Um was es geht
Man könnte den Eindruck gewinnen, der 1959 in Seoul/Südkorea geborene und nach einem Studium der Metallurige in Seoul nach Deutschland gekommene Byung-Chul Han „könne nur Essays“ – wirklich auffällig viele seiner Schriften der letzten Jahre haben diese Form.
In Deutschland angekommen, setzte Byung-Chul Han seine akademische Ausbildung in Freiburg und München fort mit dem Studium der Philosophie, der deutschsprachigen Literatur und der katholischen Theologie. Von 2000-2010 war Byung-Chul Han Privatdozent am philosophischen Institut der Universität Basel. Anschließend lehrte er zwei Jahre als Professor für Philosophie und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Von 2012-2017 hatte er den Lehrstuhl für Philosophie und den Lehrstuhl für Kulturwissenschaft in Berlin inne.
Nach seiner Promotion über Martin Heidegger (Freiburg, 1994) und drei weiteren akademischen Schriften erschien bei Reclam/Stuttgart seine „Philosophie des Zen-Buddhismus“ (2002) und sein Bändchen „Was ist Macht?“ (2005), mit denen Byung-Chul Han den Kreis der akademisch-philosophischen Interessierten weit überstieg.
Die Schar seiner Leserinnen und Leser ist dann über seine Essays gewachsen, die bei Matthes & Seitz, Berlin, erschienen sind und optisch durch die Gestaltung des Covers sofort ins Auge fallen. Nennen möchte ich die „Müdigkeitsgesellschaft“ (2010), die „Topologie der Gewalt“ (2011), die „Transparenzgesellschaft“ (2012), die Gedanken zu „Im Schwarm. Ansichten des Digitalen“ (2013), „Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart“ (2019, bei Ullstein), „Kapitalismus und Todestrieb“ (2019), „Palliativgesellschaft. Schmerz heute“ (2020), „Undinge. Umbrüche der Lebenswelt“ (2021), „Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie“ (2021), „Vita contemplativa oder von der Untätigkeit“ (2022 bei Ullstein), „Die Krise der Narration“ (2023), „Der Geist der Hoffnung: Wider die Gesellschaft der Angst. Eine philosophische Gegenposition zum derzeitigen Krisenmodus“ (2024 bei Ullstein).
Es wird niemanden verwundern, dass mich – und nicht nur mich – Byung-Chul Hans verschiedene Fragestellungen, die er anhand seiner Studien (Philosophie, Literatur, Theologie) miteinander verwebt, mehr als anzuziehen oder zu faszinieren vermag. Wenn Sie auf dieser Seite unten in der Suchmaske den Namen Byung-Chul Han eingeben, können Sie die eine oder andere meiner Arbeiten zu ihm finden, er begleitet mich und mein Denken in den letzten fünf Jahren kontinuierlich.
Jetzt, 2025, kam ein weiterer Essay Byung-Chul Hans auf den Markt. Er trägt den Titel „Sprechen über Gott. Ein Dialog mit Simone Weil“. Sie sei vor einiger Zeit in ihn eingezogen, so beginnt das Vorwort des Essays. Und die gerade mal 116 Seiten Text geben Zeugnis davon, wie Simone Weil (1909-1943), die französiche Philosophin, Sozialrevolutionärin, Mystikerin und Autorin in Byung-Chul Hans Leben und Lehren Raum eingenommen hat.
Der kleine Essay über das „Sprechen über Gott“ ist nach dem Vorwort unterteilt mit Stichworten, die der Mystik Simone Weils angehören: „Aufmerksamkeit“, „Dekreation“, „Leere“, „Stille“, „Schönheit“, „Schmerz“ und „Untätigkeit“. Byung-Chul Hans Dialog mit Simone Weil, seine Kreativität im Hin und Her von Spiritualität und Gesellschaftsdeutung, vor allem seine – es mag kitschig klingen – unglaublich schöne Sprache, seine Sprachspiele und seine Sprachbilder haben für mich eine Dichte, dass ich den kurzen Essay in drei eigenen Kapiteln hierin der Sparte „verw:ortet“ vorstellen möchte. In verw:ortet 11/2025 geht es um „Aufmerksamkeit“, in verw:ortet 12/25 um „Dekreation“, „Leere“ und „Stille“, und in verw:ortet 01/2026 dann um „Schönheit“, „Schmerz“ und „Untätigkeit“.
