Verw:ortet 12/2024: Jean-Pierre Wils – Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft

  • Worte, auf denen ich stehe
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Um was es geht

Quasi „über Nacht“ bin ich auf diese spannende Zeitanalyse des belgischen Philosophen Jean-Pierre Wilm gestoßen, der in den Niederlanden lehr und in am Niederrhein lebt. Die ca. 270 Seiten zeichnen in knapp gezogenen Linien die Freiheitsgeschichte westeuropäischer Länder nach, als „Befreiungsgeschichte“, aus der eine „Überdehnungsgeschichte“ wurde. Es geht darum, Verzicht zu lernen, aber auf dem Hintergrund der größeren Freiheit! Das Sprechen vom Verzicht, vom Maßhalten, von Sparsamkeit ist angesichts der Klimakatastrohe überfällig. Das Handeln in diesem Sinne noch viel mehr.

Nach vielen „Nach-Denkens-Werten“ Impulsen zu diesem Zusammenspiel aus Verzicht aus Freiheit und au  die Freiheit hin – nicht nur aus Notwendigkeit – stellt Wils Freiheit dar als eine Fähigkeit, an einem überschaubaren Ort zu leben, an dem wir bleiben dürfen, der uns auf lange Sicht die Gewähr bietet, auch in Zukunft die Freiheit nicht aufgeben zu müssen, so heißt es in einer namentlich nicht gekennzeichneten Beschreibung auf Amazon.

Die Reise hin zu einem weiter gültigen Begriff Freiheit über den und mittels des Verzichts hat mich beim nächtlichen Hören des Podcast im Rahmen des Philosophischen Radios in WDR 5 (Sendung vom 11.11.- ausgerechnet!) so begeistert, dass ich mich für die Ausarbeitung einer Rezension angemeldet habe und mir dadurch einen Leitfaden entwickle, die Evangelien der Advent- und Weihnachtszeit unter der Spannung „Verzicht und Freiheit“ zu bedenken.

Die Überschriften der einzelnen Kapitel lenken den Blick, sie sind daher ausnahmsweise hier mit abgedruckt. Alle Zitate sind entnommen aus Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft, Stuttgart. In Klammern sind hier die Seiten aus dem Buch genannt, auf denen sich die Zitate finden.

Die Zitate

Vorwort

„In immer kleinteiligeren und verbissener geführten Identitäts- und Kulturdebatten verausgaben wir uns, während ein globales Selbsterhaltungsproblem unsere Welt längst zu erschüttern begonnen hat. Sind wir noch bei Sinnen?“ (12)

„ In den Sommermonaten des Jahres 2023, zu Anfang der Ferienzeit, klebten sich Menschen fest auf den Startbahnen verschiedener Flughäfen. Alsbald wurden die Klebeprotestler als ‚Ökoterroristen‘ bezeichnet, und es affichierten Zeitungen mit der Überschrift, nun sein ‚eine rote Linie überschritten‘. Aber die Frage sei erlaubt, wer genau hier diese rote Linie überschritten hatte – die Anklebenden oder die Abhebenden, die Erdverbundenen oder die Davonfliegenden?“ (13)

„Das Wissen bleibt jedoch häufig arm an Konsequenzen.“ (14)

„Frei und beweglich , wie wir sein möchten, hat sich die einstige Freiheit, etwas nicht zu wollen, in einen Zwang, wollen zu müssen, aufgelöst.“ (16)

„Die Neuordnung unserer Freiheiten hat nämlich nicht zur Folge, dass wir weniger, sondern dass wir anders frei sein werden, vielleicht sogar besser frei, wenn diese Formulierung erlaubt ist. Und es ist ebenso wenig ausgeschlossen, dass wir womöglich sogar glücklicher leben werden.“ (18)

Mut zu Realismus. Über den Umgang mit schlechten Aussichten

„Wir, die Bewohner der späten Moderne, haben in der Tat zu einer Scheinrealität Zuflucht gesucht. Den hohen Kosten unserer Lebensweise haben wir den Rücken zugewandt und uns temporeich und ohne ein Gespür für das Maß verlustiert. Wie ein Kreisel wirbelten wir um die eigene Bedürfnisachse und verloren im Rausch der Umdrehungen die Sicht auf die Umgebung.“ (60)

„Wer lediglich auf die optimistischen Eigenqualifikationen wie ‚Autonomie‘, ‚Authentizität‘, ‚Bestbestimmung‘ und ‚Selbstermächtigung‘ schaut, wird einer halbierten Anthropologie , einem hinkenden Menschenbild begegnen, in dem die realen Umwelten und mancherlei Widrigkeiten des Lebens ausgeblendet worden sind.“ (66)

„Erfahrung ist gegenwärtige Vergangenheit, […] Erwartung vergegenwärtigte Zukunft.“ (67 – zitiert wird Koselleck, Reinhard (1984): ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungsraum‘ – zwei historische Kategorien, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik vergangener Zeiten, Frankfurt/Main, 349-375, hier 354f.)

