Wer die Welt im Rücken hat…
Der 1975 in Bonn geborene Schriftsteller, Dramaturg und Übersetzer Thomas Melle legt in „Die Welt im Rücken“ die Chronik einer manisch-depressiven Erkrankung vor, in Worten des Verlages „erzählerisch funkelnd, autobiographisch radikal.“
Der Umschlag zeigt vorn einen Seiltänzer, das Seil geht von links unten nach rechts oben, der Seiltänzer hält die Balance. Über ihm auf dem Foto in grüner Schrift der Name (des Verfassers? des Seiltänzers?): Thomas Melle. Unter bzw. hinter ihm der Titel: Die Welt im Rücken- wobei das Seil am Foto jeweils die Worte „Die Welt“ und in zweiter Zeile „im Rücken“ durchschneidet.
In einer Rezension habe ich das Buch an anderer Stelle bereits inhaltlich beschrieben. An dieser Stelle verweise ich auf die Zitate aus dem Buch und auf das Bild: Die Welt im Rücken haben.
Melle hat drei monatelange Schübe der Bipolaren Störung vom Typ 1, der heftigsten Form einer manisch-depressiven Erkrankung (so der eher veraltete Begriff) hinter sich, er ist aus der Welt gefallen, hat sich aus ihr herauskatapultiert. „Ich bin einer derer, die die Jahreskarte gezogen haben, Wenn ich abrutsche oder hochfliege, dann für eine lange Zeit. Dann bin ich nicht mehr zu halten, ob im Flug oder im Fall“ – so seine Selbstbeschreibung.
Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Wer die Welt im Rücken hat, hat entweder sich von ihr abgewendet – oder die Welt hat sich von ihm abgewendet, hat ihn stehen gelassen. Der Gang auf dem Seil ist eben keine Rückkehr, keine Umkehr, sondern der Gang in Neues, in Fremdes, auf etwas zu, das allemal Halt und Spannung bietet.
Menschen mit bipolaren Störungen „über-ziehen“ das Maß des „Normalen“, besser vielleicht: sie werden „über-zogen“. Aber gerade dadurch stellen sie die Frage (oder stellen sie in Frage), was denn „das Normale“ sei. Um dieser Frage nachzugehen, sind hier einige Zitate aus Melles Bericht abgedruckt. Zitiert wird aus Hellte, Thomas (2016): Die Welt im Rücken, 5. Aufl., Berlin. Die Ziffern in der Klammer am Ende verweisen auf die Seitenzahlen.
Die Zitate
„Hier die Normalen, selbst von Neurosen, Phobien und echten Verrücktheiten durchzogen, aber alle liebenswert, als mit einem Augenzwinkern integrierbar, während dort die Verrückten mit ihren Unverständlichkeiten hadern, schlichtweg nicht mehr einzuordnen sind, nicht zu ironisieren oder durch Humor kommensurabel zu machen. Das ist das Fatum der Irren: ihre Unvergleichbarkeit, der Verlust jeglichen Bezugs zum Leben der restlichen Gesellschaft.“ (15f)
„Ich bin zu einer Gestalt aus Gerüchten und Geschichten geworden. Jeder weiß etwas. Sie haben es mitbekommen, sie geben wahre oder falsche Details weiter, und wer noch nichts gehört hat, dem wird es hinter vorgehaltener Hand kurz nachgereicht.“ (16)
„‚Die Leute verhalten sich seltsam‘, stammelte ich. ‚Natürlich verhalten sie sich seltsam. Weil du dich seltsam verhältst‘‘“ (24)
„Es beginnt also mit einem Gefühlsüberschuss. Ein Schock durchfährt die Nerven, Kaskaden von ungerichteten Emotionen schießen hinab und schwappen wieder hoch. Die Empfindung völliger Haltlosigkeit stellt sich ein. Unter der Haut wird es heiß. Der Rücken brennt, die Stirn ist taub, der Kopf leer und gleichzeitig übervoll: Neuronensschwemme. Die Denkformen sind von einem Moment auf den anderen abhanden gekommen, formieren sich neu und verselbständigen sich, rauschen weg von der bisherigen Mitte. Das Hirn stürzt herrenlos davon.“ (42f)
„Ständig dabei, immer wieder im Versuch, mich einzufangen, abzudämpfen, zurückzukehren: die Freunde. Und tatsächlich brachte es etwas, wenn einer der vertrauten Menschen neben mir stand. Meine Thesen wurde durch ihr Nachfragen abgefedert oder verloren durch Wiederholenmüssen einen Teil ihrer Drastik; sie wurden schaler und mussten nicht mit Euch hervorgeprescht werden, jedenfalls nicht in den nächsten fünf Minuten. Zudem wurde ich von ihnen abgeschirmt vom Rest der Welt. Ich konnte meinen Ballast vorübergehend loswerden, ohne dass es gleich zum sozialen Desaster ausartete. Kurz war es gut.“ (100)
