Verw:ortet 07/2024: Daniel Schreiber – Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen

  • Worte, auf denen ich stehe
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Um was es geht

Meine erste Begegnung mit dem Werk des in Berlin lebenden Schriftstellers Daniel Schreiber (*1977) hatte ich 2022 bei einer der beiden mir lieben Kölner Veranstaltungen, ich weiß nicht, war es die lit.cologne oder die phil.cologne. Schreiber stellte damals sein Buch „Allein“ (erschienen 2021) vor und sprach über sein eigenes Erleben, eben allein zu leben, immer wieder, nach zerbrochenen oder aufgegebenen Partnerschaften, in alten und in neuen Zusammenhängen oder Orten. Seine Sprache hat mich sehr berührt, und ich war glücklich, diese leise und doch so deutliche Sprache auch im Buch gefunden zu haben. Seine Weise, Formen des Zusammenseins auch als Alleinlebender zu beschreiben, aber auch anzufragen, traf mich persönlich. Sätze wie „Das Geheimnis der Freundschaft liegt darin, dass sie eine so vielfältige Beziehungsform ist, eine Beziehungsform, die so viel umfasst.“[1] oder der Begriff der „uneindeutigen Verluste“[2], die das Leben allein in der Fantasie belasten können, haben mir den Autor sehr lieb werden lassen. Die Unterscheidung zwischen Einsamkeit und Alleinsein ist hinreichend bekannt, schöner beschrieben als in Schreibers „Allein“ habe ich sie noch nicht gefunden.

Wie „Allein“ ist bereits 2017 sein literarischer Essay „Zuhause“ erschienen, der Titel trägt den Zusatz „Auf der Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen.“ Diese Orte sind Schreibers Orte, Berlin, London, New York und die mecklenburgische Seenplatte – aber sind sie auch sein Zuhause?

Schreiber stellt zu Beginn die Frage, woher diese Sehnsucht nach einem Zuhause käme, und stellt diese Frage in einen großen geschichtlichen Zusammenhang von gesellschaftlichen Vertreibungen, in den Rahmen der Erzählungen der älteren Generationen, umfasst vom Gefühl der erfahrenen Sicherheit und des Zu-sich-Kommens. Meine eigene Frage, die ich aus Studienzeiten kenne, bleibt mir unbeantwortet: Ist „Zuhause“ etwas, das ich als Ort, mit einem „Wo?“ anfrage, oder ist es eine Person, zu der die Frage „Bei wem?“ angemessen ist. Diese Frage schwebt für mich über dem gesamten Text, genauso die Frage, wie es gelingen kann, bei mir selbst zu Hause zu sein – und ob ich, mir selbst und in mir einen Ort, eine Beziehung schaffen kann, an dem und in der ich leben will.

Es ist Schreibers Sprache, es ist die Tatsache, dass er die Lesenden mitnimmt in seine eigene Biographie und auf diese die Biographie der Lesenden anfragt, wie es um deren „Zuhause“ steht, das dieses Buch von Daniel Schreiben so lesenswert macht. Alle Zitate sind entnommen aus Schreiber, Daniel (2018): Zuhause. Die Suche nach dem Ort, wo wir leben wollen, Berlin. Die Ziffern in der Klammer am Ende des Zitats verweisen auf die Seitenzahl.

» Das Bedürfnis, sich an einen Ort und an seine Menschen zu binden und ihn zu einem Teil seiner selbst werden zu lassen, gehört so sehr zu den tiefsten Schichten unseres Menschseins, dass seine Erfüllung , wie immer diese auch aussehen mag, für die meisten von uns unabdingbar ist, wenn wir ein gelungenes Leben führen wollen. « (128)
Schreiber, Daniel (2018): Zuhause. Die suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen, Berlin, 128.

