Spiritualität jenseits von Religion?
Sich mit Eckhart Tolle auseinandersetzen ist eine doppelte Herausforderung. Für einen Christen eher traditioneller Prägung kann es schwer sein, die Deutungen und Hinweise Tolles als „spirituell“ zu verstehen, sind sie doch losgelöst von jeder Religion, geschweige denn Konfession, von Praktiken irgendeiner Frömmigkeit und nur auf dem Weg als „spirituell“ zu verstehen, wenn Spiritualität (1) als Suche nach einem Geist gesehen wird, aus dem heraus das alltägliche Leben und Erleben in der Gegenwart nach „hinten“ gedeutet und nach „vorne“ geführt wird, (2) als eine Deutungsweise, die dialogisch ist, d.h. über die vernunftgemäß und nachvollziehbar Auskunft gegeben werden kann und die von sich aus Antworten auf Herausforderungen des Lebens anbietet, und die (3) in ein erlebbares Mehr i.S.v. „magis“, nicht von „multum“ an Lebendigkeit und Menschsein, Menschwerdung führt. Sofern dies alles in Kontakt und unter Berufung auf Jesus Christus geschieht, ist Spiritualität „christlich“, geschieht dies nicht, ist sie aber aufgrund der Erfüllung der ersten drei Punkte nicht christlich, aber doch immer noch „Spiritualität“!
Eckart Tolles Impuls, sein angebotener spiritueller Weg ist leicht verständlich und gleichzeitig herausfordernd, weil er die Lebens-, Denk- und Verhaltensweisen einer ganzen Kultur so, wie sie über Jahrzehnte hinweg gewachsen ist, in Frage stellt. Sein Verlag fasst auf der Homepage des Verlages die „Drei-Komponenten-Strategie Tolles für ein sinnvolleres und erfüllteres Leben“ zusammen (vgl. https://www.kamphausen.media/die-lehre-eckhart-tolles/b-250.)
Drei Schritte in die Gegenwart hinein
Im ersten Schritt geht es darum, die eigene Geschichte bis zum gegenwärtigen Moment zu erkennen. Die Frage nach der Rolle der Vergangenheit und ihrer Präsenz im Jetzt ist dabei genauso wichtig wie die Rolle der Zukunft und der Angst, die oft Hand in Hand mit ihr geht. Es ist der Verstand, der sowohl die Erfahrungen aus der Vergangenheit als auch die Angs vor der Zukunft gegenwärtig macht oder erscheinen lässt, sodass sie Kraft über das Jetzt haben.
Im zweiten Schritt wird deutlich, dass die eigenen Gedankenströme ein Gefängnis sind, in dem das vom Verstand erschaffene Ich in der Zelle der Vergangenheit und der Zukunft sitzt und die Gegenwart, den gegenwärtigen Moment nicht zu sehen und zu würdigen in der Lage ist. Im Nachsinnen oder im Griff der Vergangenheit und der Zukunft sind Menschen dem „Waren“ oder dem „Werden“ verhaftet und haben keinen Raum mehr für das Sein.
Im dritten Schritt geht es um die Motivation, um den Versuch, um den Anfang, das eigene Bewusstsein – den Ort meines Seins – von den Gedankenströmen – dem Ort der Wertungen, der Erinnerungen und der Ängste des Ichs – zu lösen. Leben geschieht ausschließlich im jetzt, im Moment, und den gilt es wahrzunehmen. Die Freuden und Ängste der Vergangenheit, die Sorgen und Hoffnungen der Zukunft können immer nur im Jetzt erlebt werden, nur hier haben sie Realität.
Tolles Idee und sein Hinführen zu dieser fordern heraus und verheißen viel! Für die, denen an christlicher Spiritualität liegt, kann ich sagen, dass Ihnen nichts genommen wird – im Gegenteil: viele der Worte Jesu im neuen Testament und manches seiner Handlungen erscheint im neuen Licht, ich erinnern nur an das „Sorgt Euch nicht um Euer Leben. Seht die Vögel des Himmels. Lernt von den Lilien auf dem Feld. Sorgt euch nicht um das Morgen!“ (vgl. Mt 6, 26-29). Es ist leichter, sein Stundengebet zu beten oder die Messe zu besuchen, als sich von Eckart Tolle mitnehmen zu lassen. Was letztlich dem Leben hier und jetzt mehr Nahrung gibt, das ist dann jedem selbst überlassen.
Die Seitenzahlen (in Klammern nach den folgenden Zitaten) beziehen sich auf das erste Drittel von Tolle, Eckhart: Jetzt! Die Kraft der Gegenwart, 18. Aufl., Bielefeld. Diesen Beitrag zu „verw:ortet im August 2022“ können Sie hier herunterladen.
