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Wilhelm Schmid – Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers

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Um was es geht

Unbestritten ist es der Untertitel des 380seitigen Buches von Wilhelm Schmid, das mich neugierig macht. Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers verspricht der Titel, und sogleich kommen mir katholische Vorbehalte ins Spiel. Sollte nicht jeder Seelsorger „philosophisch“ sein? Und die Frage schließt sich an, was das „Philosophische“ denn wohl meint! Oder andersherum: Wilhelm Schmid ist doch „Philosoph“, wie kann er denn sann Erfahrungen als „Seelsorger“ machen, wenngleich er sie auch als „philosophisch“ bestimmt? Und was meint überhaupt „Seelsorge“? Aber wie so oft gilt auch hier: Vorbehalte müssen nicht der Realität entsprechen, müssen nicht einmal auf eine Realität hinweisen, und sie sagen oft mehr über den, der sie hat und äußert als über den, dem sie gelten!

Seit einigen Jahren begleiten mich die Gedanken des gerade mal elf Jahre älteren Philosophen immer wieder. Seine Habilitationsschrift „Grundlegung zu einer Philosophie der Lebenskunst“ (1997) deutet an, worauf er philosophisch sein Augenmerk besonders richtet: auf den gelebten, manchmal auch auf den durchlittenen Alltag, auf die Vollzüge, das Tun und Lassen der Menschen in diesem Alltag. Ich schätze seine kleinen Schriften, die im Insel-Verlag erscheinen, selten mehr als 100 Seiten im Postkartenformat haben und betitelt sind mit „Glück. Was Sie darüber wissen müssen und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist“ (2007), „ Vom Glück der Freundschaft“ (2014), „Selbstfreundschaft. Wie das Leben leichter wird“ (2018), „Unglücklichsein. Eine Ermutigung“ (2018), „Von der Kraft der Berührung“ (2019), „Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden“ (2020). Umfangreicher sich z.B. “Die Liebe neu erfinden. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen“ (2010) und „Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt“ (2022). Soweit mein Bestand an seinen Büchern – das Doppelte an dem, was ich schon besitze, findet sich auf den Literaturlisten von Wilhelm Schmid.

» Alles, was ohne Überlegung geschieht, [...] verhindert das Abwägen bei einer bewussten Lebensführung. Die Bewusstheit macht den Unterschied. «
Schmid, Wilhelm (2017): Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers, Berlin, 138.

„Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers“ (Berlin, 2017) gehört zu den umfangreichen Werken. Auf 380 Seiten erzählt Schmid von seiner Arbeit in einer Klinik in der Schweiz, deren Leitung ihn anfragte, „philosophisch seelsorgerisch“ bei und mit ihnen, den Patienten, den Mitarbeitenden zu arbeiten. Über einen Zeitraum von zehn Jahren war Schmid immer wieder in der Klinik, erlebte Umbauten technischer und inhaltlicher Art mit, fasste in fünf Kapiteln zusammen, um was es ihm als „philosophischem Seelsorger“ ging und was bzw. wer ihm dort begegnete. Die ersten beiden Kapitel „Was ist eigentlich Leben? Gespräche mit Patienten und Klienten“ und „Wie hängt das alles zusammen? Gespräche mit Ärzten und Mitarbeitern“ schildern seinen Alltag und die Themen, die im Alltag eine Rolle spielen. Die folgenden drei Kapitel „Was macht ein Philosoph? Grundzüge einer weltlichen Seelsorge“, „Was ist Lebenskunst? Themen und Diskussionen“ und „Wie finden Theorie und Praxis zusammen? Werkstatt der Lebenskunst“sind Reflexionen auf das, was in den ersten beiden Kapiteln berichtet wurde und werden hier noch einmal „gefüttert“ und gründlich durchdacht.

Mich fasziniert in allem Schmids „mäeutischer“ Stil. Selten, dass er mir (oder dem Gegenüber in den Gesprächen) völlig Neues unterbreitet, seine Fragen, seine Hinweise haben etwas von der Kunst der Hebamme, sind so, dass ich von selbst auf die Antwort kommen kann, die weiterführt, die herausführt, die Lebendigkeit verheißt selbst an einem Ort, wo das Sterben beinahe alltäglich ist. Es entstehen gehbare Wege, die durchdacht („philosophisch“) sind und das innere, oft auch das äußere Leben weiten („Seelsorge“).

