Verw:ortet 07/2025: Inge Jens – Hans Scholl, Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen

  • Worte, auf denen ich stehe
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Um was es geht

Mit Blick auf den 20. Juli 1944, den Tag des gescheiterten Attentats gegen Adolf Hitler, habe ich mir aus der Dokumentation der Briefe und Aufzeichnungen von Inge Jens die Briefe von Hans Scholl als Lektüre vorgenommen. Dieser Idee gehen Besuche während der Kar- und Ostertage 2025 an den Gräuelstätten der NS-Zeit und der deutschen Teilung in Berlin (Bebelplatz, Plötzensee, Haus am Wannsee, Hohenschönhausen, Gedenkstätte Berliner Mauer), aber auch Besuche, die einen guten und bis heute wirkenden Geist spüren lassen (Bonhoeffer-Haus, Gedenkstätte des Deutschen Widerstands), voraus.

Beschränkt habe ich mich innerhalb dieser Sammlung lediglich auf die Briefe von Hans Scholl (*22.09.1918, +22.02.1943). Mein erkenntnisleitendes Interesse beim Lesen war der Blick auf die Art und Weise, wie Hans Scholl Veränderungen in und vor allem um sich herum wahrnimmt, wie er seine emotionale, aber auch seine kognitive Stimmung in den Briefen und Aufzeichnungen ausdrückt, aber auch, wie er Begegnung und Beziehung als Hilfe und Stütze sucht bzw. selbst anbietet.

Ich machte mich auf die Suche nachdem, was aussagekräftig hinsichtlich des inneren Verarbeitens dessen ist, was Hans Scholl vor allem äußerlich erlebt.

Meine These beim Lesen war und bleibt, dass in den schriftlichen Zeugnissen Hans Scholls verbale Phrasen und Beobachtungen weitergegeben werden, die der inneren Gestimmtheit heutiger junger Erwachsener entsprechen. Auch sie nehmen Veränderungen in Gesellschaft und Politik wahr, die ihr Verhalten und ihr Schicksal bestimmen. Das Erleben von Krisen, die Angst vor Krieg, eine als katastrophal empfundene Ausweglosigkeit nach vielen Seiten hin kennzeichnet diese Generation – zu Recht!

Die Frage dieses Beitrages ist also: „Was geschieht mit mir, wenn ich die Worte von Hans Scholl als an mich geschrieben lese oder, falls das nicht gelingt, vom eigentlichen Adressaten vorgelesen bekäme? Worin entdecke ich mich wieder, und warum? Bleibt es beim Vergleich, oder finde ich Lösungsangebote?“

Ich will diese Frage auch  „rückwärts“ stellen, an Hans Scholl: „Woher deine Kraft, dein Wille, deine Fantasie, den inneren und äußeren Weg von einem Jungen aus der Hitlerjugend zu einem – auch aus dem Christentum heraus – motivierten Widerstand zu gehen?“

Am 12. Januar 1943, knapp vier Wochen vor seiner Hinrichtung, schreibt Hans Scholl an seinen Freund Otl Aicher: „[…] Von dem Kreis, welchen ich hier zusammengebracht habe, wirst du schon gehört haben. Du würdest Deine Freude an diesen Gesichtern haben, wenn Du sie sehen könntest. Alle Kraft, die man dort verschwendet, fließt unvermindert wieder zurück ins eigene Herz. Nur ein Schwächling verschwendet sich nicht. Der Dumme schweigt, weil er nicht reden kann, und der Phantasielose markiert den harten unbeweglichen Mann. Tugend aus Mangel nenne ich diese Art von Preußentum. Wir wollen uns von dieser Tugend lossagen. Viele Grüße, Dein Hans.“[1]

Ein mich ebenfalls sehr inspirierendes Buch von Natalie Knapp, Philosophin aus Berlin, behandelt die Frage nach Orientierung in einer unübersichtlichen Welt. Natalie Knapp ist in heutiger Sprache und auf das Heute bezogen nah an Hans Scholl. Sie schreibt im Vorwort des „Kompass neues Denken“: „Das ist die Kernthese dieses Buches, die in einem Satz zusammengefasst lautet: Wenn wir alle unsere Fähigkeiten zur Verfügung stellen und mehr Gewicht auf die Gestaltung unserer Beziehungen legen, finden wir uns in einer unübersichtlichen Welt besser zurecht.“[2] (15)

Es scheint, dass die Fähigkeiten des/der Einzelnen zum Aufbau eines Systems von Beziehungen und die Bereitschaft, gemeinsam den Pool von Fähigkeiten innerhalb dieses Systems zum Aufbau eines Besseren zur Verfügung zu stellen, bei Hans Scholl wie bei Natalie Knapp Zeiten überwindend im Focus stehen.

