Um was es geht
Mit 112 Seiten ein schmales Bändchen, es liegt am Kassenpult der Buchhändlerin meines Vertrauens und kostet 5,00 € – wohlgemerkt: ein neues Buch! Mein erster Gedanke nach verbalen und brachialen Angriffen auf Politikerinnen und Politiker bzw. politisch ehrenamtlich Engagierte vor Ort ist: Da hat sich der Kölner Journalist und Schriftsteller Jürgen Wiebicke an ein Mutmach-Buch oder eher an einen Aufruf zum Widerstand gewagt. Mir ist Wiebicke aus der Programmleitung der phil.cologne vertraut, damit steht für mich fest, dass es sich bei seinen Gedanken weder um eine Hau-Ruck-Mentalität noch um eine Hau-drauf- oder eine Hau-zurück- Haltung gehen wird.
Gesellschaftskritische, eine Gesellschaft nach vorn befördernde und eine Gesellschaft „bildende“ (man beachte die Doppeldeutigkeit) Lektüre auf 112 Seiten für 5,00 € – in jeder Hinsicht ein Schnäppchen.
Die – wohlgemerkt auf mich hinzielende – Ernüchterung liegt im ersten Satz des Buchs. „Am Abend nach der Trump-Wahl fiel der Entschluss für dieses Buch.“[1] Es geht in diesem Buch – zumindest nicht vordergründig – um den gegnwärtig rauen Ton in Politik und Gesellschaft, um gegenwärtige Skandale, Angriffe, Pöbeleien, gesellschaftlichen Umgang mit denen, die Politik verantworten oder den gegenwärtigen stillen, aber effektiven Rückzug aus der politischen bzw. gesellschaftlichen Mitverantwortung, über ein gegenwärtig scheinbar zerstörtes Verhältnis zwischen „denen“ und „uns“, wo immer man sich dabei ansiedeln mag. Wiebicke setzt sechs Jahre früher an, beim Schock, den die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten auch in Europa und darin in Deutschland auslöste – gefolgt von gerne übernommenen Verschwörungstheorien, von selbstreferentiellen Deutungen wie einer „Lügenpresse“ und von den wildesten Theorien, die mit der Pandemie, ihren Ursachen, Auswirkungen und Folgen zu tun haben. Es ist ein ganzer Sack voller Phänomene, die die Staats- und die Lebensform der Demokratie bedroht. Das Elend ist weitergegangen, ins Heute hinein!
Ich bin hier dem „variatio delectat“ auf den Leim gegangen. Den ersten Schock, Trump als US-Präsident, habe ich irgendwie überwunden. Es folgte als zweiter Schock die Pandemie und damit einiges an Erwartungen, aber auch die Erfahrung ihrer Auswirkungen und was dies für die Demokratie (wie gesagt: als Staats- und als Lebensform) bedeutet. Und jetzt der dritte Schock: die große Misere des Umgangs im gesamtgesellschaftlichen Feld, gegenüber (leider z.T. aber auch durch) politisch engagierten Menschen.
Jetzt – besser erst jetzt, nach den Fortsetzungen und Wiederholungen – lag das Büchlein für mich am rechten Platz (nicht politisch gemeint, ehrlich!). Wiebicke gelingt ein Vademecum für diejenigen, die es satthaben, einfach aus dem Sessel alles hinzunehmen. Für diejenigen, die einen Aufbruch, einen Widerstand, ein „anders“ wollen, und wenn es noch so klein ist. Er formuliert seine „Zehn Regeln für Demokratie-Retter“ und stellt die Demokratie so deutlich als „vom Aussterben bedroht“ dar. Die Botschaft: Die Demokratie wird aussterben, weil sie selbst ohne die Hilfe und die Teilnahme eines jeden nicht leben oder überleben kann. Und wir werden als Demokraten aussterben, weil die Demokratie nicht Leben oder Überleben anderer ohne den Einsatz eines bzw. einer jeden garantieren kann.
