Verw:ortet 08/2024: Roger Willemsen – Deutschlandreise

  • Worte, auf denen ich stehe
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Um was es geht

Den immer noch treuen Kinofans unter Ihnen wird es nicht schwerfallen, sich an das eine oder andere Road-Movie zu erinnern. Vielleicht kommt Ihnen die Verfilmung von „Stand by me – Das Geheimnis eines Sommers“ von 1986 in den Sinn, die Verfilmung einer Erzählung von Stephen King, in der sich vier 14- oder 15jährigen Jungs auf den Weg machen, die Leiche eines verunglückten Klassenkameraden zu finden. Oder der „Rain Man“ von 1988, in dem der erfolgreiche Autohändler Charlie (Tom Cruise) seinen Bruder autistisch veranlagten Bruder Raymond (Dustin Hoffman) eine waghalsige Autofahrt durch die USA unternehmen müssen. Oder „Knocking on heavens door“ von 1997, in dem Rudi Wurlitzer (Jan Josef Liefers) und Martin Brest (Til Schweiger) die „Abnippelstation“ eines Krankenhauses hinter sich lassen und das Meer sehen wollen, denn davon erzählen die Engel im Himmel.

„Road-Movies“ finden Sie auch in der Literatur. Das jüngste, das mir einfällt, ist Wolfgang Herrndorfs Erzählung „Tschick“ (2010); zwei 14jährige, der eine, Maik, aus dem bürgerlichen Milieu Berlins stammend, der andere, Andrej, genannt Tschick mit dem gesamten Hintergrund der russischen Spätaussiedler verarbeiten ihre „Ausladung“ der Klassenschönheit Tatjana zu deren Geburtstagsfeier; Tschick klaut einen klapprigen Lada Niva, und ihre Abenteuer hier zu schildern käme dem Spoilern gleich, ich will es unterlassen. Deutlich älter ist sicher Sten Nadolnys „Netzkarte“ (1992); Ole Reuter, der Protagonist, bricht zuerst 1976 mit einer „Netzkarte“ zur Fahrt durch Deutschland auf, er wiederholt diese Reise auf der Suche nach Freiheit und Ungebundensein 1980 noch einmal. Und natürlich Ernest Hemingways „Der alte Mann und das Meer“, 1951 auf Kuba entstanden. Wenn auch die Straße hier die offene See und das Auto ein Fischerboot ist, erfüllt diese Erzählung wie alle anderen genannten und wie auch die Filme weiter oben das, was ein „Road-Movie“ ausmacht: alle haben ein Moment des Pilgerns auf ein höheres Ziel im Blick, alle hinterlassen ihre Protagonisten zum Ende hin völlig anders, als sie sich zu Beginn der Erzählung oder des Filmes zeigen bzw. darstellen.

Roger Willemsens 2002 erschienener Bericht „Deutschlandreise“ wirft die Frage nach dem Road-Movie neu auf. Es gibt die Ähnlichkeit mit Nadolnys Held Ole Reuter in „Netzkarte“: Willemsen kaufte sich 2001/2002 eine „Netzkarte“ und besuchte in einer Art „Entdeckungsfahrt“ verschiedenste Orte in Deutschland, um nicht nur die Orte, sondern auch die Menschen, die dort leben – und wie sie dort leben – zu betrachten. Der Bericht wurde kritisch angenommen – im Stile eines Lamentos sei es geschrieben, und immer wieder werde dargestellt, was das Fernsehen alles bei den Menschen in Deutschland zerstöre, schreien Kritiker, die im Perlentaucher nachgelesen werden können. Es ist die Zeit, in dem Willemsen sich aus dem Fernsehen zurückzieht. Und so geht die „Road-Movie-Frage“ zuerst an ihn, ob er durch diese beiden Reisen sich verändert hat, eine Entwicklung durchlaufen hat, wie sie den Filmen und den Erzählungen zu eigen ist.

Für uns Lesende ist die Frage eine andere: der brillante Beobachter Roger Willemsen stellt uns Orte, Menschen, Begegnungen und Beziehungen vor Augen, die mehr als 20 Jahre zurückliegen. Den Lesenden bleibt die Möglichkeit, kein „Road-Movie“, aber ein „Time-Movie“ daraus zu machen.

So stelle ich in dieses Verw:ortet Zitate ein, die mehr als 20 Jahre alte Beobachtungen von Roger Willemsen sind und die sich auf seine Reise mit der Netzkarte beziehen. Und Ihnen biete ich die Gelegenheit, nachzuschauen, ob diese Beobachtungen heute immer noch so geschrieben werden könnten, ob sie Gültigkeit für Ihr Erleben haben – und ob uns vielleicht ein gelebtes Road-Movie durch Deutschland – im Film, im Buch, im Zug – helfen könnten, eine Art Entwicklung in Willemsens Sätze zu entdecken, wenn nicht gar zu initiieren.