Die vorliegende Sammlung von Briefen und Aufzeichnungen Hans Scholls beginnt im Frühjahr 1937 beim 18jährigen. Sie endet beim 24jähriugen am 16. Februar 1943, zwei Tage vor der Verhaftung in der Münchner Universität nach dem Auslegen eines der Flugblätter der Weißen Rose. Am 22. Februar wurden er, seine Schwester Sophie sowie Christoph Probst, ein Freund der beiden und ebenfalls Mitglied der Weißen Rose, zum Tode verurteilt und am selben Tage hingerichtet.

Meine eigene Zusammenstellung der Zitate ergibt neun Seiten; ich stelle sie dir gerne als Skript per Mail zur Verfügung. Anfragen an harald.klein@koeln.de.

Alle Zitate sind entnommen aus Jens, Inge (1984): Hans Scholl. Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen, Frankfurt/Main. In Klammern sind hier die Seiten aus dem Buch genannt, auf denen sich die Zitate finden.

Die letzten Worte Hans Scholls auf dem Weg zum Schafott sind überliefert und sollen hier und ganz am Ende stehen: „Es lebe die Freiheit“.[3]

» Das ist die Kernthese dieses Buches, die in einem Satz zusammengefasst lautet: Wenn wir alle unsere Fähigkeiten zur Verfügung stellen und mehr Gewicht auf die Gestaltung unserer Beziehungen legen, finden wir uns in einer unübersichtlichen Welt besser zurecht.«
Knapp, Natalie (2013): Kompass neues Denken. Wie wir uns in einer unübersichtlichen Welt orientieren können, 3. Aufl., Reinbek, 15.

Die Zitate

aus: Brief an die Eltern, Bad Cannstatt, 14.03.1938:

„[…] Sonst enthalte ich mich jeder Stellungnahme zu den politischen Ereignissen. Mir ist der Kopf schwer. Ich verstehe die Menschen nicht mehr. Wenn ich durch den Rundfunk diese namenlose Begeisterung höre, möchte ich hinausgehen auf eine große einsame Ebene und dort allein sein. […]“ (16)

aus: Brief an die Eltern, Bad Cannstatt, 14.03.1938:

„[…] Es ist doch alles so ganz anders als vor einem Jahr. Und doch muss ich mit ernsten Gedanken zurückdenken an dieses seither verflossene Jahr. Bin ich wahrhaft besser geworden? War mein ganzes Streben nützlich und hat es zu einem Fortschritt geführt? Es ist jetzt vieles anders geworden. Aber manchmal kommen Stunden, da kommt man sich klein und lächerlich vor in dieser menschlichen Hülle. Man möchte alles, was uns fesselt, abschütteln und frei und klar in eine andere Welt treten. […]“ (22f)

aus: Brief an die Schwester Inge, Stetten, 27.06.1938

„[…] In meiner Brusttasche trage ich die Knospe einer Rose. Ich brauche diese kleine Pflanze, weil das die andere Seite ist, weit entfernt von allem Soldatentum und doch kein Widerspruch zu dieser Haltung. Man muss immer ein kleines Geheimnis mit sich herumtragen, vor allem bei solchen Kameraden, wie ich sie habe. […]“ (18)

aus: Brief an die Schwester Elisabeth, Ulm, 29.04.1940:

„[…] Was weiter mit mir geschehen soll, weiß ich noch nicht. Es ist eigentlich gar nicht sehr wichtig. Denn ich bin überall der, der ich bin; und überall blühen jetzt Bäume, und nachmittags kann man sich schon auf einer Wiese in den Schatten einer Birke legen. Es kommt ja nicht so sehr auf die Umwelt an, sondern darauf kommt es an, was wir der Umwelt verleihen. […] (29f)

aus: Brief an die Eltern, München, 28.01.1941:

