Claudia – Das Siegfried-Motiv in aktualisiert-weiblicher Form
Eine kleine Novelle von etwas mehr als 200 Seiten fällt mir – man soll es kaum glauben – im öffentlichen Bücherschrank in der Nachbarschaft ins Auge. Christoph Hein (*1944), ihr Verfasser, ist mir dem Namen nach bekannt, gelesen habe ich noch nichts von ihm. Es ist für mich „im Osten verortet“, ein „DDR-Schriftsteller“, und dort, bei meinen Besuchen zur Zeit des geteilten Deutschlands, habe ich ihn zur Kenntnis genommen. Mehr nicht!
Schade! Da habe ich was verpasst!
Die Novelle wurde 1982 in der DDR mit dem Titel „Der fremde Freund“ veröffentlicht, ein Jahr später dann auch „im Westen“. Wegen des Titelschutzes hieß das Buch hier „Drachenblut“. Ein seltsamer Zufall – dass der beschriebene fremde Freund Henry ein fremder Freund für Claudia, die Protagonistin und Ich-Erzählerin bleibt, hängt an ihrem symbolischen Bad im „Drachenblut“, und kein Lindenblatt – wie in der Nibelungen-Sage und bei deren Held Siegfried – fiel auf sie, sodass eine wunde Stelle hätte bleiben können.
Claudia ist Ärztin, fotografiert leidenschaftlich gerne in ihrer Freizeit, entwickelt die Negative (das klingt heute auch anders als damals), beschreibt sich als teilnahmslos und desinteressiert am Leben um sie herum. Zumindest so lange, bis ihr neuer Nachbar Henry in ihr Leben einbricht. Jetzt gilt es, eine sich verlierende Leidenschaft und einen antrainierten Selbstschutz zu vereinen. Beide kommen darin überein, dass keiner für den verantwortlich sei und dass keiner sich vor dem anderen zu verantworten habe.
Für Claudia hat das eine Geschichte: In der Schulzeit gab es eine Schulfreundin namens Katharina, die Claudia sehr gemocht, ja geliebt hatte. Diese Freundschaft zerbrach, und das war der Grund für Claudias (sinnbildliches) Bad im Drachenblut. Nie wieder wollte sie einen Menschen so lieben, aus Angst, doch nur wieder verlassen zu werden. Eine doch gewagte Ehe mit Hinner, einem Kollegen, zerbrach an genau dieser Angst.
Henry stirbt plötzlich, sein Begräbnis bildet den Rahmen der Novelle. Hier, nach dem Rückblick auf ihr Verhältnis mit dem „fremden Freund“, bekennt Claudia vor sich selbst (und vor den Lesenden), dass sie an dieser Sehnsucht nach Katharina noch krepieren wird – offen ist, ob sie die Person oder die Fähigkeit zur unbedingten Liebe meint. Ihre Einsamkeit versucht sie mit einem „Es geht mir gut“ zu überdecken und zu verdrängen.
Mich spricht an und fasziniert, dass Christoph Hein mit der Figur der Ärztin Claudia eine Lebensform zum Ausdruck bringt, die der Soziologe Zygmunt Bauman (1925-2017) 15 Jahre später als „postmoderne Lebensform“ mit der Attribution „Flaneure, Spieler und Touristen“[1] beschrieben hat. Die Frage des „Verantwortung übernehmen“ oder „für einen anderen, eine andere verantwortlich sein“ fällt in diesen postmodernen Lebensformen nahegehend aus.
Es wäre sicher ein lohnendes Arbeiten, Christoph Heins Novelle und den einen oder anderen Essay Zygmunt Baumans auf ihre Semantik und auf ihren Aussagegehalt hin zu untersuchen, es gäbe sicher Parallelen. Und diese Parallelen finden auch die Leserinnen und Leser der Novelle, wenn sie sich in ihren Freundschaften umschauen, und vielleicht auch, wenn sie sich umschauen in der Freundschaft zu sich selbst.
Alle Zitate sind entnommen aus Hein, Christoph (2001): Der fremde Freund/Drachenblut, 17. Aufl., Berlin. In Klammern sind die Seitenzahlen angegeben.