Das ist nicht Wiebickes letztes Wort. Enden soll diese Einleitung mit seinen letzten Sätzen: „Endlich wieder in Bewegung zu kommen. Der Anfang fällt schwer. Aber unterwegs werden wir merken, was uns gefehlt hat. Und wir werden uns umschauen und erleichtert feststellen: Wir sind sehr viele!“[2]
Die „Zehn Regeln“ entsprechen den Kapiteln des Buches, darunter sind jeweils einige Zitate notiert, die der entsprechenden Regeln zugehörig sind. Alle Zitate sind entnommen aus: Wiebicke, Jürgen (2017): Zehn Regeln für Demokratie-Retter, Köln. Die Ziffern in der Klammer am Ende des Zitats verweisen auf die Seitenzahl.
Die Zitate
Vorwort
„Mit Wählerverachtung, mit Arroganz von oben, wird sich diese Demokratie-Krise mit Sicherheit nicht überstehen lassen, deren Wurzel ja gerade in fehlender Anerkennung zu suchen ist, in einer gravierenden gesellschaftlichen Kommunikationsstörung.“ (12)
„Denn die (erg.: Demokratie) lebt ganz wesentlich von der Idee, dass man immer einen neuen Anfang machen kann. Hannah Ahrendt hat dafür das schöne Wort ‚Gebürtlichkeit‘ erfunden. Selbst nach dem schlimmsten moralischen Zusammenbruch, das war ihr Mut machender Gedanke, gibt es eine nächste Gelegenheit, es besser zu machen. Heute verstehe ich das so: Wir müssen aufhören, diese Gesellschaft wie ein Haus zu betrachten, das längst fertig gebaut ist und in dem nur hin und wieder ein paar Möbelstücke gerückt werden. Ein Haus, in dem drinnen gezittert wird, obwohl alles so bleiben kann, wie es ist, weil von draußen die Kanonenschläge näher rücken. Demokratie ist immer unfertig, man kann und muss weiter an ihr bauen.“ (12f)
„Dazu gehört freilich die Zuversicht, dass das eigene Handeln eine Wirkung erzielt, dass sich versteinerte Verhältnisse verflüssigen lassen, wenn man sich Mitstreiter sucht. Diese Zuversicht verloren zu haben, halte ich für die eigentliche politische Krankheit unserer Zeit.“ (13)
„Wir haben uns so lange Geschichten von vermeintlicher Alternativlosigkeit erzählen lassen, bis wir irgendwann angefangen haben, selbst daran zu glauben. Wer aber meint, nichts tun zu können, nimmt sich vom Spielfeld und überlässt es anderen.“ (13f)
„Vermutlich werden wir sehr klein anfangen müssen, um die großartige Erfahrung der Selbstwirksamkeit wieder neu zu entdecken. Also weg mit der Idee vom großen Wurf! Die Dinge einfach denken, diesen Versuch will ich hier unternehmen.“ (14)
„Wenn es aber nicht mehr die starken Überzeugungen sind, die uns vom Sofa holen werden, was ist es dann, was auch die Verzagten mitreißen könnte, beim Projekt Demokratie-Rettung dabei zu sein? Mein Vorschlag wäre: Haltung statt Gesinnung. Mit Haltung meine ich, dass man es als selbstverständlich betrachtet, ein engagiertes Leben zu führen. Dass man irgendwann die Frage gar nicht mehr versteht, warum man sich engagiert. Denn wer nur um sein eigenes Wohlergehen kreist, dem fehlt eine Farbe im Leben.“ (17)
Erste Regel: Liebe Deine Stadt
„Man kriegt gar nicht mehr mit, warum andere anders denken. Identitätspolitik bedeutet häufig auch, dass ich nicht nur mich selbst, sondern auch den anderen, der meinen Lebensstil nicht teilt, auf ein einziges Persönlichkeitsmerkmal reduziere. Dann ist er zuallererst schwul, Moslem oder ein Ungläubiger, obwohl er vielleicht auch Fußballfan, Sushi-Liebhaber, Balkongärtner ist und die vielen anderen Facetten seiner Persönlichkeit gar nicht alle aufgezählt werden können.“ (24f)