Da habe ich in der Lektüre was gelernt: Man kann als Theologe „Seelsorger“ sein, und dabei den Habitus über das Denken stellen – und man kann „Philosoph“ sein, ohne das konkrete eigene Leben oder das derer um sich herum in den Blick zu nehmen. Wem es gefällt, der mag es so tun. Mit dem Blick auf die „Lebenskunst“ sind allerdings „philosophische Seelsorger*innen“ genauso wünschenswert wie „seelsorgende „Philosoph*innen“. Bei Wilhelm Schmid kann man nachlesen, wie das geht.

Alle Zitate sind entnommen aus Schmid, Wilhelm (2017): Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers, Berlin. In Klammern sind hier die Seiten aus diesem Buch genannt, auf denen sich die Zitate finden.

» Aus der Weigerung, sich auf die Bedingungen einer Wirklichkeit einzulassen, folgt der Verlust jeglichen Könnens, mit der wirklichen Welt zurechtzukommen. «
Schmid, Wilhelm (2017): Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers, Berlin, 151.

Die Zitate

„Was ist denn dran an der Philosophie, die doch niemanden behandeln, niemanden im engeren Sinne therapieren kann? Sie kann helfen, das Leben besser zu verstehen, indem sie der Besinnung Raum gibt, also der Frage nach Sinn, um allein oder gemeinsam mit anderen Antworten zu suchen. Sie ist ein Innehalten und Nachdenken, um Probleme zu identifizieren und zu analysieren, sie mit handlichen Begriffen fassbarer zu machen und mögliche Lösungen zu erkunden.“ (10)

„Wo einst eine Religion mit heteronomer Sorge vorgeben konnte, letzte Antworten zu kennen, geht es in der philosophischen Lebenskunst um die Stärkung der autonomen Sorge Einzelner, um sie in die Lage zu versetzen, eigene Antworten zu finden, ausgehend von ihrem eigenen Interesse am Leben, ihren Erfahrungen und allem, was damit zusammenhängt.“ (12)

„Es ist erstaunlich, welche Perspektivenwechsel Menschen vollziehen können, wenn ihnen das Leben Anlass dazu gibt.“ (25)

„Das Leben nicht ändern zu können, zugleich aber ideale Vorstellungen vom Leben zu hegen, die im realen Leben nur scheitern können: Das scheint ein Grundmuster im Leben vieler Menschen zu sein.“ (32)

„Er (i.e. ein Patient, H.K.) muss nicht länger ein makelloses und immer gleiches Bild seiner selbst, eine Identität (von lateinisch idem, gleich) wie eine Monstranz vor sich hertragen, sondern kann an seiner Integrität arbeiten, die er selbst definiert und in die er auch Abweichungen, Veränderungen, Widersprüche integrieren kann.“ (41)

„Philosophische Gespräche müssen nicht zielführend sein, sie können sich im Kreis bewegen, im Schweigen pausieren, in Ratlosigkeit münden, das ist seit Sokrates so und daran hat sich in zweitausend Jahren nicht viel geändert.“ (63)

„Kann es eine Lebenskunst angesichts des Todes geben?“ (71)

„In Frage steht […] das richtige Maß der Ansprüche an sich selbst: Anspruchsvoll zu sein und Exzellenz zu erstreben, hat nichts mit Perfektion zu tun. Es ist ein Element der Erfüllung, etwas so gut wie möglich zu machen, aber ein Anlass zur Verzweiflung, perfekt sein zu wollen. Perfekt sind eventuell Maschinen, die aber wenig menschliche Wärme ausstrahlen, es mangelt ihnen an Erfindungsreichtum und Humor.“ (125)

„Wir geraten ins Philosophieren über die Berührung, die Energie freisetzen kann. So könnte es sich verhalten: Zunächst ist die Energie reines Potenzial, aber wenn sie mit Hilfe von Berührung in Bewegung gesetzt wird, wird sie als Kraftwirksam. Menschen erfahren Kraft als volles, erfülltes Lebensgefühl, ihre Abwesenheit als leeres.“ (129)

„Alles, was ohne Überlegung geschieht, […] verhindert das Abwägen bei einer bewussten Lebensführung.Die Bewusstheit macht den Unterschied.“ (138)

„Kann es überhaupt ein Leben ohne Angst geben? Was ist Angst, was ist Leben? Die Angst ist ein Anlass, nachdenklich zu werden, […]. Aus der ängstlichen Sorge um das Leben kann dann im Laufe der Zeit eine umsichtige Sorge für das Leben werden.“ (144f)

