Verw:ortet 11/2022: Byung-Chul Han (2021): Undinge. Umbrüche der Lebenswelt

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Vom Verlust der Hand- und Dingfestigkeit der Lebenswelt

Im Spätsommer habe ich mich mit den meist in Essayform geschriebenen Gedanken des koreanisch-deutschen Philosophen und Kulturwissenschaftlers Byung-Chul Han (*1959) auseinandergesetzt. Mit seinen Studienfächern Philosophie, deutsche Literatur und katholische Theologie ist er mir ein guter Gesprächs- bzw. Lektürepartner, und ich hatte und habe durch seine Schriften großen Gewinn in meinem Anliegen, Theologie und Soziale Arbeit philosophisch stimmig zusammenzusehen.

Zu den jüngeren Publikationen gehört das Büchlein „Undinge. Umbrüche der Lebenswelt“ erschienen 2021 bei Ullstein, Berlin. In den ersten Worten des gerade einmal 114 Seiten kleinen Büchleins eröffnet er den Lesenden, um was ihm mit dem Begriff „Undinge“ geht: „Die terrane Ordnung, die Ordnung der Erde, besteht aus Dingen, die eine dauerhafte Form annehmen und eine stabile Umgebung für das Wohnen bilden. Sie sind jene ‚Weltdinge‘ im Sinne von Hannah Ahrendt, denen die Aufgabe zukommt, ‚menschliches Leben zu stabilisieren‘.[1] Sie geben ihm einen Halt. Die terrane Ordnung wird heute durch die digitale Ordnung abgelöst. Die digitale Ordnung entdinglicht die Welt, indem sie sie informatisiert. Schon vor Jahrzehnten bemerkte der Medientheoretiker Vilém Flusser: ‚Undinge treten gegenwärtig von allen Seiten in unsere Umwelt, und sie verdrängen die Dinge. Man nennt diese Undingen Informationen.‘[2] Wir befinden uns heute im Übergang vom Zeitalter der Dinge zum Zeitalter der Undinge. Nicht Dinge, sondern Informationen bestimmen die Lebenswelt. Wir bewohnen nicht mehr Erde und Himmel, sondern Google, Earth und Cloud. Die Welt wird zusehends unfassbarer, wolkiger und gespenstischer. Nichts ist hand- und dingfest.“[3]

Die Zeit auf den Advent hin und in den Advent hinein eignet sich, in aller Ruhe, beinahe meditativ die eigene Lebenswelt vor Augen zustellen. Die Anstoße, die Han liefert, können einen neuen Einblick in Umbrüche der Lebenswelt geben, die wahrzunehmen nur gelingt, wenn man diesen Umbrüchen nicht erliegt, wenn man ihnen vielleicht altbacken Scheinendes entgegenstellt. Das überlasse ich aber gerne Ihnen. Hans Ausflüge vom Ding zum Unding, vom Besitz zum Erleben, seine Gedanken über Smartphone und Selfie, seine Unterscheidung zwischen Intelligenz und Künstlicher Intelligenz und seine Ansichten der Dinge, besonders der Herzensdinge münden in einen beinahe lebensrettenden Appell zur Stille. Wenn das mal keine Hinführung zum Advent sein kann.

Die Zitate sind entnommen aus Byung-Chul Han (2021): Undinge. Umbrüche der Lebenswelt, Berlin. Am Ende der Zitate finden Sie die Seitenzahl, die sich auf dieses Buch beziehen. Sie können hier diesen Artikel und die Zitate downloaden.

Die Zitate

„Die digitale Ordnung beendet die Epoche der Wahrheit und leitet die postfaktische Informationsgesellschaft ein. Das postfaktische Regime der Information erhebt sich über die Tatsachenwahrheit. Informationen in ihrer postfaktischen Prägung sind dingflüchtig. Wo nichts dingfest ist, geht jeder Halt verloren.“ (13)

„Zeitintensive Praktiken sind heute im Verschwinden begriffen. Zeitintensiv ist auch die Wahrheit. Wo eine Information die andere jagt, haben wir keine Zeit für Wahrheit.“ (13)

„Die Hand ist das Organ der Arbeit und Handlung. Der Finger hingegen ist das Organ der Wahl. Der handlose Mensch der Zukunft macht nur von seinen Fingern Gebrauch. Er wählt, statt zu handeln. Er drückt auf Tasten, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Sein Leben ist kein Drama, das ihm Handlungen aufnötigt, sondern ein Spiel. Er will auch nichts besitzen, sondern erleben und genießen.“ (16)

„Wir wollen uns heute weder an die Dinge noch an die Personen binden. Unzeitgemäß sind Bindungen. Sie schmälern die Erlebnismöglichkeiten, nämlich die Freiheit im konsumistischen Sinne.“ (20)

