Verw:ortet 12/22: Wulf, Andrea – Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich

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Liebe auf den ersten Blick…

Da besuche ich eine gute Freundin, die ich von einer Indien-Reise kenne, in Freckenhorst. Wir fahren nach Münster, bummeln durch die Stadt, halten Einkehr beim „Christus ohne Arme“ in St. Ludgeri, stehen unter Kanzel in St. Lamberti, von der herab Bischof Clemens von Galen, der Löwe von Münster, im Sommer 1941 zwei seiner drei Predigten gegen die „Tötung unwerten Lebens“ hielt, und fallen in ein schweigendes Anschauen in der profanierten Kirche der Dominikaner, in der die Besucherinnen und Besucher einer Installation von Gerhard Richter „Zwei Graue Doppelspielgel für ein Pendel“ begegnen – mehr zu dieser absolut sehens- und erlebenswerten Installation finden Sie hier.

Als Ausklang kommen wir zu einer nahegelegenen Buchhandlung. Und vielleicht durch die großartigen Orte und künstlerischen Begegnungen vorbereitet, nahm es mir in der Philosophie-Abteilung gleich zweimal den Atem. Da liegen, wie zeitgleich entstanden und inhaltlich aufeinander Bezug nehmend, zwei Bücher, die bei mir das Gefühl der Liebe auf den ersten Blick auslösten. Zum einen eine biografische Erzählung der dem Jenaer Kreis zuzurechnenden Philosophinnen und Philosophen der Frühromantik im ausgehenden 18. Und beginnenden 19. Jahrhundert (Friedrich von Schiller und Johann Wolfgang von Goethe, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schelling, August Wilhelm Schlegel und seine Frau Caroline, sein Bruder Friedrich Schlegel und seine Frau Dorothea, Friedrich von Hardenberg, gen. Novalis, Wilhelm von Humboldt und sein Bruder Alexander und Ludwig Tieck.

‚Fabelhafte Rebellen“ und „frühe Romantiker“ nennt Andrea Wulf (und nicht nur sie) die Mitglieder des Jenaer Kreises, und als Leistung der Frühromantiker steht noch „die Erfindung des Ich“ im Titel ihres Buches. Sowohl die Ideengeschichte als auch die Biographien der dieser Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zuzurechnenden Männer und Frauen erzählt Andrea Wulf nach, in meiner Rezension des Buches habe ich versucht, den Weg nachzuzeichnen.

Und gleich daneben – wie eine Weiterführung – liegt das Buch Eberhard Rathgebs, des Feuilletonisten der FAZ, das den Titel „Die Entdeckung des Selbst“. Als sei es abgesprochen: Die eine zeichnet die „Erfindung des Ich“ in der Philosophie nach – der andere greift diese Phase auf und wird – hoffentlich – anhand der Philosophie von Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche zeigen.

Aber soweit bin ich noch nicht. In diesem verw:ortet-Beitrag geht es um das eine oder sicher sehr aus dem Zusammenhang heraus gerissene Zitat derer, die das Ich in der Philosophie erfunden haben. Die Zitate sind entnommen aus Wulf, Andrea (2022): Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich, München. Am Ende der Zitate finden sie die Seitenzahl, die sich auf dieses Buch beziehen. Dort können Sie ggf. auch die Quellen nachlesen, sofern Quellen der Frühromantiker zitiert wurden.

Die Zitate

„Die Französische Revolution bewies, dass Ideen stärker waren als die Macht von Königinnen und Königen.“ (28)

„Die Kehrseite all dieser wissenschaftlichen Erfindungen, Produktivität und Nützlichkeit, so befürchteten die Freunde in Jena, war, dass sich die Menschheit zu sehr allein auf den Verstand konzentrierte. Die Realität, so glaubten sie, sei der Poesie, der Spiritualität und des Gefühls beraubt worden.“ (30)

„Hatte der britische Philosoph John Locke im späten 17. Jahrhundert noch darauf beharrt, dass der menschliche Geist ein unbeschriebenes Blatt sei, das sich im Laufe des Lebens mit Wissen fülle, das allein aus Sinneserfahrungen stammte, so erklärte der Jenaer Kreis, dass neben der Vernunft und dem rationalen Denken auch die Fantasie ihren Platz haben müsse. Die Freunde wandten den Blick nach innen.“ (30)