Die Zitate
„Ich fürchte mich nicht davor zu sterben. Schlimmer ist es für mich, nicht zu leben. Nicht wirklich zu leben.“ (38)
„Unsere Distanz gab unserem Verhältnis eine spröde und mir angenehme Vertraulichkeit. Ich hatte kein Bedürfnis, mich nochmal einem Menschen völlig zu offenbaren, mich einem anderen Menschen auszuliefern.“ (38)
„Mir gefiel es, die andere Haut zu streicheln, ohne den Wunsch zu haben, in sie hineinzukriechen.“ (38)
„Die Besuche mit meinen Eltern machen mich immer nervös. Ich bin bereits Stunden davor wie gerädert. Es sind Höflichkeitsbesuche bei Leuten, mit denen mich nichts verbindet.“ (39)
„Ich war seit langem fest entschlossen, nie wieder zu heiraten, nie wieder irgendeinem Menschen das kleinste Recht über mich einzuräumen. Unsere stillschweigende Übereinkunft, dass keiner für den anderen verantwortlich sei, dass keiner sich vor dem anderen zu verantworten habe, nahm ich sehr ernst.“ (68)
„Ich war überzeugt, dass ich niemals meine Distanz zu Menschen aufgeben durfte, um nicht hintergangen zu werden, um mich nicht selbst zu hintergehen. Im Hintergrund das Wissen um meine stete Bereitschaft, mich aufzugeben, Sehnsucht nach der Infantilität. Der schwere, süßliche Wunsch, geborgen zu sein. Wie der drückende und doch angenehme Duft von verwelkenden Totenblumen. Ich war gegen mich gewappnet.“ (68)
„Wir sprachen über Freunde, und ich sagte, ich wüsste nicht genau, ob ich Freunde habe […]. Wahrscheinlich brauche ich keine Freunde. Ich habe Bekannte, gute Bekannte, ich sehe sie gelegentlich und freue mich dann. Eigentlich aber waren sie austauschbar, also nicht zwingend notwendig für mich. Ich bin gern mit Menschen zusammen, viele interessieren mich, und es ist angenehm, mit ihnen zu reden. Aber das ist auch alles.“ (83)
„Manchmal, sagte ich, manchmal aber überfällt uns unsre Vergangenheit wie ein unerwünschter Schatten. Wir können sie nicht aus unserem späteren Leben heraushalten. – Ich lasse es nicht zu, erwiderte er. – Und warum? fragte ich ihn? – Er beugte sich über mich und sah mir in die Augen. Weil es zwecklos ist, sagte er dann, weil es uns unfähig macht zu leben. Und ich brauche es nicht, fügte er hinzu, ich habe da keine Schwierigkeiten mit mir.“ (157)
„Im März wurde die Sommerzeit eingeführt. Die Uhren wurden um eine Stunde vorgestellt, und vielleicht war das in diesen Monaten das Aufregendste, was in meinem Leben geschah.“ (197)
„Ich trauerte nicht um Henry, es war wohl nur Selbstmitleid. Ich fühlte mich verlassen, im Stich gelassen. Ich musste mich zwingen, wieder völlig allein zu leben.“ (205)
„Dennoch, ich weiß, der gelegentliche Wunsch nach einem Kind wird immer wieder auftauchen. Dahinter steckt gewiss die Sehnsucht, sich einem anderen Menschen restlos hinzugeben. Meine verlorengegangene Fähigkeit, einen anderen bedingungslos zu lieben.“ (208)
„Ich bin auf alles eingerichtet, ich bin gegen alles gewappnet, mich wird nichts mehr verletzen. Ich habe in Drachenblut gebadet, und kein Lindenblatt ließ mich irgendwo schutzlos. Aus dieser Haut komme ich nicht mehr heraus. In meiner unverletzbaren Hülle werde ich krepieren an Sehnsucht nach Katharina. Ich will wieder mit Katharina befreundet sein. Ich möchte aus diesem dicken Fell meiner Ängste und meines Misstrauens heraus. Ich will sie sehen. Ich will Katharina wiederhaben. Meine undurchlässige Haut ist meine feste Burg“ (209)
„Ein paar Tage nach Henrys Beerdigung kam Herr Krämer zu mir. Er brachte mir Henrys breitkrempigen Filzhut. Henry gab ihm den, bevor man ihn erschlug. Herr Krämer meinte, der Hut stehe mit mehr zu als ihm. […] Nachdem er gegangen war, warf ich den Filzhut in den Müllschlucker. Ich wollte ihn nicht eine Sekunde bei mir behalten. Ich wusste nicht, wie lange ich die Kräfte aufbrächte, ihn wegzuwerfen. Ich kann meine kleine Wohnung nicht auch noch mit alten Hüten anfüllen.“ (211)
Köln, 27.9.2023
Harald Klein
[1] vgl. Bauman, Zygmunt (2007): Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg – die Erstausgabe erschien 1997 ebenfalls in Hamburg.