Alle Zitate sind entnommen aus Willemsen, Roger (2004): Deutschlandreise, 5. Aufl., Frankfurt/Main. Die Ziffern in der Klammer am Ende des Zitats verweisen auf die Seitenzahl.

» Das also sollte Deutschland sein, ein leidenschaftlich-pathetischer Aufschwung für viele, ein moralisches Massiv, das manchen Tränen in die Augen treibt? An welcher Stelle soll man stehen, um die Leistungen und Wirkungen dieses Landes, seinen Bau und seine Struktur empathisch zu begrüßen, ist es doch viel leichter und deutscher, dies Land ex negativo zu bestimmen: aus dem, was fehlt, was ausgeschlossen und zum Verschwinden gebracht ist. Und wäre dies Land für seine Einwohner nicht von der Bewunderung für die eigene Herkunft vergoldet, gäbe es irgendetwas, das an ihm auffälliger wäre als die Praxis seines Verwaltens und Verbrauchens?«
Willemsen, Roger (2004) Deutschlandreise, 5. Aufl., Frankfurt/Main, 180f.

Die Zitate

„Am schönsten ist das Land als Versprechen, weit weg.“ (5)

„Sein Trauma erlebt der Reisende, der feststellt, dass er von nichts bewegt wird, einen Zweck seiner Reise so wenig finden kann wie den seines Arbeitslebens, das er ertrug, um sich die Reise zu ermöglichen. Im Grunde ab, schießt es ihm durch den Kopf, ist alles noch schlimmer: Wenn das Leben nicht aus Dingen bestünde, die einem das Leben erleichtern sollen und hinter denen man lebenslänglich her ist, man wüsste gar nicht, warum man leben sollte.“ (12)

„Die wahre Anziehung eines Menschen kommt vermutlich aus einem unerfüllten Leben, sie tritt aus der Stelle aus, an der der Mangel entsteht. Aber manchmal erdrückt der Mangel alles, und so wie es möglich ist, durch Angst die Sexualität eines Menschen völlig zu zerstören, so kann, was fehlt, all das zunichte machen, was nicht fehlt.“ (15)

„Am meisten Zukunft haben Menschen ohne Vergangenheit. Für die anderen sind die Träume ausgeträumt.“ (21)

„Als in der Bahn ein Mann anfängt, mit seinem Revers zu telefonieren, wechsele ich das Abteil Mit der Vermehrung der Telefone sind die Entfernungen größer geworden, oder besser, die Menschen bringen viel mehr Zeit bei den Entfernten, Abwesenden zu.“ (35)

„Ein Bahnhof im Osten. Stimmung wie auf einer Quarantäne-Station, mit Leuten, die aussehen, als träten sie gerade aus dem Ghetto in die Welt. Erstaunt und doch im selben Augenblick enttäuscht, immer noch. Nein, die Verkäuferinnen in den Läden heben nicht einmal den Kopf, erwidern keinen Gruß. Ins Bodenlose, Sprachlose entrückte Desillusionierung. Bitterkeit, jetzt wohl tiefer als zu jener Zeit, da die Mauer sie vor jeder persönlichen Utopie größeren Maßstabes trennt. Ein transzendenzloses Leben: Wir sind das Volk, waren es oft, wenn es so weitergeht, werden wir es nie mehr sein.“ (59f)

„Stärker als zu jeder anderen Zeit belastet das Leben heute jeden noch so kleinen Schritt durch einen Überbau des Wissens, der Anweisungen, der Empfehlungen, der psychologischen Deutungen und Erklärungen. Für jeden Bereich gibt es eine Kompetenz, eine Zuständigkeit. Dadurch werden alle auf fast allen Gebieten zu Laien und dilettieren sich durch die Welt, auch die ihrer Gefühle. […] Die Herausforderung besteht nicht darin zurechtzukommen, sondern nicht zurechtzukommen, d.h. jeden Weg allein zu gehen, jeden Maßstab selbst zu gewinnen, jeden Wert selbst neu zu erschaffen. Die Wagen der ersten Wagenklasse halten in den markierten Abschnitten D und E. Niemand kann sich mehr irren, niemand muss fragen.“ (74f)

„Wie viele elende Hypotheken nimmt man auf im Wunsch, gegenwärtig zu sein, liest die falschen Bücher, sieht belanglose Filme, hört uninteressante Musik, bewegt sich an stimmungslose Orte und obwohl sich das alles substanzlos anfühlt, baut es sich, zusammengenommen, zu einem einzigen stimulierenden Gefühl von Gegenwart zusammen. Wo immer ein ‚Ereignis‘ angekündigt wird, selbst wo sich 15 Millionen Menschen eine sterbenslangweilige ‚Wetten, dass“-Sendung ansehen, verzichten sie auf Erfahrungen mit der -wirklichkeit aus Hunger nach Gemeinschaft: Nichts wurde gehört, nichts gesagt, nichts ist geschehen. Nicht in das Gemeinschaftsleben ist man eingetreten, sondern man hat das Wachkoma geteilt. Eine Nation, die nicht da war, sediert, abgemeldet, in Trance zwischen Kühlschrank und Couchtisch, und so treten sie am nächsten Morgen in die Welt, zurück in die Religion ihrer Arbeit, in die Sinnstiftung durch Warenverkehr, in die Reklame … und dann spricht jemand von Träumen und Lieben.“ (83f)