„Aber was bedeutet Romantik? Heute assoziiert man mit dem Begriff eher Künstler, Dichter und Musiker, die das Emotionale betonen und sich danach sehnen, mit der Natur eins zu werden. Bilder von einsamen Gestalten in mondbeschienenen Wäldern oder auf zerklüfteten Klippen über Nebelmeeren werden ebenso mit der Romantik in Verbindung gebracht wie Gedichte über verlassene Liebende. Manche behaupten, die Romantiker lehnten die Vernunft ab und feierten den Irrationalismus; andere argumentieren, dass sie die Idee eines absoluten Wissens zurückgewiesen haben. Wenn wir jedoch die Anfänge der Romantik betrachten, stoßen wir auf etwas viel Komplexeres, Widersprüchlicheres und Vielschichtigeres. Dass sich Denker, Historiker und Wissenschaftler nicht auf eine kurze und prägnante Definition der Romantik einigen können, hätte den Jenaer Freunden gefallen, weil sie gerade diese Undefinierbarkeit des Begriffs schätzten. Sie selbst haben nie versucht, starre Regeln aufzustellen – tatsächlich zelebrierten sie gerade das Fehlen von Regeln. Es ging ihnen nicht um eine absolute Wahrheit, sondern um den Prozess des Verstehens. Sie rissen die Grenzen zwischen den Disziplinen ein, überwanden dabei die Trennung zwischen Kunst und Wissenschaft und stellten sich gegen das Establishment. August Wilhelm Schlegel erklärte lange nach seinem Weggang aus Jena, was die Gruppe versucht hatte: Sie hätten Poesie und Prosa, Natur und Kunst, Verstand und Sinnlichkeit, Irdisches und Göttliches, Leben und Tod miteinander verwoben. Sie wollen das zunehmend mechanische Rasseln der Welt poetisieren.“ (35f)

„Der Jenaer Kreis wollte verstehen, wie die Welt einen Sinn ergibt. Fragen wie ‚Wer sind wir?‘, ‚Was können wir wissen?‘, ‚Wie können wir verstehen?‘ und ‚Was ist die Natur?‘ näherte man sich durch eine Untersuchung des Ich. Diese Selbstreflexion wurde zur Methode, um die Welt zu verstehen, und dieser Blick nach innen wurde wiederum Teil der gelebten Realität des Jenaer Kreises. Indem sie ihr Selbst erkundeten, brachen viele Frühromantiker mit Konventionen und befreiten ihr Ich aus unglücklichen Ehen oder langweiligen Karrieren. Sie waren rebellisch und fühlten sich unbesiegbar. Ihr Leben wurde zum Spielplatz dieser neuen Philosophie.“ (37)

„Die Geschichte ihres Wandelns auf dem schmalen Grat zwischen der Macht des freien Willens und der Gefahr, sich darüber nur mit sich selbst zu beschäftigen, ist von universeller Bedeutung. Seither steht das Ich im Mittelpunkt, im Guten wie im Schlechten.“ (37)

„Ohne Freiheit, sagte Fichte, sei Moral nicht möglich.“ (72)

„Alles, was sich mittels Vernunft erreichen lasse, ist bereits erreicht worden, schrieb Schiller. Vernunft, Rationalität und Empirismus hatten eindrucksvolle Erkenntnisse gebracht, aber es fehlte die Verfeinerung des moralischen Verhaltens. Alles Wissen dieser Welt könne nicht den Sinn des Menschen für Recht und Unrecht entwickeln – vielmehr könnte es ihn dazu befähigen, universelle Rechte wie Freiheit und Gleichheit zu definieren und zu verkünden.“ (84)

„Messungen, wissenschaftliche Daten, Experimente und Klassifizierungen konnten nicht auf alles eine Antwort liefern. Das hieß nicht, dass Novalis gegen die Vernunft oder das Forschen war – aber er plädierte für eine Synthese. Das poetische Denken, so erklärte er, gelange an Orte, an die Philosophie und Wissenschaft nicht kämen. ‚Je poetischer, je wahrer‘, schrieb er.“

„Die Welt zu romantisieren, so behauptete er (i.e. Novalis, H.K.), heiße, uns den Zauber und das Wunder der Welt vor Augen zu führen. Die Aufgabe bestand darin, das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen zu sehen.“ (190)

„Die ursprüngliche Bedeutung lautete ‚romanhaft‘ und heute bringen wir das Wort mit Liebe oder einer (Liebes-) Romanze in Verbindung – doch für die Freunde in Jena war Romantik etwas viel Ambitionierteres und weiterreichendes. Sie wollten die ganze Welt romantisieren – und das hieß, sie als ein zusammenhängendes Ganzes zu begreifen. Es ging ihnen um die Verbindung zwischen Kunst und Leben, zischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Mensch und Natur. So wie zwei Elemente eine neue chemische Verbindung eingehen können, so konnte romantische Dichtung verschiedene Disziplinen und Themen zu etwas Unverwechselbarem und Neuem verschmelzen.“ (202)

„‘Symphilosophie [ist] der eigentliche Nahme für unsere Verbindung‘, verkündete Friedrich Schlegel. Der Begriff beruht auf der Vorstellung, dass zwei individuelle Geister zusammengehörten. Wie getrennte Hälften konnten sie ihr volles Potenzial nur erreichen, wenn sie sich zusammentaten.“ (206)

„Zusammengenommen war das Wissen, das in den Köpfen der Jenaer Freunde vorhanden war, wie eine große wandelnde Enzyklopädie, die ein breites Spektrum von Themen abdeckte, von der Antike bis zur vergleichenden Anatomie, von der Elektrizität bis zur spanischen Literatur, von der Philosophie bis zur Poesie, von der Geschichte bis zur Botanik – ganz im Gegensatz zu den Gesprächen, die Goethe mit den Höflingen in Weimar führte.“ (233)