„[…] Es ist entsetzlich, dass uns in diesem Alter alle Wege versperrt sind, wo und doch die Welt offenstehen müsste! Man kommt sich immer mehr als Gefangener vor. Hoffentlich ist dieser Krieg bald zu Ende! […]“(42)

aus: Brief an Rose Nägele, München, 03.02.1941:

„Ich bin gerade nicht der Jüngling, von Kraft gefüllt und mit beiden Beinen fest in der Welt stehend. Eine verrückte Traurigkeit ist am Grund von allem und darum möchte ich nicht schreiben. Verstehe mich recht. Ich meine nicht schwach nach außen hin, sondern eine innere individuelle Unsicherheit, die mit Schwäche eigentlich überhaupt nichts zu tun hat. Auch nicht [mit] Unausgeglichenheit. Sondern man kommt sich manchmal etwas müde in der Welt vor, alles Streben nach dem Guten scheint hoffnungslos und überflüssig. Vielleicht sind dies Zeiterscheinungen. Dann sollte man sich allerdings überwinden können. […]“ (43)

aus: Brief an Rose Nägele, München, 24.02.1941:

„[…] Jetzt scheint die Sonne. Jetzt blühen die Schneeglöckchen. Die weißen Wolken segeln über den Himmel. Die dunkle Erde und der klare Himmel. Ich möchte Ja sagen zu allem. Ich möchte sagen, Ja, ich liebe Dich, ja, ich weiß den Weg, oh ja, es ist eine Wonne, Mensch zu sein. Dann schlägt mir jemand die Türe zu. Es ist wieder dunkel, Nacht. Ein kleiner Mensch, zusammengekauert, gedrückt von seinem Jammer, hockt im Dunkel, denkt, grübelt, erkennt, dass es umsonst ist, dass er es nicht erreichen wird. […]“ (44f)

aus: Brief an Rose Nägele, Miesbach, 02.05.1941:

„[…] Hält uns Gott für Narren, da er uns die Welt vollendet schön im Glanze seiner Herrlichkeit erhellt ihm zu Ehren? Und andererseits nur Raub und Mord? Was ist nun wahr? Soll man hingehen, ein kleines Haus bauen mit Blumen vor den Fenstern und einem Garten vor der Tür und dort Gott preisen und danken und der Welt mit ihrem Schmutz den Rücken kehren? Ist nicht Weltabgeschiedenheit Verrat, Flucht? Das Nacheinander ist zu ertragen. Aus den Trümmern steigt der junge Geist empor zum Licht. Aber das Nebeneinander ist Widerspruch. Trümmer und Licht zur gleichen Zeit. Ich bin klein und schwach, aber ich will das Rechte tun. […]“ (53f)

„[…] Ich bin mit vollem Eifer bei der Arbeit. Es kommt mir sehr darauf an, die Naturwissenschaften gründlich zu verstehen, um die Probleme, die uns heute bedrücken, einst lösen zu können. Die Methode, auf die es mir letztlich ankommt, ist in ganz groben Zügen folgende: Die Wahrheit kann auf zweierlei Weise gefunden werden. Erstens durch die Logik, zweitens durch die exakte Forschung der Dinge. Es kommt darauf an, diese beiden Formen, die sich sinnlos bekämpfen, auf einer Ebene zu vereinigen. Philosophie und Wissenschaft sollen zum gleichen Ziel führen. Das Ergebnis des Einen, wenn es einwandfrei ist, sei der Beweis für das Andere. […]“ (55)

aus: Brief an  Rose Nägele, München, 08.08.1941:

„[…] Es kommt mir ja nicht darauf an, vielen Gefahren und Verlockungen aus dem Weg zu gehen, sondern es soll mir wahrhaftig nur darauf ankommen, die Dinge richtig und in aller Ruhe richtig zu erkennen. […] (60)

aus: Brief an Rose Nägele, München, 28.10.1941:

