Um was es geht
Das Inhaltsverzeichnis ist bezeichnend für das gesamte Unternehmen des Buchs. Es weist schlicht drei Teile aus: „Davor – 1933 – Danach“. In seiner kurzen Rezension für www.buchszene.de spricht Tim Pfanner von einer Betrachtung eines Jahrzehnts durch die Liebespaare der Epoche.[1] Diese These geht in beide Richtungen. Zum einen: wie verändert sich das Zusammenleben von sich liebenden Menschen in Zeiten des erstarkenden Nationalsozialismus. Und zum anderen: wie wirkt der Nationalsozialismus, sein Menschen- und sein Weltbild, sich auf die Liebe von Menschen aus?
Dreh- und Angelpunkt ist der Sturz der Demokratie und die Übernahme der „Macht“ durch die Nationalsozialisten von 1933. Das Leben vor diesem gesellschaftlich-politischen Eingriff 1933 und das danach wird in der Beschreibung verschiedener Paare und verschiedensten Paaren unter dem Fokus der Partnerschaft, der Liebe, auch der Familie dargestellt.
Ich habe leider, das Buch mit Interesse lesend, nicht notiert, wer da alles in den Blick genommen wird, einige seien gerannt: Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, Henry Miller und Anais Nin, Marlene Dietrich und ihre wechselnden Männer- und Frauenaffären, Bertold Brecht und Helene Weigel, Hermann und Ninon Hesse, Thomas und Katja Mann, ihre Kinder Erika und Klaus und deren Liebschaften, der Filmmusik-Komponist Bruno Balz auf der Suche nach einem Partner, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Zelda und F. Scott Fitzgerald, Kurt Weill und Lotte Lenya, Walter Benjamin auf der Suche nach einer festen Bindung – und natürlich Erich Kästner und seine Mutter.
Der große Gewinn neben den Entdeckungen des Lebens derer, die Florian Illies abwechselnd in kurzen Passagen immer wieder ins Spiel bringt, ist die Erkenntnis, wie das Öffentliche einer Gesellschaft und ihre Politik das Private und das Privateste im Zusammenleben der Menschen beeinflusst, ihre Liebe und das Gestalten des Liebesleben stören und sogar zunichte machen kann.
Tim Pfanner lobt die sorgfältige Recherche und den geschmeidigen Erzählstil des Autors. Freiheitssehnsucht käme auf über 400 Seiten zum Ausdruck. Ich stimme dem vollkommen zu. Und hänge an: Wie steht es um unsere Freiheitssehnsucht, was das Leben in Partnerschaft, in Liebe und im Liebesleben angeht? Oder anders: Habe ich, haben Sie, haben wir ein Gespür dafür, was unsere Freiheit oder Freiheitssehnsucht in Sachen „Liebe“ und „Partnerschaft“, ja auch „Freundschaft“ und „Gefährtenschaft“ beeinflusst, unterdrückt, wenn nicht gar zu verhindern sucht? Und natürlich anders: Was es erhält, was es stärkt und befördert? Das wäre einen Gedanken, mehr noch: eines Gespräches oder gar eines Diskurses wert. In seiner unglaublichen Zusammenstellung auf 400 Seiten vermag Florian Illies bei einer wachen Leserschaft ein Gespür dafür zu erwecken!
Alle Zitate sind entnommen aus Illies, Florian (2021): Liebe in der Zeit des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929-1939, Frankfurt/Main. In Klammern sind die Seitenzahlen angegeben.
Davor
„Sie schreibt benebelt in ihr Tagebuch: ‚Ich trinke, um glücklich sein zu können.‘ Und er schreibt ein Buch nach dem anderen, um nicht unglücklich zu werden.“ (39 – die Rede ist von Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel)
„Alle glücklichen Paare ähneln einander. Aber alle unglücklichen sind auf eigene Weise unglücklich.“ (65)
„Es gibt Ehen, so sagt Thomas Mann, deren Entstehung sich auch die belletristisch gebildete Phantasie nicht vorstellen kann.“ (82)
„Die Liebe wird, wie jede Utopie, immer größer, je länger man auf sie wartet.“ (106)
„Benn sagt von Rilke, den er den ‚unerreichbaren deutschen Meister‘ nennt, er habe den Vers geschrieben, den seine Generation nie vergessen wird: ‚Wer spricht von Siegen -Überstehn ist alles.‘“ (121)
„Ihr (gemeint ist Simone de Beauvoir und ihr Verhältnis zu Jean-Paul Sartre, H.K.) wird langsam klar, dass es gefährlich wird, dass sie an nicht anderes mehr denkt als an ihn, dass er für sie die Welt bedeutet, dass sie nur lesen will, was er liest, das hassen, was er hasst, und das lieben, was er liebt. Sie spürt, dass sie darüber den Menschen zu verlieren beginnt, der ihr am wichtigsten sein sollte: sich selbst.“ (127)
