Verw:ortet 07/2022: Byung-Chul Han – Vom Verschwinden der Rituale

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Wenn ritualisierte Formen verschwinden…

Ein Freund aus dem Gefährtenkreis schenkte mir ein kleines Reclam-Bändchen, nach wie vor gelb und handlich. Er praktiziert Zen, oft sind wir im Gespräch über diese Sichtweise auf das Leben, auf das Einüben des Menschseins, auf den Menschen, auf sich selbst und die Welt. Der Autor dieser „Philosophie des Zen-Buddhismus“ ist Byung-Chul Han. Völlig unbekümmert ordnete ich den Autoren in die Reihen der buddhistischen Theologen ein – bis ich ihn als scharfsinnigen und mit der Sprache herrlich spielenden Soziologen sowohl in Hartmut Rosas „Resonanz“ als auch in Harald Welzers „Nachruf auf mich selbst“ mit scharf ausformulierten Zitaten zur Lage der Welt, der Gesellschaft, der Menschen wiederfand.

Drei kleine Schriften, keine mehr als 120 Seiten lang, in Essayform gehalten, nahm ich aus der Zentralbibliothek mit: „Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute“ (2016), „Agonie des Eros“ (2012) und „Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart“ (2. Aufl., 2019). Mit dem dritten Buch fing ich an, und war vom Feuerwerk der Sprache regelrecht erschlagen. „Topologie“ meint in der Philosophie eine Beschreibung von Orten und Feldern im Raum und deren Sphäre als Außenwelt. Topologien haben einen phänomenologischen Hintergrund. Die „Außenwelt“ die Byung-Chul Han topologisch / phänomenologisch beschreibt, soll dem Titel nach die „Gegenwart“ sein. Und das, was er beschreibt, sind Rituale in den verschiedensten Feldern, mehr noch: sind das Verschwinden der Rituale, die Konsequenzen, die er daraus beobachtet und das, was sich an die Stelle der Rituale setzt. Es sei vor allem der „Zwang zur Produktion“ (1. Kapitel) und der „Zwang zur Authentizität“ (2. Kapitel), die Rituale und Formen verdrängen. Und es sei das Übermaß an Produktion und das Diktat zur Authentizität, die eine Gesellschaft krank macht.

Byung-Chul Hans kurze Kapitel haben eine sehr verdichtete Sprache. Die hier vorgestellten Zitate sind oft nur im Kontext verständlich, glänzen aber in ihrer Sprache. Ich wünsche sehr, dass sie Neugier erwecken auf den Essay vom Verschwinden der Rituale.

Die Seitenzahlen (in Klammern nach den folgenden Zitaten) beziehen sich auf das Buch von Byung-Chul Han (2019): Vom Verschwinden der Symbole. Eine Topologie der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin.  Diesen Beitrag zu „verw:ortet im Juli 2022“ können Sie hier herunterladen.

» Rituale lassen sich als symbolische Techniken der Einhausung definieren. Sie verwandeln das In-der-Welt-sein in ein Zu-Hause-sein. Sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort. Sie sind in der Zeit das, was im Raum eine Wohnung ist. Sie machen die Zeit bewohnbar. Ja, sie machen sie begehbar wie ein Haus. Sie ordnen die Zeit, richten sie ein. «
Byung-Chul Han (2019): Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin, 10.

Die Zitate

„Rituale sind symbolische Handlungen. Sie tradieren und repräsentieren jene Werte und Ordnungen, die eine Gemeinschaft tragen. Sie bringen eine Gemeinschaft ohne Kommunikation hervor, während heute eine Kommunikation ohne Gemeinschaft vorherrscht. Konstitutiv für die Rituale ist die symbolische Wahrnehmung.“ (9)

„Rituale lassen sich als symbolische Techniken der Einhausung definieren. Sie verwandeln das In-der-Welt-sein in ein Zu-Hause-sein. Sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort. Sie sind in der Zeit das, was im Raum eine Wohnung ist. Sie machen die Zeit bewohnbar. Ja, sie machen sie begehbar wie ein Haus. Sie ordnen die Zeit, richten sie ein.“ (10)