„Für die Demokratie ist radikale Identitätspolitik eine Bedrohung. Demokratie muss den Dissens organisieren und verteidigen. Sie muss nicht nur dafür sorgen, dass sich Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebensstilen nicht an die Gurgel gehen. Ein gleichgültiges Nebeneinander , wie wir es leider in den bereits existierenden Parallelgesellschaften haben, reicht nicht. Demokratie muss Erfahrungsräume schaffen, in denen wir uns in unserer Verschiedenheit begegnen und merken, dass man diese Räume weiter verschönern kann. Für diese Erfahrung ist die Stadt ideal.“ (25)
„Liebe deine Stadt! Das könnte ein Angebot zur Identifikation sein, das mit den Angeboten der radikalen Vereinfachung auf dem Marktplatz der Identitäten konkurrieren kann. […] ‚Stadtluft macht frei‘, hieß es schon im Mittelalter. In der Stadt können Fromme vom Glauben abfallen und Atheisten sich taufen lassen, ohne von ihrer Umgebung geächtet zu werden. Die Stadt ist der Raum, in dem wir erfahren, dass wir die Dinge beeinflussen können.“ (28f)
Zweite Regel: Mache Dir die Welt zum Dorf
„Ich behaupte nicht, dass, wer Politik im Nahbereich betreibt, sich keinen Kopf mehr machen muss um Niedriglöhne in Deutschland, die Rettung der europäischen Idee und globale Gerechtigkeit. Das wäre tatsächlich ein bornierter Lokalpatriotismus. Ich behaupte nur, dass wir heute verstärkt auf Geschichten des Gelingens angewiesen sind, um Mut zu mehr zu fassen. Und diese Geschichten lassen sich nun mal im eigenen Umfeld leichter erleben.“ (34)
„Überall herrscht das Streben nach dem größtmöglichen Nutzen in möglichst kurzer Zeit. Um so wichtiger ist es, Gelegenheiten zu schaffen, bei denen wir uns begegnen, nicht weil wir es müssen, sondern weil wir es wollen. Erst da, wo Menschen zwanglos aufeinandertreffen, sind sie frei.“ (37)
„Die Demokratie ist darauf angewiesen, dass möglichst viele ein Wissen davon haben, wie man zusammenfindet, um sich über öffentliche Angelegenheiten auszutauschen. Dieses Wissen ist derzeit fast verschüttet. Keiner kennt mehr den Ort, an dem dies geschehen könnte, die Polis hat keine Agora mehr, keinen Marktplatz des öffentlichen Gesprächs und Meinungsstreits. Die Talkshow und die sogenannten sozialen Medien sind nur ein schlechtes Surrogat. Parteienkrise heißt eben auch, dass es keine wirklich funktionierende, gesellschaftlich breit verankerte Versammlungsdemokratie mehr gibt.“ (37f)
Dritte Regel: Bleibe gelassen im Umgang mit Demokratieverächtern
„Eine niederträchtige Meinung darf und muss man auf zivilisierte Weise verachten und dies auch öffentlich bekunden. Zum Schweigen bringen darf man sie nicht! Demonstrieren also unbedingt, Blockieren auf keinen Fall. Wir müssen gemeinsam lernen, was sicher nicht einfach ist, Empörung und Gelassenheit in ein gutes Gleichgewicht zu bringen. Sonst nimmt die Idee der Demokratie Schaden.“ (47)
„Wenn also Provokation das am häufigsten genutzte Instrument der neuen Rechte ist, dann muss mindestens eine ordentliche Portion Gelassenheit in der fälligen Gegenreaktion enthalten ein, damit sie nicht unklug ausfällt. Was aber ist das Schlimmste, das man einem Provokateur antun kann? Man lädt ihn ein. Man bittet ihn darzulegen, was er außer er Provokation noch zu bieten hat. In einem solchen Moment wird die Misere der Rechten unübersehbar.“ (50)
Vierte Regel: Fürchte dich nicht vor rechten Schein-Riesen
„Was habt ihr zu bieten, muss die Leitfrage einer selbstbewussten Auseinandersetzung mit der neuen Rechten sein. Das setzt freilich die Bereitschaft voraus, mit ihnen zu reden. Oder genauer: ihnen erst einmal zuzuhören, bevor man selbst möglichst besonnen darauf reagiert. Wer dies tut, wird bald feststellen, dass es die eine geschlossene Rechte gar nicht gibt, auch nicht in der AfD. Sie besteht aus lauter Grüppchen, die lose verbunden sind, sich gern auch wechselseitig voneinander distanzieren und fleißig intrigieren, vor allem aber besteht sie aus einer Schar von Solisten mit schillernden Biografien.“ (53f)
