Vierter Adventssonntag: Gegenwärtige Vergangenheit vs. vergegenwärtigte Zukunft

  • Auf Links gedreht - Das Evangelium
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Heimsuchung – Johannes trifft Jesus

Es ist schon verrückt, wie Kulturkreise oder Institutionen ihre eigene Sprache bilden und weitergeben, bis dahin, dass Begriffe nicht mehr nicht nur „univok“, d.h. eindeutig, unverwechselbar, oder „äquivok“, d.h. mehrdeutig sind, so, dass Du ein Ratespiel daraus machen kannst. Du kennst doch das „Teekesselchen“ mit dem Raten nach dem „Schloss“ als „Türschloss und als herrschaftlichem Gebäude“.

„Heimsuchung“ gehört einer dritten Gruppe, der Gruppe der „analogen“ Begriffe an, zumindest im Zusammenhang mit dem Besuch Mariens bei Elisabeth. Das Evangelium erzählt, Maria sei aufgebrochen und übers Gebirge zu ihrer Verwandten Elisabeth geeilt. Warum hier von der „Heimsuchung“ Mariens die Rede ist, erschließt sich mir zumindest nicht auf den ersten Blick. „Heimsuchung“ beschreibt im vertrauten Hinhören einen Schicksalsschlag, der als Prüfung oder als Strafe Gottes empfunden wird. Oder Du kannst das Wort verstehen als einen offiziellen, meist nicht angekündigten Besuch einer Behörde, etwa als Inspektion einer Einrichtung. Das Evangelium beschreibt eine dritte Bedeutung; es erzählt vom Besuch Mariens bei Elisabeth. Maria eilt „übers Gebirg“, so erzählen es manche alte Weihnachtsmotetten. Mehr als die Hälfte des Textes des Evangeliums von der „Heimsuchung“ ist weder Schicksalsschlag noch Prüfung, sondern ein dankbarer Jubel Elisabeths auf die Schwangerschaft Mariens ist – Maria wird auf das Loblied der Elisabeth mit ihrem „Magnifikat“ antworten, dem „Meine Seele preist die Größe des Herrn“!

Der Schicksalsschlag liegt woanders! Es braucht guten Willen, aber dann geht es: Der unerwartete Moment, die Plötzlichkeit des Ereignisses liegt darin, dass Johannes im Leib der schwangeren Elisabeth den Jesus im Leib der schwangeren Elisabeth „erkennt“. Lukas, der Evangelist drückt das so aus: „Als Elisabet den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib.“ In dieser – im wahrsten Sinne des Wortes verdichteten – Erzählung begegnet der Prophet im Mutterleib dem, auf den er als Erwachsener hinweisen, den er ankündigen soll. Und für den er einst sein Leben lassen wird. In dieser Heimsuchung ist zwar das Freudige gegenwärtig, das Tragische aber ist vorausgezeichnet. Es gehört halt immer wieder zum Verständnis der Evangelien, dass Du sie vom Schluss her lesen musst, also nach vorn lesen, aber von hinten, vom Ende her, die beschriebenen Anfänge deuten lernst.

» Jahrhundertelang nach der Wiedererrichtung des Tempels Ende des 6. Jhs. sind hingegangen, ohne dass ein einzelner Mensch nach dem Vorbild eines Elija, eines Jesaja, eines Jeremia noch einmal die Berufung in sich verspürt hätte, seine eigene Person zum Sprachrohr des göttlichen Wortes zu machen und mit der ganzen eigenen Person dafür einzustehen. «
Drewermann, Eugen (2009): Das Lukas-Evangelium Bd.1: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 87.

Umsturz der Gesinnung – Heimsuchung in Sachen „Religion“

Die jüdische Geschichte in biblischer Zeit hatte zur Zeit Jesu schon eine Transformation zu einer Kultreligion hinter sich. Es gab Kultpriester, Tempel, Riten, Opfer, einen liturgischen Festkreis. In seinem Kommentar zum Lukas-Evangelium weist Eugen Drewermann aus diesem Grund auf die Besonderheit hin, dass Johannes der Täufer in einer späten Epoche der biblisch-jüdischen Geschichte sich noch einmal als Prophet verstand und sich als letzter biblischer Propheteinreihte in eine lange Liste biblischer Propheten. Drewermann schreibt:

„Jahrhundertelang nach der Wiedererrichtung des Tempels Ende des 6. Jhs. sind hingegangen, ohne dass ein einzelner Mensch nach dem Vorbild eines Elija, eines Jesaja, eines Jeremia noch einmal die Berufung in sich verspürt hätte, seine eigene Person zum Sprachrohr des göttlichen Wortes zu machen und mit der ganzen eigenen Person dafür einzustehen. Wie einfach demgegenüber hat es ein Priester! Nichts von seiner eigenen Individualität braucht er einzubringen, um seinen Dienst verrichten zu können; im Gegenteil: verlangt wird von ihm die völlige Entpersönlichung von Amts wegen; die Angleichung einer Person an eine institutionelle Funktion, die korrekte Ausführung der vorgeschriebenen Riten, Kulthandlungen und Gebete. Wer er selber ist, was er selber denkt, wie er selber lebt, spielt so lange keine Rolle, als er seinen objektiven Obliegenheiten nachgeht und nachkommt. Wie ein Sakrament entsprechend der Lehre der römisch-katholischen Kirche wirkt ex opere operato (lat.: aufgrund der Tatsache, dass es – ritengerecht – vollzogen wird), so vermittelt ein judäischer Priester den Segen Gottes, die Versöhnung mit Gott, einzig durch die richtige Rezitation der vorgeschriebenen Regularien.

Genau das Gegenteil einer solchen Einstellung verkörpert ein Prophet. Für ihn zählt allein, was Eingang gefunden hat in die persönliche Existenz. Kult und Tradition, Ritual und Überlieferung gelten ihm für leeren Plunder, solange nicht das Leben dem entspricht, was das religiöse Regelwerk als Leben spendend vorgeben. Der Gott der Priester gibt sich leicht zufrieden, dringt nur der rezitierte Psalter himmelwärts in seine Ohren und steigt der Fettdampf des verbrannten Opfertieres hinlänglich in seine Nase. Der Gott, den die Propheten lehren, sieht allein auf des Menschen Herz; er duldet nicht, dass man mit Aberglauben und Magie dem Ernst lauterer Frömmigkeit sich zu entziehen sucht.“[1]

Drewermann betitelt die Perikope von der Heimsuchung, allerdings um das Magnificat Mariens erweitert, mit „Umsturz der Gesinnung“, indem er die Erfahrung der zur Priester-Religion geronnenen Geschichte Israels mit seinem Gott mit der Erwartung der Propheten Johannes. M.a.W. der Aberglauben und die Magie der Priester-Religion wird heimgesucht von einer Spiritualität, die alltagstauglich ist und dich manifestiert in einer lauteren und gelebten, lebendigen Frömmigkeit. Würde das gelingen, käme es einer neuen und gewaltigeren Transformation gleich!

» Dass wir in einem Zeitalter sich überlagernder Krisen leben, wird kaum jemand noch in Frage stellen. Der Satz wirkt mittlerweile wie abgegriffen. Aber ist die Rede von einer ‚Krise‘ überhaupt angemessen? Krisen haben nämlich einen Anfang und ein Ende, wie vorläufig letzteres auch sein möge. Die Klima-Krise ist demnach keine, denn die Erderwärmung und die ökologischen Irr- und Wirrnisse werden uns in den kommenden Generationen auf unabsehbare Zeit bedrängen. Es ist keinerlei Ende in Sicht. Die gewaltigen Umwälzungen, die uns bevorstehen und sich bereits ankündigen, nötigen uns von einer ‚Katastrophe‘ zu sprechen. Die Totalität des Raums wird von ihnen erfasst, denn es gibt kein Außerhalb. Das Überlebensproblem wird sich auf die gesamte Zukunft erstrecken. Ein Fliehen aus dieser Zeit ist unmöglich.«
Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft., Stuttgart, 43.

Umsturz der Gesinnung – Heimsuchung in Sachen „Klimakatastrophe“

Du kannst einmal versuchen, die wenigen Verse dieses Evangeliums zu verheutigen, unter dem Aspekt von „Verzicht und Freiheit“, um den Gedanken von Jean-Pierre Wills auch hier Raum zu geben. Was geschieht in Dir, wenn Du die Klimakatastrophe als „Heimsuchung“ betrachtest? Sie ist weder ein Schicksalsschlag, der als Prüfung oder als Strafe Gottes empfunden werden kann, noch eine Analogie zu einem offiziellen, meist nicht angekündigten Besuch einer religiösen oder weltlichen „Behörde“. Sie ist über Generationen hinweg selbstgemacht. Ich kann mich noch an den 1972 erschienenen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des „Club of Rome“ erinnern, der zumindest für mich erstmals ein dunkles Szenario in Sachen Zukunft zeichnete. Die Warnungen gingen bis in die Gegenwart immer weiter. Begriffe wie Liberalismus, Autonomie, Freiheit, Wohlstand, Reichtum wuchsen und wuchsen – zumindest in unseren Breiten. Mental, geistig, spirituell blieb das nicht ohne Konsequenzen. Wils zitiert in diesem Zusammenhang Peter Sloterdijk und seinen Hinweis auf den Zusammenhang von Autonomie und Verzweiflung: „In den modernen informationsbespülten Köpfen sind Zustände aufgetreten, neben denen die alte Unwissenheit von kristallener Klarheit war. […] Autonomie und Verzweiflung sind Synonyme geworden.[2] M.a.W.: Die Verzweiflung des Einzelnen und ganzer Generationen und Volker ist die Schwester der Autonomie und des Beharrens auf ihr.