Übergewichtiges Leben – Luxus im Zwielicht

„Wir riechen den Tod nicht, solange wir in parfümierten Welten leben.“ (142)

„In dem Moment, wo wir das ‚Notwendende‘ mittels des Luxus hinter uns lassen, fängt der Genuss an.“ (150)

„Den Wunsch, zu genießen, sollten wir von diesem Exzess der Werbung abkoppeln.“ (152)

„Die Freundschaft mit den Weniger an Dingen wird uns guttun.“ (156)

Magersüchtige Freiheit – eine Abschaffung

„Es fällt nicht schwer, in  der aufgewühlte und teils aggressionsgesättigten Gegenwartskultur das prominenteste Streitobjekt zu finden. Es ist das der Freiheit.“ (160)

„Die Freiheitsgeschichte der Moderne ist eine Befreiungsgeschichte.“ (161)

Welche Freiheit aber als ‚das höchste Gut‘ bezeichnet wird, ist in einem hohen Maß kontextabhängig.“ (161)

„Aus der Erweiterungsgeschichte der Freiheit ist […] eine Überdehnungsgeschichte geworden, aus der Begehung immer neuer Räume deren progressive Vernichtung.“ (162)

„Es sind nicht zuletzt die Anforderungen des hyperdynamischen Kapitalismus, der hohe Flexibilität und permanente Veränderungsbereitschaft verlangt, die das Gefühl entstehen lassen, kein kohärentes Leben mehr führen zu können.“ (170)

„Freiheit ist immer das Resultat eines ‚Wir‘, nicht bloß der Besitz eines ‚Ich‘. Nur im Bündnis mit anderen wurden wir uns sind wir.“ (176)

„Die Form der subjektiven Rechte unterhält keinen substanziellen Bezug zu ihrem Gehalt. Dessen Qualität wird tendenziell neutralisiert, denn über dem Was meiner Entscheidung triumphiert das Dass dieser Entscheidung. Dass ich sie fälle, bietet genügend Rechtfertigungsstoff für das Was. Ihre Form genügt.“ (186)

„Sich-Kapitalisieren lautet die Devise: Versilbere Dein Aussehen, bringe Deine Fähigkeiten gewinnbringend auf den Markt, stimuliere Dein Potential und setzt es effektiv und ertragreich ein, stelle Deine Einmaligkeit heraus und zeige Deine souveräne Unabhängigkeit von gestanzten Erwartungen und vorgeprägten Normen. Damit diese Dynamik sich entfalten kann, werden Frei- und Großräume für ihre Realisierung benötigt.“ (195)

„Es sei an dieser Stelle noch einmal erinnert an Sloterdijks Formulierung, heutzutage wären ‚Autonomie und Verzweiflung Synonyme‘ geworden.“ (197)

„Wir müssen uns daran erinnern, dass Freiheit ein Beziehungswort ist, eine Vokabel, die auf Rücksichtnahme, Kommunikation und Kooperation hinweist, nicht zuletzt auf Zivilisierung unserer Ansprüche. Unsere Freiheit wird auch in Zukunft kommunikativ und kooperativ sein oder sie wird nicht mehr sein.“ (204)

Die Rückkehr der öffentlichen Güter und die Allmende

„Die Gefangenen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung kultivieren Zerrbilder ihrer realen Lage, deren Veränderung aussichtslos ist, solange das Gefängnis nicht abgerissen wird.“ (209)

„Angesichts der bevorstehenden Aufgaben, die aufwühlend und konfliktträchtig sein werden, müssen wir eine Balance zwischen unseren Einsichten – unserem Wissen – und unseren Affekten finden. Affekte ohne Argumente führen in eine blinde Wutpolitik, aber Argumente ohne Affekte lassen uns zurück inmitten einer kalten Rationalität, die uns nicht zu motivieren vermag. Der erforderliche Mut zum Realismus enthält beides. Realismus ist ein Gebot des Verstands, Mut ist eine Emotion, die zum Handeln motiviert.“ (210)

