Verw:ortet 05/2025: Dalai Lama – Ethik ist wichtiger als Religion. Der Appell an die Welt.

  • Worte, auf denen ich stehe
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Um was es geht

Dass aus Jorge Mario Bergoglio 2013 Papst Franziskus wurde, könnte gerade nach seinem Sterben vor wenigen Wochen und den vielen Berichten drumherum in den Medien auch Nichtchristen geläufig sein. Würde ich dich nach Lhamo Dhöndrub fragen, der am 06. Juli seinen 90. Geburtstag feiert, und würdest du die Überschrift dieses Artikels nicht kennen – der bürgerliche Name des Dalai Lama spielt noch weniger eine Rolle für dessen Funktion, Rolle, Aufgabe, als es bei Papst als dem Oberhaupt der katholischen Kirche ist. Und so, wie Franziskus „Papst“ wurde und sein Nachfolger ebenfalls „Papst“ werden wird, wurde aus dem bürgerlichen Lhamo Dhöndrub der Mönch Tenzin Gyatso, in dem sich dann der 14. Dalai Lama, das geistige (und bis März 2011 auch das weltliche) Oberhaupt des tibetischen Buddhismus inkarnierte, Fleisch oder besser Mensch wurde.

Das ist der erste Grund für das verw:ortet 05/2025: Der 90. Geburtstag des Dalai Lama. Und gleich dazu der zweite Grund: die Auseinandersetzung mit der Volksrepublik China, seine Flucht nach bzw. sein Exil in Indien, der kulturelle Austausch und die Begegnung mit der Philosophie und den Religionen des Westens, und dann sein Rückzug aus der Politik und die Übergabe seiner Aufgaben für Tibet an demokratisch gewählte Volksvertreter. Der strikt eingehaltene gewaltlose Kurs ihres religiösen Oberhauptes wurde nicht von allen Politikern Tibets mitgetragen:[1] Dieser Rückzug scheint mir die logische Folge aus dem Grundsatz der Gewaltlosigkeit und dem Hochschätzen der geistigen Welt und ihrer Werte zu sein.

Der vierte Grund schließlich ist der Inhalt des „Appell des Dalai Lama an die Welt“. Der 2015 im indischen Exil in Dharamsala geschriebene Text umfasst gerade mal sieben Seiten. In der Buchfassung ist diesem Appell ein Vorwort von Franz Alt und ein Interview vor- bzw. nachgeschaltet; das ganze Büchlein umfasst ca. 50 Seiten Text. Aber die haben es in sich. Ich fasse den Inhalt in Thesen zusammen:[2]

  1. Nicht die Religionen, sondern nur eine säkulare Ethik kann Basis für ein friedliches Jahrhundert sein.
  2. Diese säkulare Ethik setzt eine Verwurzelung des Menschen in eine die vielen verschiedenen Unterschiede überwindende Ethik voraus.
  3. Daraus folgt als Grundsatz: Ethik ist wichtiger als Religion.
  4. Neben die spirituelle Komponente kommen in diesem Grundsatz auch politische, kulturelle und soziale Elemente; der Stellenwert der Weltreligionen benötigt einen Diskurs.
  5. Im Dialog muss eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen formuliert und gelebt werden

Christof Spitz, Geschäftsführer des Netzwerk Ethik heute und 30 Jahre lang Tibetisch-Dolmetscher des Dalai-Lama,[3]gestaltet am 14. Mai 2025, 19:00 h einen Online-Abend des Netzwerks mit dem Titel „Für mehr Mitgefühl! Ist der Dalai Lama weltfremd?“ Zu diesem Abend kannst du dich hier anmelden.

Anders als bei anderen Autoren in anderen verw:ortet-Beiträgen, deren Zitate ich aufgrund der Schönheit ihrer Sprache oder Knappheit ihrer Aussagen gewählt habe, erläutert der Dalai Lama vor allem im Gespräch mit Franz Alt häufig seine teils klaren, teils provokanten Thesen. Dem ist die geringere Auswahl der Zitate und deren Länge geschuldet.

Alle Zitate sind entnommen aus Dalai Lama (2015): Ethik ist wichtiger als Religion. Der Appell des Dalai Lama an die Welt. Mit Franz Alt, Wals bei Salzburg. In Klammern sind hier die Seiten aus dem Buch genannt, auf denen sich die Zitate finden.