„Es gibt keine Wahrheit. Es gibt nur Versionen.“ (131)
„Hesse flüchtet jeden Tag für Stunden in den Garten und jätet Unkraut, und er fährt zwei- oder dreimal pro Jahr zur Kur nach Baden. Ninon fährt, wie schon bei der Hochzeitsreise, allein nach Italien. Aber irgendwie halten die beiden weiter durch.“ (235)
1933
„Man kann kein Licht entdecken, solange man nur die Dunkelheit analysiert.“ (270)
Danach
„Schon im Oktober emigrieren die beiden (i.e. Mascha Kaléko und ihr Mann Chemio Vinaver, H.K.) mit ihrem geliebten Sohn in die USA, New York, 378/385 Central Park, wird ihre neue Heimat. Und ihre Liebe zueinander, die bleibt die alte. Und ihre Sehnsucht nach Berlin auch. Sie dichtet: ‚Gewiss, ich bin sehr happy / Doch glücklich bin ich nicht.‘“ (349)
„Und Hermann Hesse? Der kniet weiter in seinem üppigen Garten hoch über dem Luganer See und jätet Unkraut. Es ist für ihn auch die Möglichkeit, der Nähe seiner Frau Ninon zu entfliehen.“ (352)
„Sind wir Menschen nicht sonderbar, vor allem in unserer Rolle als Kinder?“ (361 – Zitat von Erika Mann)
„In mancher Liebe, so sagte Rainer Maria Rilke, gehe es darum, die Einsamkeit des anderen gut zu beschützen.“ (363)
„Immer wieder wird der Liederdichter Bruno Balz von den Nationalsozialisten verhaftet, weil er als Homosexueller gegen den Paragraphen 175 verstoßen hat. […] Aber die UFA braucht ihn. Er muss am 21. September 1936 sogar heiraten, die Gestapo findet dafür Selma Pett, eine dem Führer ergebene, schlichte Bäuerin aus Pommern, die offiziell in die Wohnung von Balz in der Berliner Fasanenstraße 60 zieht […]. Hier, zwischen seinem Geliebten, seiner Ehefrau und seiner Mutter, ersinnt Balz 1938 für Heinz Rühmann Ich brech‘ der Herzen der stolzesten Frau’n und für Zarah Leander Kann denn Liebe Sünde sein?“ (370)
„Am interessantesten scheint dieser Vortrag (von Ruth Landshoff, H.K.) gewesen zu sein: ‚Greta Garbo oder Emotion ohne Konsequenzen‘. Genau um diesen faszinierenden Umstand ging es also, dass sich eine ganze Generation jene Kälte zur Maxime erhoben hat, deren Lehrmeisterinnen Greta Garbo und Marlene Dietrich gewesen sind, diese beiden großen Unbeweglichen.“ (382)
Zum Suizid von Ernst Toller und zum zwei Tage später gestorbenen Joseph Roth: “‘S ist Krieg, s ist leider Krieg. Die Kameraden fallen‘, notiert Klaus Mann in sein Tagebuch, als er von diesen beiden Toten liest. Und Stefan Zweig, dessen Frau in Paris das Sterben von Roth begleitet hat, schreibt an Romain Rolland: ‚Wir werden nicht alt, wir Exilierten. Ich habe ihn wie einen Bruder geliebt.‘“ (387)
„Als Übersetzer von Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit hat (erg.: Walter, H.K.) Benjamin gelernt, dass das moderne Denken naiverweise nur nach vorn gerichtet ist, Erlösung jedoch eigentlich nur in der Vergangenheit zu finden ist. Erinnerung ist wichtiger als aktuelle Wahrnehmung oder Utopien, das ist Prousts großes Vermächtnis und seine tröstende Verheißung. Und Benjamin setzt sie um mit seinen hinreißenden Erinnerungen an eine Berliner Kindheit um 1900. Und mit seinem Lobpreis des Engels der Geschichte, der ihm im Jahre 1939 ein letztes Mal ein achtsamer Schutzengel zu sein versucht. Aber der Engel sieht, wie Benjamin weiß, bereits die Zukunft als Katastrophe vor sich.“ (395)
„Bruno Balz wird auf Erlass von Joseph Goebbels für 24 Stunden aus dem Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße 8 entlassen. Balz hat wegen seiner Homosexualität eingesessen, ist tagelang gefoltert worden, aber die UFA hat Goebels signalisiert, dass der neue Film von Zarah Leander nicht ohne Lieder von Balz zu Ende gedreht werden könne. Der Film soll Die große Liebe heißen. Balz wird im Morgengrauen nach Babelsberg gefahren. Unter den Augen der Gestapo komponiert er dort in nur 24 Stunden zwei seiner größten Songs: Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen und Davon geht die Welt nicht unter. Beides erweist sich als unzutreffend.“ (404 – Schlusssatz des Buches!)
Köln, 26.10.2023
Harald Klein
[1] vgl. [online] https://buchszene.de/liebe-in-zeiten-des-hasses-buchtipp/ [26.10.2023]