„Sollte man sich also immer neue Heimaten aussuchen? Den Hindukusch? Polynesien? Ulan Bator? Soll man den Ort Heimat nennen, dessen Ruin, dessen Machenschaften, dessen Bitterkeit und Korruption man persönlich kennt? Und wenn ein Karpfen im Waschbecken aufwächst, nennt er es später ‚Heimat‘?“ (88)

„In einer Gaststätte in Mannheim komme ich mit zwei schimpfenden Frauen ins Gespräch, die irgendwo im versauten Umland in einer Rotlichtbar arbeiten. Als ‚Künstlerinnen‘. – ‚Was für Kunst?‘ – – ‚Tänzerinnen.‘ – ‚Striptease?‘ – ‚Lesbennummer. Aber jetzt sind wir gefeuert.‘ – ‚Die Zeiten sind vorbei, oder? Fernsehen … Internet …‘ Blablabla. ‚Im Gegenteil. Die Leute haben geschrien: Macht so schweinisch, wie ihr könnt. Jeden Abend haben wir unser Bestes gegeben. Aber der Chef behauptet, wir hätten beim Orgasmus ins Publikum gelacht.‘ Ein Medienmensch sitzt in der Nähe, erkennbar an diesem kritisch-konzentrierten Gesicht bei der Lektüre. Aussehen soll es, als studiere er die ‚Phänomenologie des Geistes‘, aber er liest die ‚Bunte‘. Jetzt hebt er den Kopf. ‚Dagegen kann man klagen.‘ Deutschland: Als ich gehe, diskutieren sie zu dritt die arbeitsrechtlichen Möglichkeiten zum Kündigungsschutz bei realitätsnahen Orgasmus-Darstellungen.“ (119f)

„Sie begreifen die Topographie des Hotelzimmers, erfahren, wie man die Gegenstände im Raum platzieren, den Beschwerden der Kunden, des Vorgesetzen, des verdeckten Hotel-Testers zuvorkommen muss. Sie lernen die Sprache nicht, denn wer würde sie ihnen beibringen? Aber sie lernen, dass sie die Spitzen eines Klopapierblatts unter der metallenen Halterung zu einem gleichschenkligen Dreieck zu falten hat, damit der Gast mit nur zwei Fingern das Papier herausziehen oder damit er sich am Ornamentalen erfreuen kann oder einfach, damit er sieht, wie an der Spitze dieses Klopapierblatts jemand gearbeitet hat und, dem Gast zu Ehren, sinnlos gedient hat. Und die Frauen, die dies leisten, haben als erstes gelernt, dass hier Komfort die Gastlichkeit und Sterilität die Hygiene verdrängt, jetzt erfahren sie noch, dass ‚Service‘ von ‚Servus‘ kommt, dem Sklaven.“ (126f)

„Und es ist ja auch wahr: Die Berge sind katholisch, das Meer ist protestantisch. Wer im Schatten der Berge aufwächst, lebt in der Gegenwart des Größeren, er erfährt die Natur als Gott, den Berg als Macht. So ist der Mensch in seiner Kleinheit eigentlich Gottesdiener, wo er Bauer ist, und die letzte Form der Naturreligion auf deutschem Boden beschwört die Heiligkeit und Unantastbarkeit der Berge.“ (157f)

„Wie hat der indonesische Freund beim Abschied in Djakarta ehemals gefragt: ‚Was ist der Unterschied zwischen einem deutschen Touristen und einem deutschen Terroristen?‘ Und die Antwort lautete: ‚Der Terrorist hat Sympathisanten.‘“ (179f)

„Ich erinnere mich, dass ich damals […] in einem Flughafenhotel in Düsseldorf abstieg, den Fernseher anschaltete. Das Erste, was ich sah, war eine propere Mittvierzigerin, der erste Satz, den sie sagte: ‚Gebissreiniger? Gott ja, ich habe viele ausprobiert…‘ Mitten in diesem Satz war ich angekommen.“ (181)

„So bleibt am Ende das schöne Bild, bleibt die Landschaft. So nutzlos, wie sie ist, fordert sie ein anderes Verhalten als fast alle übrigen Lebensbereiche. Sie sondert keine Signale ab, keine Botschaften, keine Kaufanreize. Ihr Einfluss auf den Menschen ist nicht mehr groß. Was soll man nur mit ihr machen?“ (206)

Köln, 01.08.2024
Harald Klein