„Schelling gab dem Menschen einen Platz in der Natur, sie waren sowohl eins mit ihr als auch ein Teil von ihr. ‚Solange ich selbst mit der Natur identisch bin‘, sagte Schelling zu seinen Studenten, ‚verstehe ich, was eine lebendige Natur ist so gut, als ich mein eigenes Leben verstehe.‘ In der Natur zu sein – wandernd, erforschend, denkend – war also immer auch eine Selbstentdeckung.“ (236)

„Die natürliche Welt war nicht mehr Gottes wohlgeordnetes Uhrwerk oder ein Stück göttlicher Kunstfertigkeit – sie war lebendig.“ (237)

„Novalis, Friedrich, Caroline und Dorothea glaubten, dass ihre persönlichen Erfahrungen Spiegelbild einer größeren Welt waren. Ihr Privatleben und ihre Gefühle waren wichtig genug, um auf einer universelleren Ebene Widerhall zu finden.  Wie ein Lichtstrahl, der sich durch ein Prisma in ein Farbspektrum bricht, wurde ihr enger Fokus auf das eigene Ich durch ihre Schriften in umfassendere, breitere Perspektiven gebrochen.“ (268)

„Und da er (i.e Goethe) aus Weimar nicht wegkonnte, schickte er Christiane und den gemeinsamen Sohn August nach Jena – ‚denn dabei bleibt es nun einmal: dass ich ohne absolute Einsamkeit nicht das mindeste hervorbringen kann.‘“ (272)

„Am 14. November 1799, dem dritten Tag des Treffens, wurden die Diskussionen noch hitziger, als Novalis der Gruppe seinen neuen Essay Die Christenheit oder Europa vorlas. Darin forderte er eine neue Religion, die auf Gefühl, Schönheit und Liebe basierte und nicht auf Doktrinen oder einer institutionalisierten Kirche.“ (288)

„Die Aufklärung mit ihrer Ausrichtung auf das rationale Denken, so Novalis, habe die Welt der Spiritualität beraubt. Warum, so fragte er, wurde religiöser Enthusiasmus nun mit Fanatismus gleichgesetzt, warum wurden Fantasie und Gefühle als ketzerisch gebrandmarkt? Die Welt war zu einer materialistischen Maschine geworden, zu einer ungeheuren Mühle, die sich unablässig drehte und sich dabei selbst zu Staub zermahlte. Mit ihrem Gerede von Vernunft, Produktivität und Nützlichkeit hätten die Wissenschaftler und Philosophen der Aufklärung versucht, der Natur jedes Wunder und jede Ehrfurcht auszutreiben.“ (289)

„‘Ich kann ohne Liebe leben‘, hatte Caroline viele Jahre zuvor gesagt, ‚aber wer mir die Freundschaft nimmt, der nimmt mir alles, was mir das Leben lieb macht.“ (319)

„Fichte verfügte über einen außergewöhnlichen konzeptuellen Verstand und eine scharfe Deduktionsfähigkeit, räumte Caroline ein, aber sein Denken hat nichts Poetisches an sich. ‚Er hat das Licht in seiner hellsten Helle‘, erklärte sie Schelling, aber Du auch die Wärme.‘“ (335)

„Alexander Humboldt wandte sich zwar nie von den rationalen Methoden ab, öffnete aber stillschweigend die Tür zur Subjektivität. Instrumente, Messungen, Daten und strenge Beobachtung allein reichen nicht aus, sagte er, denn ‚was zu unserem Gemüte spricht, […] entzieht sich er Messung.‘“ (395)

„Freud sprach 1930 sogar von ‚Goethes Verbindung zur Psychoanalyse‘ und wagte die Vermutung, dass der Dichter womöglich seine Freude daran gehabt hätte. Hatte Goethe nicht gesagt: ‚Suchet in euch, so werdet ihr alles finden?‘ Zwischen Freuds Theorien und den Ideen, die aus Jena kamen, gibt es zahlreiche Parallelen, darunter die Einheit von ich und Natur, das Konzept des unbewussten Ich und den Wert der Fantasie.“ (412)

„Die Freunde taten etwas völlig Neues, als sie kühn das Ich und den freien Willen in den Mittelpunkt stellten. Ihre Ideen sind tief in uns verwurzelt. Fichte stellte das ich in da Zentrum seiner Philosophie, und dort steht es heute noch.“ (413)

„Wenn wir heute von Ichbezogenheit sprechen, meinen wir eine egoistische Person, die nur auf ihr Vergnügen und ihren Vorteil bedacht ist. Betrachtet man jedoch den historischen Kontext und die ursprüngliche Konzeption, so befreite die ‚Kunst, ichbezogen zu sein‘ das Ich, um eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Eine Gesellschaft, die aus Individuen bestand, die nicht mehr von Monarchen und Herrschern auf einen vorbestimmten Platz und Lebenswegs gezwungen wurden, sondern die selbst über ihr Schicksal und ihre Identität bestimmten.“ (414)

„Der Kreis der Jenaer Frühromantiker hat unserem Verstand Flügel verliehen. Wie und wozu wir diese Flügel nutzen, liegt ganz allein bei uns.“ (415)

Köln, 29.11.2022
Harald Klein