„Nach dem Ende der Diskussion vertraute Tillschneider (i.e. rumäniendeutscher AfD-Politiker im Landtag von Sachsen-Anhalt, H.K.) mir enttäuscht an, er habe mit einem Talkshow-Format gerechnet, in dem es viel emotionaler zugeht. Da ist mir wieder mal klar geworden, wie sehr die AfD von der polarisierenden Dramaturgie der Talkshows profitiert. Sie kann dort kalkuliert provozieren, die anderen in der Runde damit zu Gefühlsausbrüchen verleiten und anschließend, weil alle gegen einen durcheinanderreden, bei einem beträchtlichen Teil des Publikums den Mitleidsbonus einheimsen. Ruhige Diskussionen in der Sache sind für die AfD dagegen gefährlich. Transparenz über ihre Ziele auch, sonst würde sie nicht die Presse von Parteitagen aussperren. Sie braucht die Polarisierung, sie braucht die starken Emotionen, sie fürchtet mit Recht die Kraft des guten Arguments.“ (55)
Fünfte Regel: Verliere nicht den Kontakt zu Menschen, die nicht deiner Meinung sind
„Wie kann ich denn ein politischer Mensch werden, wenn ich doch so wenige starke Überzeugungen habe? So manche von früher sind ja längst verdampft. Wie soll ich mich denn einbringen, wenn mein dominierendes Gefühl ist, mich nicht mehr auszukennen in dieser Welt, die aus den Fugen geraten zu sein scheint?“ (63)
„Wir sollen uns im ‚schwachen Denken‘ üben. Das ist ein Begriff des italienischen Philosophen Gianni Vattimo, der anfangs vielleicht merkwürdig klingt. Vattimo wollte mit ihm die Konsequenz daraus ziehen, dass die Zeit der großen Erzählungen vorbei ist. Fünfhundert Jahre nach Thomas Morus‘ ‚Utopia‘ mögen wir zwar noch den nostalgischen Wunsch nach einem großen utopischen Wurf haben, aber die Erfahrung des Zerschellens von großen Erzählungen ist für uns postmoderne Menschen die intensivere. Auch wenn sich die Prophezeiung vom Ende der Geschichte als falsch erwiesen hat: Das starke Denken gehört der Vergangenheit an. Wer will heute noch Kommunist sein und vom neuen Menschen träumen? Die starken Denker von heute, die Identitären und Islamisten, sind ja gerade das Problem. Wer sein eigenes Denken als schwach begreift, weiß um die Vorläufigkeit der eigenen Position, ist bereit, den eigenen Standpunkt zu räumen, wenn sich eine andere Meinung als die tragfähigere herausgestellt hat.“ (66)
„Schwaches Denken heißt auch, dass ich um meine Manipulierbarkeit weiß und daher immer bestrebt bin, die eigene Blase zu verlassen. Dass ich meine Skepsis nicht verliere, wenn mich Nachrichten von Gleichgesinnten erreichen, dass ich meine Neugierde auf das nicht verliere, was meinem Denken widerspricht. Die Demokratie hätte sich niemals entwickeln können ohne eine funktionierende Öffentlichkeit, in der debattiert und zivilisiert gestritten wird. Diese Öffentlichkeit ist zurzeit in ihrer Existenz bedroht. Durch Verrohung im Netz, durch diffamierende Lügenpresse-Vorwürfe, durch massenhaften Rückzug in die eigene Blase. In den Worten Kants: durch selbstverschuldete Unmündigkeit.“ (68f)
Sechste Regel: Packe die Probleme nicht in Watte
„In der Demokratie gibt es keine Situationen von Alternativlosigkeit. Sie ist existenziell auf das Grundvertrauen ihrer Bürger angewiesen, dass man die Probleme immer auch anders lösen kann. Man kann immer einen neuen Anfang machen. Diese Zuversicht ist die Bedingung jeden Engagements.“ (75)
Siebte Regel: Verabschiede dich von der Attitüde, eigentlich gegen diese Gesellschaft zu sein.