Die Zitate

„Das Bedürfnis nach einem Ort der Sicherheit empfand ich in dieser Zeit als nahezu überwältigend. Es war ein essenzieller Wunsch, der sich damals seinen Weg bahnte, ein Wunsch, dem ich lange wenig Raum zugestanden hatte und der viel mit der inneren Ruhelosigkeit zu tun hatte, von der mein Leben in den vorangegangenen Jahren bestimmt gewesen war. Ein Wunsch, der sich in der Frage kristallisiere, wie und wo ich eigentlich leben wollte.“ (10)

„Warum ist es überhaupt wichtig, ein Zuhause zu haben? Und was heißt es eigentlich, zu Hause zu sein? Das Gefühl des Zusammenseins ist eine paradoxe Emotion. Es gehört so grundsätzlich zu unserem Leben, dass wir kaum je darüber nachdenken – es sei denn, wir sind dazu gezwungen. Es ist an einen festen Ort gebunden, manchmal auch an mehrere, aber zugleich ist es weit mehr als nur ein Ort. Das, was ein Zuhause‘ ausmacht, evoziert so viele Bilder, Erinnerungen und Erwartungen wie wenig anderes, dennoch lässt es sich schwer benennen.“ (11)

„Vielleicht ist das der schönste und revolutionärste Aspekt des Veränderungsprozesses, dem unsere Vorstellungen von Zuhause unterworfen sind: Dass es heute für so viel mehr Menschen als früher möglich ist, Gemeinschaften zu finden, in denen sie respektiert werden und sich aufgehoben fühlen, Gemeinschaften, die in etwa dem entsprechen, was Hannah Arendt einmal in Anlehnung an die aristotelische Philosophie ‚Polis‘ nannte, Gemeinschaften also, in denen Menschen nicht mit dem Ziel einer gemeinsamen Identität handeln, sondern dem anderen Raum für sein Anderssein geben.“ (13)

„… dass wir uns in einem lebenslangen Prozess suchen und selbst aufbauen müssen: gleichermaßen ein realer wie ein innerer, ein spiritueller und nicht ein sozialer Ort, an dem wir uns aus Gründen, die uns nicht einmal bewusst sein müssen, niederlassen.“ (14)

„In der Regel gibt es Heimat nur dann, wenn man glaubt, sie verloren zu haben.“ (33)

„Kein Flüchtender bleibt der Mensch, der er gewesen war, als er sein Zuhause verließ.“ (34)

„Es ist kein Zufall, dass ‚longing‘ und ‚belonging‘, die englischen Wörter für ‚Sehnsucht‘ und ‚Zugehörigkeit‘, miteinander verwandt sind.“ (44)

„Die deutsche Philosophin Karin Joisten […] geht davon aus, dass in uns ständig ein Konflikt zwischen einer ‚heimhaften‘ und einer ‚weghaften‘ Seite tobt, ein Konflikt zwischen dem Wunsch, zu bleiben, und dem Wunsch, fortzugehen und womöglich ein besseres Zuhause zu finden. Ein Konflikt, der häufig nicht auflösbar ist. (49)

„Wie oft müssen wir einen Weg gehen, bis sich unser Körper daran erinnert? Wie weit müssen wir gehen, bis unser Körper vergisst, woher er gekommen ist?“ (51)

„Friedrich Hölderlins Gedicht ‚Mnemosyne‘ beginnt mit drei Zeilen, die oft zitiert werden – ihrer rätselhaften Schönheit wegen und weil sie eine grundlegende Erfahrung beschreiben, die sich sonst schwer in Worte fassen lässt: ‚Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren.‘ Es kann ungeheuer heilsam sein, die Muttersprache in der Fremde ‚fast zu verlieren‘, die Sprache der Kindheit in den Hintergrund zurückzudrängen. Es ist mit einer enormen Erleichterung, einer regelrechten Linderung von Schmerzen verbunden, ‚deutungslos‘ zu werden – zumindest teilweise zu einem weißen Blatt Papier, das neu beschrieben werden kann.“ (85)

„New York erlaubte mir ein paradoxes Gefühl des Zuhauses. Es schenkt mir ein zuhauseloses Zuhause, in dem ich mich einrichtete und lange weitgehend ungestört lebte, ein zuhauseloses Zuhause, das die Zeit anzuhalten schien und mir eine Ruhepause verschaffte, in der ich mich neu kennenlernen und neu ausrichten konnte.“ (92)