» Sowohl den theistischen wie den nicht-theistischen Religionen geht es primär um den menschlichen Geist, also um das spirituelle Wohl der Menschen.
Dazu brauchen wir eine intakte Umwelt,
aber auch Werte wie Güte, Versöhnlichkeit und Aufrichtigkeit.
Diese wurden bisher fast ausschließlich religiös begründet. Die Kultivierung dieser Werte war ein Bestandteil jeder religiösen Praxis.
Aber ich sehe immer deutlicher, dass unser spirituelles Wohl nicht von der Religion abhängig ist,
sondern der uns angeborenen menschlichen Natur, unserer natürlichen Veranlagung zu Güte, Mitgefühl und Fürsorge für andere entspringt.
Unabhängig davon, ob wir einer Religion angehören oder nicht, haben wir alle eine elementare und menschliche Urquelle in uns. Dieses gemeinsame ethische Fundament müssen wir hegen und pflegen.
Ethik, nicht Religion, ist in der menschlichen Natur verankert. «
Dalai Lama (2015): Ethik ist wichtiger als Religion. Der Appell des Dalai Lama an die Welt. Mit Franz Alt, Walz bei Salzburg, 20.

Die Zitate

Aus dem Vorwort von Franz Alt

„‘Ethik ist wichtiger als Religion. Wir kommen nicht als Mitglied einer bestimmten Religion auf die Welt. Aber Ethik ist uns angeboren.‘“ (6)

„Immer häufiger spricht er bei seinen weltweiten Vorträgen über eine ‚säkulare Ethik jenseits aller Religionen‘. Albert Schweitzer nannte dasselbe anliegen ‚Ehrfurcht vor allem Leben‘.“ (6)

„Diese säkulare Ethik des Dalai Lama sprengt nationale, religiöse und kulturelle Grenzen und skizziert Werte, die allen Menschen angeboren und allgemein verbindlich sind. Das sind nicht äußere, materielle Werte, sondern innere Werte wie Achtsamkeit, Mitgefühl und Geistesschulung sowie das Streben nach Glück.“ (6)

Aus dem Appell des Dalai Lama für eine säkulare Ethik und Frieden

„Seit Jahrtausenden wird Gewalt im Namen von Religionen eingesetzt und gerechtfertigt. Religionen waren und sind oft intolerant. Um politische oder wirtschaftliche Interessen durchzusetzen, wird Religion oft missbraucht oder instrumentalisiert – auch von religiösen Führern. Deshalb sage ich, dass wir im 21. Jahrhundert eine neue Ethik jenseits aller Religionen brauchen. Ich spreche von einer säkularen Ethik, die auch für über eine Milliarde Atheisten und für zunehmend mehr Agnostiker hilfreich und brauchbar ist. Wesentlicher als Religion ist unsere elementare menschliche Spiritualität. Das ist eine in uns Menschen angelegte Neigung zur Liebe, Güte und Zuneigung – unabhängig davon, welcher Religion wir angehören.“ (9)

„Die wichtigste Frage für eine bessere Welt heißt: Wie können wir einander dienen?“ (11)

„Die Hauptursachen für Kriege und Gewalt sind unsere negativen Emotionen. Diesen geben wir zu viel Raum und unserem Verstand und unserem Mitgefühl zu wenig.“ (11)

„Den materiellen Werten wird heute zu viel Bedeutung beigemessen. Sie sind wichtig, aber sie können unseren psychischen Stress, unsere Furcht, Wut oder Frustration nicht verringern. Wir müssen jedoch unsere mentalen Belastungen, wie zum Beispiel Stress, Ängste, Frustrationen überwinden. Deshalb brauchen wir eine tiefere Ebene des Denkens. Das verstehe ich unter Achtsamkeit.“ (12)

„Durch Meditation und Nachdenken können wir zum Beispiel lernen, dass Geduld das wichtigste Gegenmittel gegen Wut ist, Zufriedenheit gegen Gier wirkt, Mut gegen Angst, Verständnis gegen Zweifel. Zorn über andere hilft wenig, stattdessen sollten wir dafür sorgen, dass wir uns selbst ändern.“ (12)

„Wann immer wir auf Probleme stoßen oder wirtschaftliche Konflikte entstehen, aber auch in Fällen von religiösen Differenzen, müssen wir darauf hinwirken, dass die einzig wahre Methode der Dialog ist. Wir müssen lernen, dass wir alle Brüder und Schwestern sind. Das letzte Jahrhundert war das Jahrhundert der Gewalt. Unser 21. Jahrhundert sollte das Jahrhundert des Dialogs sein! Die Vergangenheit können wir niemals ändern, aber wir können immer lernen für eine bessere Zukunft.“ (15)