„Wer beklagt, man könne politisch doch sowieso nichts machen, wirkt sofort ansteckend auf andere. Umgekehrt gilt das Gleiche. Wer Geschichten des Gelingens erzählt, stiftet andere an.“ (83)
„Realistisch zu sehen, wo der eigene Platz in der Gesellschaft ist, sollte also auch heißen, ein Gefühl für die eigene Verantwortung zu entwickeln. Wir Babyboomer hätten allen Anlass, etwas von dem zurückzugeben, was wir mal bekommen haben. Und da ist unsere Generationenbilanz bislang ziemlich mau. Von denen, die heute zwischen 35 und 50 sind und eigentlich längst politisch prägend für dieses Land sein müssten, ganz zu schweigen. Wir haben lange Zeit bequem auf der Tribüne gesessen und daran mitgewirkt, dass aus unserer Demokratie eine Talkshow-Demokratie geworden ist. Wir haben uns nicht nur bieten lassen, dass Politik auf diese Weise zu einer Form der Unterhaltung verkümmerte. Wir haben uns sogar daran vergnügt und diejenigen verachtet, die bereit waren, in diese Arenen zu ziehen. Aber jetzt, wo sich endlich quer durch die Gesellschaft ein Gefühl dafür einstellt, wie gefährdet Demokratie als Lebensform ist, weil der Wind von rechts rauer wird und weil sie ihrem Wesen nach sowieso prekär und unfertig ist, merken wir, was wir an ihr haben. Denn bei allem, was an dieser Gesellschaft zu kritisieren ist: Eine bessere gab es historisch noch nicht.“ (88)
„Wir haben eine Oberschicht im Land, die mehrheitlich im Nirgendwo lebt. Auf sie werden wir nicht zählen können bei dem, was jetzt zu tun ist.“ (89)
Achte Regel: Warte nicht auf den großen Wurf
„Wir müssen die politische Mitgestaltung dieser Gesellschaft als unser Projekt betrachten. Der Anfang dazu ist längst gemacht, nur fehlt bislang der zweite Schritt. Nämlich die politische Konsequenz aus der riesigen Bürgerbewegung zu ziehen, die im Jahr 2015 durch alle Schichten entstanden ist und die ihr Thema in der Hilfe für Flüchtlinge gefunden hat. Wie gesagt, es hätte auch ein anderes Thema sein können, entscheidend ist der bereits vorhandene Impuls, nach Jahren der Agonie am Gelingen des Gemeinwesens wieder mitwirken zu wollen.“ (95f)
„Mehr Demokratie wagen heißt heute, ein kluges Miteinander zwischen repräsentativer Politik und Bürgerengagement von unten zu organisieren. Dazu müssen sich aber nicht nur Politiker ändern, sondern wir alle.“ (97f)
Neunte Regel: Wehre dich, wenn von ‚den‘ Politikern die Rede ist
„Eine Demokratie ohne Demokraten funktioniert bekanntlich nicht. Wenn wir uns nur noch als Konsumenten verstehen und nicht mehr als Citoyens, untergraben wir mit dieser Haltung unwillentlich die Substanz der Demokratie. Verantwortung wird komplett delegiert, sodass alle Macht den Profis gehört.“ (103)
„Politik schien nun allein Angelegenheit von ‚den‘ Politikern zu sein, über deren Unfähigkeit man sich am Freitagabend in der Heute-Show kaputtlachen darf.“ (103)
„Wir brauchen […] Schulen der Demokratie, in denen Schüler früh lernen, zwischen Meinen und Wissen zu unterscheiden. Dass es nicht genügt, eine starke Meinung zu haben, sondern dass man sie auch argumentativ begründen muss. In denen sie Bekanntschaft damit machen, dass es unterschiedliche Positionen zu Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gibt und dass man lernen muss, abweichende Meinungen auszuhalten. Deutschland könnte von Brasilien lernen. Dort hat man vor einigen Jahren Philosophie zum Pflichtfach gemacht. Weil das Fach notwendig sei für die Ausübung der bürgerlichen Rechte. Philosophie für alle – eine schöne, konkrete Utopie.“ (105)