„Oft heißt es, dass man seiner Herkunft nicht entfliehen kann. Ich glaube, das stimmt. Nur bedeutet das nicht, wie viele Leute denken, dass man nicht ein anderes Leben führen kann als die eigenen Eltern und Großeltern. Es bedeutet, dass man die Erinnerungen und die Erfahrungen aus der frühen Kindheit, die verschiedenen Ichs, die man einmal war, nie verlieren wird, dass sie in einem selbst immer aktiv sein werden, ob man es will oder nicht und ob es einem bewusst ist oder nicht. Es bedeutet, dass man sich diesen Facetten der eigenen Herkunft, des eigenen Ichs stellen muss, wenn man zufrieden sein möchte und die Möglichkeiten des Lebens, das man auf dieser Welt hat, ausschöpfen will. Wem also könnte ein Schwebezustand, wie jenes Gefühl des zuhauselosen Zuhauses einer war, wirklich jemals genügen?“ (93)

„Man kann lange an einem Ort wohnen, ohne wirklich dort zu leben.“ (94)

„Sich zu Hause zu fühlen ist stets auch eine Art und Weise, sich selbst zu spüren.“ (101.

„Manchmal ist man nicht in der Lage, zu erkennen, dass so etwas wie Zufriedenheit möglich ist, weil diese Zufriedenheit so klein wirkt neben dem Glück, das man sich wünscht.“ (121)

„Selbst wenn wir uns den Ort, an dem wir leben, nicht ausgesucht haben sollten: Man hat es immer auch selbst in der Hand, sich zumindest der Möglichkeit zu öffnen, diesen Ort zu einem richtigen Zuhause zu machen – indem man die Bereitschaft aufbringt, diesen Ort unvoreingenommen von all seinen Seiten kennenzulernen, und indem man sich ein Leben an diesem Ort aufbaut, vor dem man nicht mehr wegläuft, dem man sich tatsächlich stellt.“ (122)

„Es war die Erkenntnis, dass es ab einem bestimmten Zeitpunkt zum Leben gehört, die Türen zu jenen Räumen zu schließen, von denen man weiß, dass man nicht mehr zu ihnen zurückkehren wird.“ (124)

„Das Bedürfnis, sich an einen Ort und an seine Menschen zu binden und ihn zu einem Teil seiner selbst werden zu lassen, gehört so sehr zu den tiefsten Schichten unseres Menschseins, dass seine Erfüllung , wie immer diese auch aussehen mag, für die meisten von uns unabdingbar ist, wenn wir ein gelungenes Leben führen wollen.“ (128)

„Es kommt viel weniger darauf an, wo man Wurzeln schlägt, als wir oft denken. Worauf es ankommt, ist vielmehr, dassman Wurzeln schlägt.“ (129)

Köln, 01.07.2024
Harald Klein

[1] Schreiber, Daniel (2021): Allein, 6. Aufl., München, 20.

[2] vgl. a.a.O., 79f: „Dieses Konzept geht auf die Psychologie Pauline Boss zurück und beschreibt einen Verlust, bei dem unklar bleibt, was genau man verloren hat. Eine der bekanntesten und am besten erforschten Beispiele sind die Trauer um Menschen mit Demenz, deren Persönlichkeit immer mehr verschwindet, oder die Trauer um Vermisste, von denen man annehmen muss, dass sie tot sind. Uneindeutige Verluste zeichnen sich durch einen Mangel an Informationen, durch ein Paradox von Anwesenheit und Abwesenheit, ein ‚sowohl als auch‘ aus, durch eine Ambivalenz, die dafür sorgt, dass der Trauerprozess ins Stocken gerät oder gänzlich ausbleibt. Wege zu finden, mit der neuen Situation zurechtzukommen, grundlegende Entscheidungen für ein neues Leben zu treffen und neu anzufangen – all das wird durch diese Ambivalenz erschwert. Pauline Boss zufolge geht mit uneindeutigen Verlusten eine eigene Form der Traumatisierung einher.“