„Man kann sich nämlich kaum ein schambesetzteres Leben vorstellen als das eines manisch-depressiven Menschen. Das liegt daran, dass ein solcher Mensch drei Leben führt, die einander ausschließen und bekriegen und beschämen: das Leben des Depressiven, das Leben des Manischen und das Leben des zwischenzeitlich Geheilten.“ (111)
„Wenn Sie manisch-depressiv sind, hat Ihr Leben keine Kontinuität mehr. Was sich vorher als mehr oder weniger durchgängige Geschichte erzählte, zerfällt rückblickend zu ungebundenen Flächen und Fragmenten. Die Krankheit hat Ihre Vergangenheit zerschossen, und in noch stärkerem Maße bedroht sie Ihre Zukunft.“ (115)
„Die Vereinsamung beginnt, ohne dass er der Vereinsamende mitkriegt, denn er hat ja so viel zu tun, er geht ständig unter die Leute, fremde Leute, wirft sich in die Szenen und sorgt für groteske Situationen. Die freundliche Konfrontation ist der Verhaltensmodus der Stunde, es brodelt in einem, aber die Fassade wird halbwegs gewahrt.“ (150)
„Immer wieder Freunde, Beziehungen und nahestehende Menschen zu verlieren, und zwar in einem Ausmaß, das die gängigen Verwerfungen und Entfremdungen des Lebens weit übertrifft, ist eigentlich unerträglich. Deshalb wohl werden sie hier dauernd heraufbeschworen, ‚die Freunde‘, als Leerstellen zumeist, als verlassene Stühle, kleine Illusionen aus der Einsamkeit heraus.“ (161)
„Um mich herum wurden bürgerliche Existenzen zusammengelötet. Ich glaube, das nennt man Ehe. Darin gab es Kinder und Struktur und Zukunft. Bei mir gab es nicht einmal eine Gegenwart.“ (215)
„Innen war die Hölle los. Und außen war kaum jemand übrig.“ (279)
„Alles ist beschädigt. Das Leben, die Werke.“ (297)
„Natürlich gibt es auch eine andere, ‚bessere‘ Seite der Krankheit. Man könne von seiner eigenen Tiefendimension sprechen, die dem Leben, Denken und Fühlen hinzufügt, von einem existenziellen Hallraum, der ohne diese Erfahrungen vielleicht verschlossen geblieben wäre. Indem ich sie überschritt, habe ich die Grenzen meiner Gefühle und Gedanken ausgelotet, kam mit Randgebieten und Jenseitsbereichen des Menschlichen in Kontakt, deren Existenz und Beschaffenheit ich vorher höchstens erahnen konnte. Mit meinen Abgründen bin ich vertraut, mit meinen Bösartigkeiten bekannt.“ (306)
„Wo war ich hier gelandet? Was war noch übrig?“ (321)
„Ich gesundete, aber ich blieb krank.“ (335)
„Meine Krankheit hat mir meine Heimat genommen. Jetzt ist meine Krankheit meine Heimat.“ (342)
„Hamburg, Schulterblatt: Ich muss die Orte, die ich manisch verbrannt habe, wieder aufsuchen, um sie zu bannen, zu neutralisieren . Der Saal II etwa, dort ein Kellner namens Hagen. Aber auch andere Kneipen, Bars und Restaurants, an denen ich vorbei gehe, vor denen ich stehen bleibe. Mit einem Blick sind sie entfleucht, jedenfalls für ein paar Tage. Bei Menschen ist das nicht so einfach.“ (345)
„Die Welt im Rücken, werde ich nicht aufgeben. Die Hoffnung heißt: nie wieder manisch werden. Aber es mag mich noch einmal umhauen und hinaustragen, dann als quallig knochenloses Etwas heranspülen. Ich werde mir die Knochen schon wieder erarbeiten. Sollte ich eine weitere Manie haben, möge mir jemand dieses Buch in die Handrücken. Sollte ich wieder dem Wahnverfallen, werde ich es als Schicksal hinnehmen. Ich meinte schon nach der zweiten Manie, eine dritte würde ich nicht überlegen. Habe ich aber. Würde ich wieder. Ich mag mich wieder umbringen wollen, irgendwann. Dann werde ich dennoch weiterleben. Dann werden diese Zeilen wie ein Gebet sein.“ (348 – Schlusszeilen des Buches)
Köln, 21.06.2023
Harald Klein