Zehnte Regel: Verbinde Gelassenheit mit Leidenschaft
„Wie kann ich aufmerksam bleiben für das, was derzeit in der Welt geschieht, ohne an ihr irre zu werden? Wie mich in Bewegung setzen, ohne beim ersten Windhauch gleich wieder aufzugeben? Es ist je ein Kunststück, nicht in den Strudel der Angst hineinzugeraten, der schon so viele erfasst hat. […] Wissen, dass man als Einzelner wenig machen kann, aber dennoch vieles probieren. Anderen Mut machen, obwohl man selbst gerade schwarzsieht. Probleme nicht beschwichtigen, aber auch nicht Alarmist zu sein. Sonst wird man selbst zum Angst-Verstärker.“ (109)
„Wer Haltung zeigt, verwandelt Angst in Furcht. Allein diese beiden Gefühlszustände auseinanderzuhalten, könnte schon helfen. Die Angst ist diffus, sie sieht überall Gefahren lauern, weiß aber nicht genau, wo. Angst ist eine Erfahrung von Ohnmacht. Immer ist mit dem Schlimmsten zu rechnen, nirgendwo tut sich ein Ausweg auf. Die Furcht dagegen ist begründet, sie richtet sich auf Gefahren, die konkret benannt werden können. Furcht ist rational: Wer sich fürchtet, kennt das Problem und kann es bearbeiten. Die Angst verleitet uns dagegen, irrational zu handeln. Angst ist deshalb der kostbare Rohstoff für Demagogen. Verschwörungstheoretiker sind von Ängsten zerfressen.“ (110)
„Nur der Blick auf die eigenen Talente gibt die passende Antwort auf die Frage, wo der richtige Platz zu finden ist.“ (111)
„Es wird im Alltag an Gelegenheiten, Haltung zu zeigen, nicht mangeln. Vielleicht hilft uns das, neu zu begreifen, was wir zwischenzeitlich fast vergessen hatten: dass es um die Verteidigung einer Lebensform geht, nicht bloß darum, wer uns wie regiert.“ (111f)
„Es ist nicht einfach, das Spannungsverhältnis zwischen Gelassenheit und Leidenschaft auszubalancieren. Jede Tugend für sich allein hat ihre Tücke, sie hat das Potential, in Untugend umzuschlagen. Wer zu gelassen ist, dem fehlt die Bereitschaft, sich zu empören, wenn es darauf ankommt. Der allzu Gelassene wird phlegmatisch, bringt sich in Distanz zur Welt, nimmt nicht mehr teil. Deshalb braucht die Tugend der Gelassenheit die Leidenschaft als Schwester an ihrer Seite. Aber auch die darf nicht für sich allein stehen. Denn Leidenschaften können auch politisch blind machen. Ohne die nötige Leidenschaft würden wir uns nicht in Bewegung setzen, aber nur mit ihr allein verrennen wir uns, sind schon mitten im Kampf, bevor wir den Gegner genauer kennengelernt haben. Tugenden muss man trainieren, das wusste schon Aristoteles. Man hat sie nicht einfach, sondern man muss sie beständig einüben. Unser Demokratie-Muskel ist durch lange Passivität derzeit ziemlich untrainiert. Jetzt zwingen uns die Verhältnisse dazu, endlich wieder in Bewegung zu kommen. Der Anfang fällt schwer. Aber unterwegs werden wir merken, was uns gefehlt hat. Und wir werden uns umschauen und erleichtert feststellen: Wir sind sehr viele!“ (112)
Köln, 01.06.2024
Harald Klein
[1] Wiebicke, Jürgen (2017): Zehn Regeln für Demokratie-Retter, Köln, 11.
[2] a.a.O., 112.