Ethik ist wichtiger als Religion – aus dem Interview von Franz Alt mit dem Dalai Lama

„Spiritualität ist die elementarste aller menschlichen Urquellen in uns. Wenn wir uns entschließen, die inneren Werte, die wir bei anderen schätzen, zu kultivieren, dann fangen wir an, spirituell zu leben. Wir sollten also ein ethisches Fundament schaffen und unsre inneren Werte kultivieren, sodass sie unserem wissenschaftlichen Zeitalter gerecht werden, aber zugleich die tieferen Bedürfnisse des menschlichen Geistes nicht vernachlässigen. Zu diesem ganzheitlichen säkularen Ethos können natürlich alle Religionen einen wertvollen Beitrag leisten.“ (16)

„‘Was sind die Grundlagen einer säkularen Ethik?‘ – ‚Achtsamkeit, Bildung, Respekt, Toleranz, Fürsorge und Gewaltlosigkeit. Im letzten Jahrhundert haben wir große materielle Fortschritte erzielt. Das war insgesamt gut. Aber diese materiellen Fortschritte sind es auch, die zur aktuellen Umweltzerstörung geführt haben. Jetzt, im 21. Jahrhundert, müssen wir auf allen Ebenen mehr innere Werte lernen, pflegen und anwenden.‘“ (19)

„Sowohl den theistischen wie den nicht-theistischen Religionen geht es primär um den menschlichen Geist, also um das spirituelle Wohl der Menschen. Dazu brauchen wir eine intakte Umwelt, aber auch Werte wie Güte, Versöhnlichkeit und Aufrichtigkeit. Diese wurden bisher fast ausschließlich religiös begründet. Die Kultivierung dieser Werte war ein Bestandteil jeder religiösen Praxis. Aber ich sehe immer deutlicher, dass unser spirituelles Wohl nicht von der Religion abhängig ist, sondern der uns angeborenen menschlichen Natur, unserer natürlichen Veranlagung zu Güte, Mitgefühl und Fürsorge für andere entspringt. Unabhängig davon, ob wir einer Religion angehören oder nicht, haben wir alle eine elementare und menschliche Urquelle in uns. Dieses gemeinsame ethische Fundament müssen wir hegen und pflegen. Ethik, nicht Religion, ist in der menschlichen Natur verankert.“ (20)

„Es gibt zwei Sichtweisen auf die menschliche Natur. Die eine meint, der Mensch sei von Natur aus gewalttätig, rücksichtslos und aggressiv. Die andere glaubt, wir neigen von Natur zu Güte, Harmonie und einem friedlichen Leben. Diese zweite Sichtweise entspricht meiner eigenen. Deshalb halte ich Ethik nicht für die Summe von Geboten und Verboten, die es zu befolgen gilt, sondern für ein natürliches, inneres Angebot, das uns zu Glück und Zufriedenheit mit uns selbst und mit anderen führen kann. Mich persönlich treibt der einfache Wunsch, zum größeren Wohl der Menschheit und aller Lebewesen beizutragen.“ (21)

„Sicher ist jedoch, dass eine säkulare Ethik eine Schulung des Herzens, viel Geduld und ausdauerndes Bemühen erfordert. Und klar ist auch, dass eine wirklich hilfreiche säkulare Ethik nicht nur eine Frage des Wissens ist, sondern noch mehr eine Frage des Handelns. Wir wissen ja oft, was wir tun, aber wir tun nicht, was wir wissen.“ (24)

„Begreift, dass wir heute im Zeitalter der Globalisierung in einer Welt leben. Euer Interesse ist unser Interesse. Fundamentalismus ist immer schädlich. Die Konzepte von gestern helfen uns nicht mehr weiter. Gerade für Kinder, also für die Erwachsenen von morgen, ist Ethik wichtiger als Religion.“ (26)