„Es sind rituelle Formen, die wie Höflichkeit nicht nur einen schönen zwischenmenschlichen Umgang, sondern auch einen schönen, schonenden Umgang mit den Dingen möglich machen. Im rituellen Rahmen werden die Dinge nicht konsumiert oder verbraucht, sondern gebraucht. So können sie auch alt werden. Unter dem Zwang der Produktion aber verhalten wir uns gegenüber den Dingen, ja gegenüber der Welt verbrauchend statt gebrauchend. Im Gegenzug verbrauchen sie uns. Rücksichtsloses Verbrauchen umgibt uns mit dem Verschwinden, was das Leben destabilisiert.“ (12)

„Die symbolische Wahrnehmung verschwindet heute immer mehr zugunsten serieller Wahrnehmung, die nicht zur Erfahrung der Dauer fähig ist. Die serielle Wahrnehmung als fortgesetzte Kenntnisnahme des Neuen verweilt nicht. Vielmehr eilt sie von einer Information zur nächsten, von einem Erlebnis zum nächsten, von einer Sensation zur nächsten, ohne je zum Abschluss zu kommen. Serien sind heute wohl deshalb so beliebt, weil sie der Gewohnheit der seriellen Wahrnehmung entsprechen.“ (15)

„Die Gesellschaft der Authentizität ist eine Performancegesellschaft. Jeder performt sich. Jeder produziert sich. Jeder huldigt dem Kult, dem Gottesdienst des selbst, in dem man der Priester seiner selbst ist.“ (25)

„Die Authentizität (erg.: erweist sich) als Widersacherin der Gemeinschaft. Aufgrund ihrer narzisstischen Verfasstheit wirkt sie der Gemeinschaftsbildung entgegen. Entscheidend für ihren Inhalt ist nicht ihr Bezug zur Gemeinschaft oder zu einer anderen höheren Ordnung, sondern ihr Marktwert, der alle anderen Werte aushebelt.“ (26)

„Der Authentizitätskult ist ein unübersehbares Zeichen für den Verfall des Sozialen.“ (27)

„Der narzisstische Authentizitätskult macht uns blind gegenüber der symbolischen Kraft der Formen, die einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Gefühle und Gedanken ausübt. Denkbar ist eine rituelle Wende, in der wieder der Vorrang der Formen gilt. Sie kehrt das Verhältnis von Innen und Außen, von Geist und Körper um. Körper bewegt Geist und nicht umgekehrt. Nicht Körper folgt Geist, sondern Geist folgt Körper. Man könnte auch sagen: Medium erzeugt Botschaft. Darin besteht die Kraft der Rituale. Äußere Formen führen zu inneren Veränderungen.“ (31)

„Im Exzess des Öffnens und des Entgrenzens, der die Gegenwart beherrscht, verlernen wir die Fähigkeit des Schließens. Dadurch wird das Leben bloß additiv. Das Sterben setzt voraus, dass das Leben eigens abgeschlossen wird. Wird dem Leben jede Möglichkeit des Abschlusses genommen, wird es zur Unzeit beendet. Selbst die Wahrnehmung ist heute unfähig zum Schluss, denn sie eilt von einer Sensation zur nächsten. Nur ein kontemplatives Verweilen ist fähig zum Schluss.“ (37)

„Der Exzess des Öffnens und des Entgrenzens setzt sich auf allen Ebenen der Gesellschaft fort. Er ist der Imperativ des Neoliberalismus. Auch die Globalisierung löst alle geschlossenen Strukturen auf, um den Kreislauf von Kapital, Waren und Informationen zu beschleunigen. Sie entgrenzt, ent-ortet die Welt zu einem globalen Markt. Der Ort ist eine Schlussform. Der globale Markt ist ein Un-Ort.“ (39)

„Die Erzählung ist eine Schlussform. Sie hat Anfang und Ende. Eine geschlossene Ordnung zeichnet sie aus. Informationen sind dagegen additiv und nicht narrativ. Sie schließen sich nicht zu einer Geschichte, zu einem Gesang zusammen, der Sinn und Identität stiftet. Sie lassen nur eine endlose Kumulation zu.“ (41)

„Gott segnet und heiligt den siebten Tag. Die Sabbatruhe verleiht dem Schöpfungswerk eine göttliche Weihe. Sie ist keine bloße Untätigkeit. Vielmehr bildet sie einen wesentlichen Teil der Schöpfung. […] Die Sabbatruhe folgt nicht auf die Schöpfung. Vielmehr bringt sie die Schöpfung erst zum Abschluss. Ohne sie ist die Schöpfung unvollendet. Am siebten Tag ruht sich Gott nicht bloß von der getanen Arbeit aus. Die Ruhe ist vielmehr sein Wesen. Sie vollendet die Schöpfung. Sie ist die Essenz der Schöpfung. So verfehlen wir das Göttliche, wenn wir die Ruhe der Arbeit unterordnen.“ (47)