Die Zitate
„Wenn ich nicht mit mir selbst leben kann, dann muss es zwei von mir geben: das ‚ich‘ und das ‚Selbst‘, mit dem ich nicht mehr leben kann. ‚Vielleicht‘, dachte ich, ‚ist nur eins von beiden wirklich.‘“ (20)
„Da außerdem jeder Mensch den Samen der Erleuchtung in sich trägt, wende ich mich oft an den Wissenden in dir, der hinter dem Denker wohnt, an das tiefe Selbst, welches spirituelle Wahrheit sofort erkennt, in Resonanz damit geht und Stärke daraus gewinnt.“ (25)
„Wenn ich gelegentlich die Worte von Jesus oder Buddha aus ‚Ein Kurs in Wundern‘ oder aus anderen Lehren zitiere, dann tue ich das nicht, um zu vergleichen, sondern um deine Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, dass es in Essenz immer nur eine Lehre gibt und gegeben hat, obwohl sie in mehreren Formen erscheint. Einige dieser Formen, wie z.B. die alten Religionen, sind so überlagert mit fremden Inhalten, dass ihre spirituelle Essenz fast vollkommen verdeckt ist. Ihre tiefere Bedeutung ist dadurch fast nicht mehr zu erkennen und sie haben ihre transformative Kraft verloren.“ (26)
„Das Wort Erleuchtung lässt an eine Art übermenschlicher Fähigkeit denken und das Ego möchte daran festhalten. Doch Erleuchtung ist ganz einfach dein natürlicher Zustand von empfundener Einheit mit dem Sein. In diesem Zustand bist du mit etwas Unermesslichen und Unzerstörbaren verbunden, mit etwas, das paradoxerweise du selbst bist und das zugleich etwas viel Größeres ist als du. Es geht um das Entdecken deiner wahren Natur jenseits von Name und Form.“ (30)
„Das Sein ist jetzt zugänglich für dich, ist dein eigenes tiefstes Selbst, deine wahre Natur. Aber versuche nicht, es mit dem Verstand zu erfassen. Du erfährst es nur, wenn der Verstand still ist. Wenn du gegenwärtig bist, wenn deine Aufmerksamkeit voll und ganz auf das jetzt gerichtet ist, dann wird das Sein spürbar, aber es entzieht sich dem Begreifen des Verstandes. Die Bewusstheit des Seins wiederzuerlangen und in den Zustand von ‚fühlendem Erkennen‘ zu verbleiben, das ist Erleuchtung.“ (31)
„Der Verstand ist ein hervorragendes Instrument, wenn er richtig benutzt wird. Bei falschem Gebrauch kann er allerdings sehr destruktiv werden. Genauer gesagt ist es nicht so, dass du deinen Verstand falsch gebrauchst – du gebrauchst ihn normalerweise überhaupt nicht. Er gebraucht dich. Das ist die Krankheit. Du hältst dich für deinen Verstand. Das ist die Wahnidee. Das Instrument hat die Macht über dich gewonnen.“ (34)
„Sobald du beginnst, den Denker zu beobachten, wird eine höhere Bewusstseinsebene aktiviert. Dann beginnst du zu erkennen, dass es einen enormen Bereich von Intelligenz jenseits des Denkens gibt, dass dein Denken nur einen winzig kleinen Aspekt dieser Intelligenz ausmacht. Du erkennst auch, dass alles, was dem Leben wahren Wert verleiht – Schönheit, Liebe, Kreativität, Freude, innerer Friede – weinen Ursprung jenseits des Verstandes hat. Du beginnst zu erwachen.“ (34f)
„Der größte Teil menschlichen Schmerzes ist unnötig. Solange der unbeobachtete Verstand dein Leben regiert, erschaffst du den Schmerz selbst.“ (53)
„Sage immer ‚Ja‘ zum gegenwärtigen Moment. Was könnte sinnloser, wahnsinniger sein als inneren Widerstand gegen etwas aufzubauen, das bereits da ist?“ (55)
„Der Schmerzkörper will leben wie alles andere in der Existenz auch, und das kann er nur, wenn er dich dazu bringt, dich unbewusst mit ihm zu identifizieren. Er kann dann aufstehen, sich deiner bemächtigen, ‚du werden‘ und durch dich leben. Er muss seine ‚Nahrung‘ durch dich bekommen.“ (58)
„Schmerz wäre dir lieber – es wäre dir lieber, der Schmerzkörper zu sein, als einen Sprung ins Unbekannte zu wagen und damit zu riskieren, das vertraute unglückliche Selbst zu verlieren.“ (63)
„Du hast den Grundmechanismus des unbewussten Zustandes schon verstanden: Identifikation mit dem Verstand, durch die ein falsches Selbst, das Ego, als Ersatz für das wahre, im Sein verwurzelte Selbst erschaffen wird. Du wirst zu einer ‚vom Weinstock abgeschnittenen Rebe‘, wie Jesus es ausdrückt.“ (69)
„Entferne die Zeit vom Verstand und er hält an – bist du dich entscheidest, ihn zu benutzen.“ (71)
„Nichts ist je in der Vergangenheit geschehen, es geschah im Jetzt. Nichts wird je in der Zukunft geschehen, es wird im Jetzt geschehen.“ (72)
„Der Verstand kann den Baum nicht kennen. Er kann nur Tatsachen oder Informationen über den Baum kennen. Mein Verstand kann dich nicht kennen, nur Bezeichnungen, Urteile, Tatsachen und Meinungen über dich. Tiefstes Wissen und unmittelbare Erkenntnis sind untrennbar vom Sein.“ (76)
„Normalerweise ist die Zukunft eine Wiederholung der Gegenwart. Oberflächliche Änderungen sind möglich, aber wirkliche Verwandlung ist selten und hängt davon ab, ob du gegenwärtig genug sein kannst, um die Vergangenheit durch den Zugang zur Kraft der Gegenwart aufzulösen.“ (83)
„Der einzige Ort, an dem wahre Veränderung stattfinden kann, an dem die Veränderung aufgelöst werden kann, ist das Jetzt.“ (84)
Köln, 27.07.2022
Harald Klein