„Die Welt aus Informationen wird nicht durch Besitz, sondern durch Zugang geregelt. Bindungen an die Dinge oder Orte werden durch temporäre Zugänge an Netzwerken und Plattformen ersetzt.“ (20)

„Das ständige Herumtippen und -wischen auf dem Smartphone ist eine fast liturgische Geste, die sich massiv auf das Verhältnis zur Welt auswirkt. Informationen, die mich nicht interessieren, werden schnell weggewischt. Inhalte hingegen, die mir gefallen, werden mit Fingern herangezoomt. Ich habe die Welt ganz im Griff. Die Welt hat sich ganz nach mir zu richten. So verstärkt das Smartphone die Selbstbezogenheit. Herumtippend unterwerfe ich die Welt meinen Bedürfnissen. Die Welt erscheint mir im digitalen Schein totaler Verfügbarkeit.“ (26)

„In der digitalen Kommunikation ist der Andere immer weniger präsent. Mit dem Smartphone ziehen wir uns in eine Blase zurück, die uns vom Anderen abschirmt. In der digitalen Kommunikation fällt auch die Anrede häufig weg. Der Andere wird nicht eigens angerufen. Wir schreiben lieber Text-Nachrichten als anzurufen, denn schriftlich sind wir dem Anderen weniger ausgeliefert. So verschwindet der Andere als Stimme.“ (27)

„Der Narzissmus allein erfasst nicht das Wesen des Selfies. Das Neue am Selfie betrifft dessen Seinsstatus. Das Selfie ist kein Ding, sondern eine Information, ein Unding. Auch für die Fotografie gilt: Undinge verdrängen die Dinge. Das Smartphone bringt die fotografischen Dinge zum Verschwinden. Selfies als Informationen haben ihre Geltung nur innerhalb digitaler Kommunikation. Mit zum Verschwinden gebracht werden Erinnerung, Schicksal und Geschichte.“ (41)

„Selfies werden nur einmal zur Kenntnis genommen. Danach gleicht ihr Seinsstatus dem einer abgehörten Nachricht auf dem Anrufbeantworter.“ (42)

„Das pathos ist der Anfang des Denkens. Künstliche Intelligenz ist apathisch, das heißt ohne pathos, ohne Leidenschaft. Sie rechnet.“ (48)

„Wir sind heute überall vernetzt, ohne jedoch miteinander verbunden zu sein.“ (65)

„Die digitale Kommunikation ist extensiv. Ihr fehlt die Intensität.“ (65)

„Vernetzung ist nicht gleich Beziehung.“ (65)

Du wird heute überall durch Es ersetzt.“ (65)

„Die intensive Bindung verliert heute zunehmend an Bedeutung. Sie ist vor allem unproduktiv, denn allein schwache Bindungen beschleunigen Konsum und Kommunikation. So zerstört der Kapitalismus systematisch Bindungen.“ (86)

„Wir haben heute keine Zeit für den Anderen. Die Zeit als Zeit des Selbst macht uns blind für den Anderen. Allein die Zeit des Anderen bringt die intensive Bindung, die Freundschaft, ja die Gemeinschaf hervor.“ (87)

„Rituale sind Zeittechniken der Einhausung. Sie machen aus dem In-der-Welt-Sein ein Zu-Hause-Sein. Sie sind in der Zeit das, was im Raum die Dinge sind. Sie stabilisieren das Leben, indem sie die Zeit strukturieren. […] Die fortstürzende Zeit ist nicht bewohnbar.“ (88)

„Ohne Fantasie gibt es nur Pornografie. Die Wahrnehmung selbst weist heute pornografische Züge auf. Sie vollzieht sich als ein unmittelbarer Kontakt, ja als eine Kopulation von Bild und Auge. Das Erotische findet beim Augenschließen statt. Erst die Stille, die Fantasie erschließt der Subjektivität tiefe Innenräume des Begehrens.“ (94)

„Das Desaster der digitalen Kommunikation rührt daher, dass wir keine Zeit haben fürs Augenschließen. Die Augen werden zu einer ‚ständigen Gefräßigkeit‘ gezwungen. Die verlieren die Stille, die tiefe Aufmerksamkeit. Die Seele betet nicht mehr.“ (94 – zit. wird Barthes, Roland <1985>: Die helle Kammer, Frankfurt/Main, 65.)

„Der Lärm ist sowohl ein akustischer als auch ein visueller Schmutz. Er verhüllt die Aufmerksamkeit.“ (94)

„Wir produzieren uns heute unentwegt. Diese Selbst-Produktion lärmt. Stille machen heißt sich zurückzunehmen.“ (97)

Köln, 01.11.2022
Harald Klein

[1] Ahrendt, Hannah (1981): Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, 125.

[2] Flusser, Vilém (1993): Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München, 81.

[3] Byung-Chul Han (2021): Undinge. Umbrüche der Lebenswelt, Berlin, 7.