„Der heutige Zwang der Kommunikation führt dazu, dass wir weder die Augen noch den Mund schließen können. Er entweiht das Leben. Stille und Schweigen haben keinen Platz im digitalen Netz, das eine flache Aufmerksamkeitsstruktur hat. Sie setzen eine vertikale Ordnung voraus. Die digitale Kommunikation ist horizontal. Nichts ragt dort. Nichts vertieft sich. Sie ist nicht intensiv, sondern extensiv, was dazu führt, dass der Kommunikationslärm steigt.“ (48f)

„Im Gegensatz zum Fest bringen Events auch keine Gemeinschaft hervor. Festivals sind Massenveranstaltungen. Massen bilden keine Gemeinschaften.“ (54)

„Das Heilige vereinigt jene Dinge und Werte, die eine Gemeinschaft beleben. Die Vergemeinschaftung ist sein Wesenszug. Der Kapitalismus hingegen nivelliert jene Unterscheidung, indem er das Profane totalisiert. Er macht alles vergleichbar und dadurch gleich. Er bringt die Hölle des Gleichen hervor.“ (55)

„Leben heißt heute nichts anderes als Produzieren. Alles verlagert sich von der Sphäre des Spiels in die der Produktion. Wir sind alle Arbeiter und keine Spieler mehr. Das Spiel selbst wird zur Freizeitbeschäftigung abgeschwächt. Nur das schwache Spiel ist geduldet. Es bildet ein Funktionselement innerhalb der Produktion. Der heilige Ernst des Spiels ist gänzlich dem profanen Ernst der Arbeit und Produktion gewichen. Das Leben, das sich dem Diktat der Gesundheit, Optimierung und Leistung unterwirft, gleicht einem Überleben. Ihm fehlt jeder Glanz, jede Souveränität, jede Intensität.“ (67)

„Unter dem Zwang der Arbeit und Produktion verlernen wir immer mehr die Fähigkeit zu spielen. Auch von der Sprache machen wir selten einen spielerischen Gebrauch. Wir lassen sie nur noch arbeiten. Sie wird dazu verpflichtet, Informationen zu vermitteln oder Sinn zu produzieren. Dadurch haben wir keinen Zugang zu Formen, die für sich glänzen. Die Sprache als Informationsmedium hat keinen Glanz.“ (75)

„Es wird heute unentwegt und unablässig moralisiert. Gleichzeitig verroht aber die Gesellschaft. Höflichkeiten verschwinden. Der Kult der Authentizität missachtet sie. Immer seltener werden schöne Umgangsformen. Auch in dieser Hinsicht sind wir feindlich gegenüber Formen. Die Moral schließ offenbar die Verrohung der Gesellschaft nicht aus. Die Moral ist ohne Form. Die moralische Innerlichkeit kommt ohne Form aus. Man könnte sogar sagen: Je moralisierender eine Gesellschaft ist, desto unhöflicher ist sie. Gegen diese formlose Moral ist eine Ethik der schönen Formen zu verteidigen.“ (83f)

„Der entscheidende Paradigmenwechsel in der abendländischen Wissensvermittlung ist der Übergang vom Mythos zur Wahrheit, der mit dem Übergang vom Spiel zur Arbeit zusammenfällt. Auf dem Weg zur Arbeit entfernt sich das Denken immer mehr von seinem Ursprung als Spiel.“ (96)

„Algorithmen zählen, aber sie erzählen nicht.“ (100)

„Das Denken ist erotischer als das Rechnen.“ (100)

„Ohne Eros verkommen Denkschritte zu Rechenschritten, das heißt, zu Arbeitsschritten. Das Rechnen ist nackt, ist pornografisch. Das Denken kleidet sich in Figuren. Es ist nicht selten verschnörkelt. Das Rechnen hingegen folgt einer linearen Bahn.“ (109)

„Das Übermaß an Positivität macht die Pathologie der gegenwärtigen Gesellschaft aus. Nicht Zuwenig, sondern Zuviel macht sie krank.“ (109)

Köln, 29.06.2022
Harald Klein