„Aus der Weigerung, sich auf die Bedingungen einer Wirklichkeit einzulassen, folgt der Verlust jeglichen Könnens, mit der wirklichen Welt zurechtzukommen.“ (151)

„Beim Umgang mit Trauer und Tod lässt der theologische Seelsorger einige Distanz zur kirchlichen Lehre erkennen: In der Kirche werde zwar getrauert, die Trauer aber nicht wirklich ernst genommen. Es werde nicht durch die Trauer hindurchbegleitet, sondern über sie hinwegbegleitet, hinweggetröstet. Leitbild sei nicht der gekreuzigte, sondern der auferstandene Christus.“ (159)

Johannes Chrysostomus (4. Jhdt.): „Das probate Mittel zu ihrer Heilung, zur Erlangung des Heils, ei die Abwendung von allem Äußeren, Irdischen und die Hinwendung zum Inneren, Seelischen: ‚Richte deine ganze Sorge auf die Seele‘, auf dass in ihr die Sehnsucht nach dem göttlichen entzündet werde. Damit das zuverlässig geschieht, soll die Sorge um die Seelen […] zur Aufgabe für die Kirchenvorsteher werden. Das ist die Geburtsstunde der Seelsorge, die für die Geschichte des Christentums prägend wird: Nur mit der Führung durch einen Sorgenden wird die wankelmütige Seele des Einzelnen an den Versuchungen des Fleisches und der Trägheit des Geistes vorbei zum ewigen Heil geleitet.“ (166)

„Schweigen ist ein legitimes Mittel des Umgangs mit Lebensfragen.“ (174)

» Dass die Versuche, das Leben zu verstehen, die in der antiken Philosophie entwickelt wurden, in der modernen Zeit wieder aktuell werden, hat damit zu tun, dass die über Jahrhunderte hinweg verbindlichen Antworten auf Lebensfragen und Fragen der Lebensführung durch Religion, Tradition und Konvention an Selbstverständlichkeiten verloren haben. Damit sind Menschen bei der Lebensbewältigung mehr als je auf sich selbst verwiesen. Die Lebenshilfe, die eine Philosophie der Lebenskunst in dieser Situation offerieren kann, besteht darin, neu über das Leben nachzudenken. Die Bedingungen und Möglichkeiten einer bewussten Lebensführung zu reflektieren und die Resultate allen zur Verfügung zu stellen, die sich dafür interessieren. «
Schmid, Wilhelm (2017): Das Leben verstehen. Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers, Berlin, 240.

Die Fragen der Philosophie: Was die Gespräche antreibt: 1. Fragen der Phänomenologie, um zu erfassen, was der Fall ist. Um was geht es? Wie ist es beschaffen? Was ist geschehen? Wie ist es dazu gekommen? […] 2. Fragen der Hermeneutik, der Kunst der Deutung: Wie könnte es sich verhalten? Wie ist das zu verstehen? […] 3. Fragen der Panoptik, mit einem Blick fürs Ganze: In welche größeren Zusammenhänge ist das Geschehen eingebettet? Was ist darum herum und darüber hinaus? […] 4. Fragen der Terminologie dienen dazu, Worte und ihre Bedeutungen, also Begriffe mit ihrer Bestimmung und Begrenzung […] zu erschließen und wieder in Frage zu stellen. Welche Worte bringen am besten zum Ausdruck, was ich sagen will? Was bedeuten sie für andere? […] 5. Fragen der Optionalität eignen sich dazu, herauszufinden, ob und wie das Leben zu verändern ist, wenn dies wünschenswert ist, zuerst im Denken, dann im Handeln: Was ist möglich? Welche Wahl zwischen welchen Alternativen steht offen oder lässt sich eröffnen? […] 6. Fragen der Ethik, der Haltung und Entscheidung: Was könnte, was solle ich tun? Was hat Vorrang, wenn sich die Werte widersprechen? […] 7. Fragen der Asketik, um die nötigen Schritte zur Umsetzung einer Entscheidung zu gehen und damit das Problem des Übergangs von der theoretischen Einsicht zum praktischen Leben zu lösen […]. Welche Schritte führe zur Verwirklichung einer Möglichkeit Welche Anstrengung erfordert das von wem, welche Organisationsarbeit ist zu leisten, welche Gespräche sollte wer mit wem führen? […] Askese hilft bei Übergang vom gegenwärtig wirkliches zum künftig möglichen Leben, das den subjektiven Vorstellungen und Sehnsüchten von einem schönen Leben eher entspricht.“ (179-185)