Alle Zitate sind entnommen aus Byung-Chul Han (2025): Sprechen über Gott. Ein Dialog mit Simone Weil, Berlin. In Klammern sind hier die Seiten aus dem Buch genannt, auf denen sich die Zitate finden. Die innerhalb der Zitate vom Autor benutzten Zitationen aus den Werken Simone Weils und anderer Autor:innen sind der Klammer ebenfalls nach der Seitenangabe genannt.
Die Zitate
Aus dem Vorwort
„Vor einiger Zeit ist Simone Weil in mich eingezogen. Sie hat sich in meiner Seele eingerichtet. Nun lebt und spricht sie in mir weiter. Ich begann ein inneres Gespräch mit ihr. Ich empfand eine tiefe Zuneigung zu ihren Gedanken. Sie sprach etwas in meiner Seele an, dessen ich mir bisher nicht eigens bewusst war, das ich aber ständig, ja inständig in mir trug.“ (7 – die ersten Sätze des Buches)
„Ich empfinde eine tiefe Freundschaft, ja eine Seelenfreundschaft für Simone Weil. So kann ich, selbst fast nach hundert Jahren, von ihren Gedanken Gebrauch machen, um zu zeigen, dass es jenseits der Immanenz der Produktion und des Konsums, jenseits der Immanenz der Information und der Kommunikation eine andere höhere Wirklichkeit, ja eine Transzendenz gib, die uns aus dem ganz sinnentleerten Leben, aus dem bloßen Überleben, aus dem quälenden Seinsmangel herauszuführen und uns eine beglückenden Seinsfülle zu geben vermag.“ (8)
Aus dem Kapitel „Aufmerksamkeit“
„Die Krise der Religion ist somit auch eine Krise der Aufmerksamkeit, eine Krise des Sehens und des Hörens. Nicht Gott ist tot. Tot ist der Mensch, dem sich Gott offenbarte.“ (9)
„Wahrnehmung ist extrem gefräßig geworden. Ihr fehlt jede kontemplative Weite. Sie isst permanent. Der Konsum ist ihre Grundhaltung. […] Essen befriedigt nur Bedürfnisse. Allein Schauen erlöst uns aus der sinnentleerten Immanenz des Konsums.“ (9f)
„Die Schwerkraft reißt die Seele in die Tiefe. […] Die Schwerkraft beherrscht den natürlichen Teil der Seele. Die Völle des von ihr beherrschten natürlichen Teils der Seele verdrängt die Leere, die die Seele zum Schauen befähigt.“ (12)
„Die kontemplative Aufmerksamkeit ist der Wachsamkeit des Jägers entgegengesetzt. Sie sucht oder jagt nicht, sondern lauscht und verweilt. Die ziel- und ergebnisorientierte, interessengeleitete, herumschweifende Aufmerksamkeit des Jägers, die bestrebt ist, des gesuchten Objekts schnell habhaft zu werden, ist der religiösen Erfahrung abträglich. […] Die religiöse Aufmerksamkeit ist ein ‚Schauen‘, und kein ‚Suchen‘, kein ‚Anhaften‘. Vielleicht deshalb falten wir beim Gebet die Hände. Wir schauen ins Offene, das sich jedem Zugriff entzieht, in die Leere, die kein Anhaften zulässt. In der Leere gibt es nichts zu ‚essen‘, nichts, woran wir uns festklammern könnten. Wir gelangen nur dann in die befreiende Leere, wenn wir jedes Anhaften, jeden Willen fahren lassen.“ (12f)
„Die tiefe, kontemplative Aufmerksamkeit gilt dem Währenden, das bleibt und Bestand hat. Das Wahre ist das Währende. Die Herrschaft der Information zerstört es, indem sie uns in einen permanenten Aktualitätstaumel versetzt. Wer unfähig ist zur kontemplativen Aufmerksamkeit, zum Schauen, hat keinen Zugang zur Wahrheit, zur wahren, währenden Ordnung der Dinge.“ (15)
„Die Scheu ist eine Geisteshaltung, die uns den Zugang zum Unverfügbaren gewährt. Heidegger spricht von der ‚Langsamkeit der zögernden Scheu vor dem Unmachbaren‘. Die Scheu gilt dem Unverfügbaren. ‚Die Scheu ist das an sich haltende langmütig zugeneigte, sich erfüllende Hindenken zu Jenem, was nahe ist in einer Nähe, die einzig darin aufgeht, ein Fernes in seiner Fülle fern […] zu halten‘. Die Scheu ist eine Aufmerksamkeit, die beim Fernen verweilt, statt es sich aneignen zu wollen.“(16 – zitiert wird Heidegger, Martin<1982>: Hölderlins Hymne ‚Andenken‘, Gesamtausgabe, Band 52, Frankfurt am Main, 128.)