Franz Alt fragt: „Können Menschen im Angesicht des Todes überhaupt glücklich werden?“ Der Dalai Lama antwortet:„Das ist natürlich eine ganz spannende Frage und eine zentrale dazu. Es gibt ja Menschen, die gar nicht wissen oder nicht wissen wollen, dass sie sterben. Und es gibt Menschen, die vergessen haben, dass sie lebendig sind. Mitgefühl mit uns selbst, das heißt, sich den Tod vergegenwärtigen, um unser Leben zu bereichern. Wenn wir den Tod als Teil des Lebens annehmen, bewahren wir uns davor, unsere Zeit mit sinnlosen Ablenkungen zu vertrödeln. Beim Beobachten des Sonnenuntergangs können wir uns fragen: Werde ich morgen früh wieder den Sonnenaufgang erleben? Wir können uns auch fragen: Was ist, wenn der Tod nur ein Durchgangsstadium ist und unser Geist auch in Zukunft weitere Seinszustände durchlebt? Bei diesen Fragen können wir lernen, eine selbstlose und friedliche Haltung einzunehmen und sowohl Besitztümer als auch unsere Lieben loszulassen. Eine selbstlose und losgelöste Haltung ist die beste und intelligenteste Vorbereitung auf den Tod.“ (29)

Franz Alt fragt: „Was ist der Grundgedanke aller Religionen?“ Der Dalai Lama antwortet: „Die Liebe! Keine Frage. Menschen glauben an Gott, den Schöpfer, sie praktizieren Liebe. Viele christliche Brüder und Schwestern widmen ihr Leben der Hilfe für andere Menschen, besonders für Arme. All dies ist das Ergebnis der Lehre der Liebe. In der Philosophie gibt es dagegen große Unterschiede zwischen den Religionen. Ich bin aber der Meinung, dass die unterschiedlichen philosophischen Ansichten einfach nur unterschiedliche Methoden darstellen, unterschiedliche Ansätze zur Förderung von Liebe. Der Kern aller Religionen ist die Liebe. Uns allen ist die Nächstenliebe angenehmer als der Hass gegenüber dem Anderen. Die Großzügigkeit anderer Menschen ist uns lieber als deren Gemeinheit. Und wer möchte nicht lieber mit Toleranz, Respekt und Nachsicht behandelt werden als mit Engstirnigkeit, Nichtachtung und Feindseligkeit?
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir alle unsere inneren Werte entwickeln können, die keiner Religion widersprechen, die aber auch – und das ist entscheidend – von keiner Religion abhängig sind. Ich hoffe deshalb, dass wir deshalb auch zu immer mehr ethischer Bewusstheit finden und dadurch in absehbarer Zeit eine Werte-Transformation erleben.
Dabei möchte ich keine moralischen Werte diktieren – das würde niemandem nutzen. Jeder wirkliche Fortschritt basiert auf Freiwilligkeit und Freiheit. Und nur so entsteht das Glück, nach dem wir alle streben. Aber: Angesichts der Probleme unserer Zeit reicht es nicht mehr, Ethik nur auf die Werte von Religionen zu gründen. Es ist vielmehr höchste Zeit, für unser Verständnis von Spiritualität und Ethik in der globalisierten Welt einen neuen weg jenseits der Religionen zu eröffnen.“ (34f)

„Wann immer wir auf Probleme stoßen oder wirtschaftliche Konflikte entstehen, oder auch im Fall von religiösen Differenzen, müssen wir darauf hinwirken, dass die einzig wahre Methode der Dialog ist.“ (38)

„Abrüstung ist praktiziertes Mitgefühl. Voraussetzung einer äußeren Abrüstung ist allerdings eine innere Abrüstung von Hass, Vorurteilen und Intoleranz.“ (38)

Köln, 01.05.2025
Harald Klein

[1] Bei Wikipedia finden sich übersichtliche, wenn auch den Umständen entsprechend lange Artikel über das Amt des Dalai Lama, des „Linienhalters“ für den tibetischen Buddhismus [online] https://de.wikipedia.org/wiki/Dalai_Lama [29.04.2025] und über den gegenwärtigen 14. Dalai Lama, den Ordensmann Tenzin Gyatso [online] https://de.wikipedia.org/wiki/Tenzin_Gyatso [29.04.2025]. Eine leicht zu lesende Einführung in den tibetischen Buddhismus und in die buddhistische Praxis liefert das Heft 19 – 4/1991 des Tibetischen Zentrums Hamburg [online] https://www.tibet.de/zentrum/zeitschrift/archiv/tibet-buddhismus-19-einfuehrung-in-den-tibetischen-buddhismus [29.04.2025]

[2] Dazu bediene ich mich einer kurzen Besprechung des Weltethos Institutes, vgl. [online] https://weltethos-institut.org/blog/allgemein/appell-des-dalai-lama-an-die-welt/ [29.04.2025]

[3] Vgl. die Ausschreibung des Online-Abend [online] https://ethik-heute.org/online-abende/ [29.04.2025]