„Auch das ist noch Autonome: Die autonome Negation der Autonomie.“ (187)

„Eine Voraussetzung für die Wahrnehmung von Autonomie ist Informiertheit.“ (192)

Zur Deutung einer Krankheit: „Die Deutung einer möglichen causa finalis brächte über das Woher hinaus ein Wohin in den Blick: Wohin kann die Krankheit ihn führen, zu welcher Einsicht und Neuorientierung, Reifung und Weiterentwicklung?“ (213)

„Wie können Individuen eine eigene Macht über ihr Leben gewinnen?“ (240)

„Dass die Versuche, das Leben zu verstehen, die in der antiken Philosophie entwickelt wurden, in der modernen Zeit wieder aktuell werden, hat damit zu tun, dass die über Jahrhunderte hinweg verbindlichen Antworten auf Lebensfragen und Fragen der Lebensführung durch Religion, Tradition und Konvention an Selbstverständlichkeiten verloren haben. Damit sind Menschen bei der Lebensbewältigung mehr als je auf sich selbst verwiesen. Die Lebenshilfe, die eine Philosophie der Lebenskunst in dieser Situation offerieren kann, besteht darin, neu über das Leben nachzudenken. Die Bedingungen und Möglichkeiten einer bewussten Lebensführung zu reflektieren und die Resultate allen zur Verfügung zu stellen, die sich dafür interessieren.“ (240)

Moderne, das bedeutet seit der Arbeit der Aufklärer im 18. Jahrhundert, die sie erdachten, Freiheit im Sinne der Befreiung von überkommenen Bindungen: Befreiung von religiösen, politischen, ökonomischen und natürlichen Zwängen, individuelle Befreiung von Gängelung durch Tradition, Konvention und Gemeinschaft.  Für viele Menschen brachte die Freiheit neue Lebensmöglichkeiten mit sich, aber sie erfordert auch eine eigene Bestimmung von werten zur Festlegung einer Haltung (Ethik) und eine individuelle bewusste Lebensführung (Lebenskunst). Jede Befreiung von Normen, was zu tun uns was zu lassen ist, zwingt Menschen dazu, die formen ihres Verhaltens selbst zu finden. Ansonsten entsteht die berüchtigte Beliebigkeit, die in der Moderne zwangsläufig um sich greift, da nichts mehr absolut feststeht, kein Wert letztverbindlich ist, jede Bindung, jede Beziehung jederzeit aufgelöst werden kann. Da die Loslösung von sämtlichen Bindungen letztlich als Zustand des Nichts, das Leben als leer und sinnlos erfahren wird, entsteht die Notwendigkeit, Bindung und Verbindlichkeit wiederherzustellen, Beziehungen zu knüpfen und sie nach Möglichkeit aufrechtzuerhalten.“ (247f)

„Immer hängt alles von Einzelnen ab, das ist die Grundeinsicht einer Philosophie der Lebenskunst.“ (254)

„Damit die Langeweile des Lebens nicht jegliche Spannung raubt, käme es für die Lebenskunst darauf an, etwas aus ihr zu machen, was das Leben bereichert, Muße zum Beispiel, die gerne gelebte Passivität, die die manische Aktivität des modernen Lebens konterkariert. Langeweile, die zumindest hier und da zur Muße wird, schützt vor Überfülle, sie schenkt dem von Informationen und Eindrücken zugeschütteten Selbst die Zeit, die hereinbrechenden Fluten wieder bis zur Lebensverträglichkeit einzudämmen. Gerade der Verzicht darauf, etwas zu wollen oder zu machen, verwandelt die Leere in eine Quelle der Inspiration und Kreativität.“ (264)

„Eine Kunst der Gefühle ist neu zu begründen, die weder die Bedeutung von Gefühlen leugnet noch ihnen blind Folge leistet.“ (289)

„Wie lässt sich Liebe retten? Indem sie nicht immer nur romantisch, sondern oft auch pragmatisch gesehen wird. Sie sollte gleichsam atmen können zwischen Romantik und Pragmatik.“ (299)

„Es ist ein historischer Gewinn, dass die Bewegung der Aufklärung und die daraus hervorgegangene Moderne die Befreiung von einem Glauben erkämpften, der jeden Versuch zur Veränderung und Verbesserung unterlief. Eine Metaphysik ist nicht an ein unveränderliches Sein, auch nicht an einen Willen Gottes gebunden. Sie geht lediglich von der Überlegung aus, dass in allem, was geschieht und existiert, etwas Wesentliches wirksam ist und alles Einzelne in ein umfassendes Ganzes eingebettet ist, sodass selbst der Zufall aus Zusammenhängen hervorgehen kann, die ein Mensch nicht immer kennt und schon gar nicht überblickt.“ (307)