„Unter dem Aktivitäts- und Leistungszwang verlernen wir das kontemplative Schauen und Lauschen, das ein Nicht-Handeln, eine Untätigkeit wäre. […] Die kontemplative Aufmerksamkeit ist insofern nicht handelnd, also untätig, als ihr jeder Wille fehlt. Diesen göttlichen Teil der Seele geben wir aber zugunsten ihrer niedrigeren, natürlichen Teile auf, der vom Willen gesteuert ist. Der willentliche Akt erreicht aber Gottes Gegenwart nicht. “ (18f)
„Die kostbarsten Güter soll man nicht suchen, sondern erwarten. Denn der Mensch kann sie aus eigenen Kräften nicht finden, und wenn er sich auf die Suche nach ihnen begibt, findet er statt ihrer falsche Güter, deren Falschheit er nicht zu erkennen vermag.“ (20 – Weil, Simone <2024>: Das Unglück und die Gottesliebe, Berlin, 97.)
„Das höchste Tun geschieht ohne jede Willensanstrengung. Es gleicht einer Untätigkeit. ‚In einem Märchen der Brüder Grimm treten ein Riese und ein Schneiderlein miteinander in Wettstreit, wer der Stärkere sei. Der Riese schleudert einen Stein so hoch, dass es geraume Zeit dauert, bis er wieder auf die Erde zurückfällt. Das Schneiderlein lässt einen Vogel aufsteigen, der nicht zurückfällt. Wer keine Flügel hat, wird immer wieder zurückfallen.‘ Wer nur den Willen oder die Muskeln anzustrengen weiß, ist der Schwerkraft unterworfen. Er erschöpft sich und fällt zu Boden. Es ist die Untätigkeit, die die Seele beflügelt. Mit Willensanstrengung allein können wir uns nicht zum Himmel emporheben: ‚Die senkrechte Richtung ist uns versagt. Aber wenn wir lange Zeit den Himmel betrachten, steigt Gott hernieder und hebt uns empor.‘ Simone Weil zitiert Aischylos: ‚Das Göttliche ist mühelos.‘ Untätigkeit bedeutet nichts anderes als Mühelosigkeit. Wer untätig ist, nähert sich dem Göttlichen.“ (21f – zitiert wird Weil, Simone <2024>: Das Unglück und die Gottesliebe, Berlin, 236/234/233f.)
