Vaters. Der Roman über eine gescheiterte Ehe entsteht aus einer nie erfüllten eigenen Liebe. Und eine Autorin flieht aus einem Kriegsgebiet und berichtet im Roman nicht davon, sondern von einem geflüchteten Jungen, dem etwas anderes widerfährt. Das Erfundene als Schutzraum. Die Frage ist, wo man die Wahrheit verortet: in der Handlung oder in den Gefühlen dahinter?“ (321f)

„Als junger Autor hatte ich davon geträumt, dass mein Leben mit dem Veröffentlichen ‚richtig‘ losgehen würde. Dass ich dadurch ein anderer sein würde und insgeheim auch, dass Erfolg glücklich macht. […] Die Sehnsucht nach mehr wird in der Parabel des Films Soul beschrieben. Dort schwimmt ein Fisch zu einem älteren Fisch und sagt, er wolle endlich diesen Ort finden, den die Leute ‚Teh Ocean‘ nennen. ‚The ocean?‘, antwortet der ältere Fisch, ‚that’s what you’re in right now.’ –‘This’, sagt der jüngere Fish, ‘this ist water … What I want, is the ocean.‘“ (335)

„Wir brauchen die Geschichten in uns, aber auch die von anderen, weil wir in ihnen unser Menschsein erkennen; das Vertraute und Fremde, das Gute und die Abgründe. Denn wieso fühlen wir uns auch von Texten verstanden, die nichts mit unserer Lebensrealität zu tun haben, deren Figuren aus anderen Ländern kommen und mit anderen Problemen kämpfen? Weil wir an Wahrheit interessiert sind und wissen wollen, wer wir sind. An der Oberfläche sind wir verschieden, komplex, häufig missverständlich. Doch je tiefer wir vordringen in unsere Gefühle und Gedanken, desto verständlicher werden wir, oder wie Carl Rogers sagen würde: ‚Das Persönlichste ist das Allgemeinste.‘“ (344)

„Es gab Dinge, die ich nicht sagen, sondern nur schreiben konnte. Denn wenn ich redete, dann dachte ich, und wenn ich schreib, dann fühlte ich.“ (376 – aus Vom Ende der Einsamkeit -Schlusswort von Die Geschichten in uns)

Köln, 01.04.2025
Harald Klein

[1] z.B. hier: [online] https://www.youtube.com/watch?v=Fq863OJ6PoY [25.03.2025] oder hier: [online] https://open.spotify.com/episode/7uEw13R8JiW9tXtyBlDV82 [25.03.2025]

[2] Wells, Benedict (2024): Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben, Zürich, 17.