„Mich offen zu halten für Menschen, denen ich begegne, hate ich mir selbst von Anfang an für meine Arbeit als philosophischer Seelsorger vorgenommen. Philosoph zu sein ist ein Spezialfall des Menschseins, einer von vielen. Aus der Nachdenklichkeit, die eine Möglichkeit jedes Menschen ist, macht der Philosoph einen Beruf, indem er sich inständiger als andere dem Durchdenken von Phänomenen und Problemen widmet, geleitet von einfachen Fragen wie: Was ist das? Warum ist das so und nicht anders? Wozu dient das? Das Nachdenken darüber ist geleitet vom Vertrauen darauf, dass mehr Verständnis einen besseren Umgang mit Menschen, Dingen und Verhältnissen ermöglicht, besser im Sinne von: Schöner und bejahenswerter. Philosophieren heißt die vielen kleinen und großen Zusammenhänge von Leben, Liebe, Arbeit und Welt zu bedenken , um die eigene Rolle und die von Anderen in diesem Rahmen klarer sehen zu können. Den Impuls dazu nimmt der Philosoph nicht nur von eigenen Fragestellungen auf, sondern auch von den Fragen derer, die über weniger Zeit für ein intensiveres Nachdenken verfügen. Die gefundenen Antworten gibt er an sie zurück.“ (315f)

Leben als Sein zum Tode? „‘Ja‘, antwortete ich, ‚aber was ist damit gemeint? Sich in jedem Moment der Vergänglichkeit des Lebens bewusst zu sein? Das wäre unmenschlich, das hält niemand aus. Humaner, lebensdienlicher wäre eher, vom Tode her zu leben. Denn wenn er die einzige absolute Gewissheit im Leben ist, dasjenige, worauf wir uns vollkommen verlassen können, kann diese Gewissheit als Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Überlegung genommen werden: Wo möchte ich angekommen sein, wenn die Gewissheit endgültig Wirklichkeit wird? Welche Schritte kann ich vom Tod aus in Gedanken rückwärts gehen bis zur Gegenwart, um von hier aus die Schritte vorwärts zu machen und zu verwirklichen, was ich mir vornehme, damit ich in unbestimmter Zukunft dort ankommen kann, wo ich hinwill? […] Das könnte bereits die einzelnen Schritte auf dem Weg dorthin schön und bejahenswert machen. Wenn ich weiß, wohin ich gehe, kann ich mich bedenkenlos dem Leben anvertrauen. Entscheidend ist dann nicht, wirklich anzukommen, sondern auf dem Weg zu sein, indem ich tue, was in meiner Macht steht.‘“ (343f)

Schluss des Buches:

„Gerne würde ich mit diesem Buch dazu beitragen, dass die Philosophie sich entschiedener als bisher mit den Lebensfragen befasst. Wenn der Sinn des Philosophierens die Besinnung ist, die immer neue Frage nach Sinn, nach Zusammenhängen, dann kann eine umfassende philosophischen Besinnung das Bewusstsein für konzentrische Kreise wachhalten, in denen Menschen leben. Ausgangspunkt ist das jeweilige Selbst, das seine Kreise zieht und Anderen vergeblich abverlangt, seine Kreise nicht zu stören, denn es lebt und arbeitet mit ihnen. Es ist eingebettet in engere Kreise mit einer überschaubaren Zahl von Anderen und in weitere Kreise mit sehr vielen Anderen in Institutionen und Unternehmen.

Darüber hinaus unterhält es eine Beziehung zur Gesellschaft, in der es als Bürger lebt, und zum jeweiligen Land, in dem es sich aufhält, und ist beheimatet auf dem gesamten Planeten, dessen Weltbürger jeder Mensch ist und von dessen ökologischen Ressourcen jeder abhängt. Zuletzt kann das Selbst sich eingegliedert fühlen in eine transzendente, kosmologische Dimension, mag es sich selbst auch nur für eine verschwindende Nichtigkeit halten. Eine bewusste Lebensführung und Ethik der Sorge möglich zu machen, die auf diese konzentrischen Kreise achtet, ist die Aufgabe eines philosophischen Seelsorgers.“ (380)

Köln, 01.10.2024
Harald Klein