„Allein das aufmerksame Lesen gewährt uns gegen die Schwerkraft den Zugang zu höheren Seinssphären. Ohne tiefe Aufmerksamkeit können wir Gott nicht lesen. Die Gotteserfahrung ist also eine Frage der Lesart.“ (22)
„Die Aufmerksamkeit ist heute dermaßen abgestumpft, dass ihr jene Spitze fehlt, die Gott berühren könnte. Ihr fehlt die Vertikalität. Unsere Aufmerksamkeit wird vom Konsum von Reizen absorbieret. Dadurch wird sie flach, verliert jede Tiefe, jede Spitze. Wir haben die Fähigkeit zur religiösen Aufmerksamkeit, zum Gebet verloren.“ (23)
„Die Aufmerksamkeit hat auch eine soziale Dimension. So hat der Verfall der Aufmerksamkeit gravierende Folgen im Zwischenmenschlichen. Sowohl die Empathie als auch der Respekt beruhen auf der Aufmerksamkeit für den Anderen. Die Gesellschaft verroht, wenn die Aufmerksamkeit für den Anderen abhandenkommt. Die fehlende Aufmerksamkeit für den Anderen führt auch zur Zunahme von Gewalt.“ (24)
„Der aufmerksame Blick, der rettet, ist jenem Sartreschen Blick entgegengesetzt, der mich zu einem Objekt erniedrigt und mich bewertet, beurteilt, ja aburteilt. Der Sartresche Blick ist insofern ein natürlicher Blick, als er von der Ökonomie der Macht beherrscht ist. Beim Angeblickten erzeugt er ein Schamgefühl. Scham ist Anerkennung dessen, dass ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt.‘ Der Blick des Anderen bemächtigt sich meiner und entfremdet mich von mir selbst.“ (26)
„Der aufmerksame Blick ist kein natürlicher, sondern ein übernatürlicher Blick. Er transzendiert die Ökonomie der Macht. Er ist ein liebender, freundlicher Blick. Wer dem Anderen seine Aufmerksamkeit schenkt, nimmt sich zurück. Der aufmerksame Blick entfremdet mich nicht von meinem Sein. Vielmehr sorgt er dafür, dass ich zu mir selbst zurückfinde. Er verhilft mir zum Sein, statt sich meiner zu bemächtigen.“ (26f)
„Denken aber bedeutet mehr als Probleme lösen.“ (27)
„Die Künstliche Intelligenz ist ohne Geist. Ihr fehlt die schöpferische Aufmerksamkeit. Aufgrund ihrer Geistlosigkeit kann sie nur arbeiten oder rechnen. Sie ist nützlich, solange sich der Geist ihr nicht unterwirft. Sonst werden wir erneut zu Sklaven unserer eigenen Hervorbringungen.“ (27f)
„Begehren ist Eros. Wir leben heute in einer Zeit ohne Eros. Das Begehren weicht dem Bedürfnis. Im Gegensatz zum Begehren bedarf das Bedürfnis keiner tiefen Aufmerksamkeit. Geist ist aber Begehren. Das Zeitalter des Bedürfnisses ist also ein Zeitalter ohne Geist.“ (30)
„Ohne Religion, die uns zur Transzendenz erhebt, verkümmert das Leben zum Überleben. Das Leben wird zum bloßen, nackten Leben entweiht. Die Immanenz von Produktion, Konsum und Kommunikation nimmt dem Leben jede Weihe.“ (30)
„Eine paradoxe Spannung zeichnet das Denken aus. Es ist eine tätige Untätigkeit, eine aktive Passivität. Wer nur noch aktiv und tätig ist, ist unfähig zum Denken. Die pure Aktivität ist genau der Arbeitsmodus der rechnenden Intelligenz.“ (31)
„Das Kapital versucht, alles in seinen Kreislauf einzuschließen, um sich zu vermehren. Auch die Spiritualität, die eigentlich eine Gegenkraft zu ihm hätte sein können, fällt ihm zum Opfer. Die boomende Achtsamkeitsindustrie lässt die Spiritualität zur Technik der Selbstoptimierung oder der Stressreduktion verkommen. Wir haben es hier mit einem spirituellen Konsum zu tun. Die Achtsamkeit unterwirft sich der Selbstfürsorge (Self Care) und dem neoliberalen Selbstmanagement. Wieder geht es in erster Linie ums Ego. Ausgeblendet wird die soziale Achtsamkeit als Aufmerksamkeit für den Anderen.“ (38)
„Der Kapitalismus unterwirft alles dem Konsum und der Produktion. Auch die Spiritualität wird von ihm vereinnahmt. Erneut gehen Religion und Kapitalismus eine enge Bindung ein, wie ehemals der Protestantismus, der sich dem Kapital dienstbar machte, indem er die Erlösung ökonomisierte. Allein der Erfolg im Kapitalerwerb stellt die certitudo salutis dar, die Gewissheit, der Verdammnis zu entkommen, das heißt, zu den Auserwählten zu gehören. Die Achtsamkeit ist die Spiritualität des neoliberalen Regimes. Sie stelle die Spiritualität ganz in den Dienst der Produktion und Leistung. Völlig ausgeklammert wird dadurch die Möglichkeit, ja die künftige Aufgabe, die Arbeit selbst zu spiritualisieren.“ (38)
Köln, 01.11.2025
Harald Klein