Zur Anziehungskraft der Allmende: „Die Anziehungskraft der Allmende hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sie ein Regelwerk voraussetzt, das auf Begrenzung beruht und somit in einer endlichen Welt zukunftstauglich ist. [… – z.B. Weideland als Allmende:] Es darf keine totale Beweidung geben. Temporär unangetastete Landreserven sind erforderlich. Und zweitens: Die Art der Nutzung unterliegt strengen Auflagen. Die Herden dürfen beispielsweise keine beliebige Größe besitzen, die Art des Hütens ist geregelt, die zulässigen Haltungsformen sind festgelegt. Wer diese zwei Prinzipien formalisieren möchte, damit sie auf andere Situationen angewendet werden können, sollte sich […] auf zwei Prinzipien konzentrieren. Da steht an erster Stelle ‚die Beschränkung des Zugriffs auf ertragsversprechende Güter‘, also die Bereitschaft zur Rationierung. Das zweite Prinzip enthält ‚die Verpflichtung zur Reinvestition in die ‚Gemeingüter, die bei der Produktion oder beim Konsum verbraucht werden.‘ Beide Strategien verhindern die Erschöpfung des jeweiligen Allmende-Bereichs. Die Funktionsweise der Allmende beruht demnach auf dem Regelwerk einer kollektiven Verwaltung, welches die Zugriffsberechtigung bestimmt und die Extraktionsmenge festlegt. Von zentraler Bedeutung muss die Einwilligung mit Beschränkungen bewertet werden, die Bereitschaft zum Verzicht auf eine Bewirtschaftungsweise, die das Allmende-Gut überbeanspruchen und infolgedessen auf Dauer zugrunde richten würde. Die elementare Voraussetzung für eine solche Praxis liegt in dem Verbot, auf den bewirtschafteten Bereich einen privaten Eigentumstitelzu besitzen. […] Davon zu unterscheiden ist jedoch der Besitztitel, der lediglich die tatsächliche Sachherrschaft über ein Gut regelt und nur mit einem begrenzten Zugriff auf dieses einhergeht.“ (224f)

Die Kunst des Provisorischen und die Schaffung von Überlebensräumen

„Die Erzählung des ‚Fortschritts‘, die solange unser Leitbild war, ist auserzählt.“ (233)

„Daher tut es not, von einigen Dingen Abschied zu nehmen, um andere besser zu bewahren. Es tut not zu entscheiden, was von dem Geschaffenen vor unserem Vergessen und für diejenigen, die nach uns kommen, gerettet werden soll, und was nicht. Kurz gesagt, eine Strategie der Bewahrung tut not. Ein Projekt der Erhaltung. Voraussetzung für ein derartiges Projekt ist ein Werturteil. Was verdient es, dass man es erhält, und was kann beseitigt werden, um Platz für Neues zu schaffen?“ (241f)

Fünf Aufgaben

„Wir benötigen – erstens – eine Mikropolitik der Lebensstile. Eine solche Politik kann nur eine demokratische sein, wenn sie bereit vor der Haustür anfängt. Diese These ist überaus anspruchsvoll, denn sie setzt voraus, dass wir die Bereitschaft kultivieren zu bleiben.“ (247)

„Es steht – zweitens – eine Prüfung unseres Bedürfnishaushalts, unserer Bedürfnisökologie an. Diese Prüfung fängt, wie so oft, bereits mit einem kritischen Blick auf die Sprache an. Die Rede von ‚Bedürfnissen‘ ist nämlich längst nicht so unschuldig, wie wir vermuten.“ (248)

„Es steht – drittens – die Verabschiedung unserer Freundschaft mit den Illusionen des Weiter-so an, die Aufhebung unserer Realitätsverleugnung, die Vermeidung von euphemischen Beschönigungs- und Verschönerungssprachen.“ (249)

„Es kommt – viertens – auf die Rehabilitierung der öffentlichen Güter mittels fundamentalökonomischer, also regional verankerter demokratischer Entscheidungsverfahren an. Die öffentlichen Güter repräsentieren, wie wir gesehen haben, fundamentale Daseinsbedingungen: Wohnen, Bildung, medizinische Versorgung und Pflege, Energie- und Wasserversorgung, nicht zuletzt ein bewohnbares Klima. Die Bereitstellung und die demokratische Verwaltung ihrer Infrastruktur gehören zum Bereich der ‚Fundamentalökonomie‘. Die Bedingungen für ein sicheres und zivilisiertes Leben werden hier bereitgestellt. Die erforderlichen staatlichen Maßnahmen sollten wir nicht unterschätzen, aber die demokratische Praxis, die zu ihrer Gewährleistung erforderlich ist, findet vor Ort statt. […] (249f)

Wir sollten – fünftens – den Mut aufbringen, unser Sprachregister zu erweitern. Dazu wird die Enttabuisierung von Verbots- und Verzichtsbegriffen gehören. Kategorien wie diese, aber auch Begriffe wie ‚Maßhalten‘, ‚Sparsamkeit‘ oder ‚Einschränkung‘ müssen wir von ihrem Nimbus des Negativen befreien. Sie werden Bestandteil einer Lebensform der ‚Selbstbescheidung‘ sein.“ (249f)

Köln, 01.12.2024
Harald Klein