„[…] Dieser Krieg ist (wie alle bedeutenden Kriege) seinem eigentlichen Wesen nach ein geistiger; mir ist, als wäre manchmal mein kleines Gehirn das Schlachtfeld für alle diese Kämpfe. Ich kann nicht abseits stehen, weil es für mich abseits kein Glück gibt, weil es ohne Wahrheit kein Glück gibt – und dieser Krieg ist im Grunde ein Krieg um die Wahrheit. Alle falschen Throne müssen erst zersplittern, dies ist das Schmerzliche, um das Echte unverfälscht erscheinen zu lassen. Ich meine dies nicht politisch, sondern persönlich, geistig. Ich bin vor die Wahl gestellt worden. […]“ (67)

aus: Russlandtagebuch, 30.07.1942:

„[…] Wo jede Heimat aufhört, ist Gott am nächsten. Daher die Sehnsucht im jungen Menschen, aufzubrechen und alles hinter sich zu lassen und ziellos zu wandern, bis auch der letzte Faden gerissen ist, der ihn gefesselt hielt, bis er in der weiten Ebene allein und nackt Gott gegenübersteht. Verklärten Auges wird er dann seine alte Erde wiederfinden.“ (91)

aus: Russlandtagebuch, 22.08.1942:

„[…] Wenn ich einen Satz schreibe, befreie ich mich von diesem Satz. Selbst wenn ich mich von einer Sünde befreien will, muss ich schreiben. […]“ (101)

aus: Brief an Otl Aicher, Russland, 06.12.1942:

„[…] Ich habe eben zuweilen die Freude am Schreiben verloren, die in früheren Zeiten so beglückend über mich kam, wenn ich ein weißes Blatt mit Worten bedeckte. Heute gefällt mir eben ein weißes Blatt besser, nicht aus ästhetischen Gründen, sondern weil noch keine Lüge darauf steht, keine fadenscheinige Behauptung, weil ein weißes Blatt noch eine potenzielle Kraft enthält, weil ich mich beherrschen und immer noch warten kann auf den Tag, da mir das Schreiben eine Lust sein wird. […]“ (109)

Notizen, auf einen Briefumschlag gekritzelt, ohne Datum, vermutlich Winter 1942/43

„Nicht von der Masse rede ich,
sondern von der Elite des Volkes,
die für den geistigen Gehalt und die Richtung
des ganzen Volkes verantwortlich ist:
die also in diesem Jahrhundert und wahrscheinlich
in schon früheren so sehr versagt hat, dass das
geistige Niveau seiner Pfeiler beraubt
ins Chaotische gestürzt ist –
diese Elite ist heute, da sie das drohende
Verhängnis ahnt –
zu einem noch größeren Irrtum fähig:
Sich abzuschließen von der realen Welt
mit ihren Irrtümern und ein Eigendasein zu führen –
ein L’art pour l’art im weitesten Sinn zu  betreiben.
Es gibt aber für sie keine größere Gefahr als die
Flucht ins Ästhetische.
[Wie sie zermürbender und lähmender geistig di
sich über die
Freiheit einzugestehen]
nicht zu entziffern (112f)

aus: Brief an Otl Aicher, München, 12.01.1943:

„[…] Von dem Kreis, welchen ich hier zusammengebracht habe, wirst du schon gehört haben. Du würdest Deine Freude an diesen Gesichtern haben, wenn Du sie sehen könntest. Alle Kraft, die man dort verschwendet, fließt unvermindert wieder zurück ins eigene Herz. Nur ein Schwächling verschwendet sich nicht. Der Dumme schweigt, weil er nicht reden kann, und der Phantasielose markiert den harten unbeweglichen Mann. Tugend aus Mangel nenne ich diese Art von Preußentum. Wir wollen uns von dieser Tugend lossagen. Viele Grüße, Dein Hans“ (114f)

„Es lebe die Freiheit.“ (117)

Köln, 01.07.2025
Harald Klein

[1] Jens, Inge (1984): Hans Scholl, Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen, Frankfurt/Main, 114f.

[2] Knapp, Natalie (2013): Kompass neues Denken. Wie wir uns in einer unübersichtlichen Welt orientieren können, 3. Aufl., Reinbek, 15.

[3] Jens, Inge (1984), a.a.O., 117.