Aber zur biblischen Heimsuchungs-Perikope gehört ja auch das Erkennen des Johannes. Auch sie kannst Du unter dem Aspekt von „Verzicht und Freiheit“ lesen, auf Dich wirken lassen. Viele Schäden, die bereits entstanden sind, werden nicht korrigiert werden können. Es ist die Gesinnung, an der prophetische Meschen – und der Prophet bzw. die Prophetin in Dir – ansetzen können. Um es mit Eugen Drewermann im oben angeführten Zitat zu sagen: Um überleben zu können, muss es als ersten Umsturz eine Abkehr vom Althergebrachten, Gewachsenen, Gewordenen geben. Die Ordnung der Blicke muss sich ändern. Die Leitfrage könnte sein, was Du noch erwartest, was Du bereit bist, für diese Erwartung zu tun und – vor allem – zu lassen. Ein zweiter Umsturz ist der Abschied des Gedankens, dass es immer nur und immer nur für Dich vorwärts gehe. Um gut zu leben und leben zu können, wird es neue Formen der Gesellung brauchen.

» Die Neuordnung unserer Freiheiten hat nämlich nicht zur Folge, dass wir nicht weniger, sondern dass wir anders frei sein werden, vielleicht sogar besser frei, wenn diese Formulierung erlaubt ist. Und es ist ebenso wenig ausgeschlossen, dass wir womöglich sogar glücklicher leben werden. «
Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft., Stuttgart, 18.

Gegenwärtige Vergangenheit – vergegenwärtigte Zukunft

Wils erinnert an den Geschichtswissenschaftler Reinhard Koselleck (1923-2006), der den Unterschied zwischen einem historischen „Erfahrungsrum“ und einem ebenso historischen „Erwartungsraum“ beschrieben hat. „Erfahrung ist gegenwärtige Vergangenheit, […] Erwartung vergegenwärtigte Zukunft“[3]

Die Bilder der neutestamentlichen Heimsuchung im Kopf und im Herzen, geht es um Deine „Ausrichtung“. Du kannst auch in der Heimsuchung der Klimakatastrophe festhalten an Deiner „Erfahrung“, indem Du Deine Vergangenheit immer wieder vergegenwärtigst, sie gegenwärtig setzt und sie perpetuierst, solange es eben geht. Sei nur vorsichtig: „Wir riechen den Tod nicht, solange wir in parfümierten Welten leben.“[4]

Du kannst aber auch ansetzen bei Deiner „Erwartung“ als vergegenwärtigte Zukunft. Spüre selbst nach, was sich auf welcher Ebene für wen und mit wem dann ändern wird.

Der „Umsturz der Gesinnung“ den Drewermann anspricht, wird auf jeden Fall kommen, die Frage ist, wie sehr Du und wie sehr wir ihn mitgestalten und wie wir uns zu ihm verhalten. Ein gutes Schlusswort hinsichtlich der Heimsuchungbringt Jean-Pierre Wils, zumindest klingt es für mich so, dass ich damit dieses auf Links gedrehte Betrachtung des Evangeliums gerne schließen möchte. Für diesen „Umsturz der Gesinnung“ wie für alle anderen mag gelten: „Wer bräuchte nicht hin und wieder einen Ausweg aus den Zumutungen der Realität, keine Ablenkung von den Härten und von den Beschwernissen seines Daseins? Warum sollten wir uns nicht erholen dürfen in künstlichen Welten der Weltabgewandtheit? Die Flucht in die Irrealität darf aber nicht zur Gewohnheit werden. Die bloße Künstlichkeit sollte uns kein Zuhause bieten. Die realen Leiden und Ungerechtigkeiten sind zu viele, als dass wir uns einen solchen feigen Eskapismus leisten dürfen.“ [5]

Die Zeiten des Eskapismus sind vorbei! Das spürt Maria bei Elisabeth, das spürt Johannes im Hinfühlen auf Jesus, das spürst du und ich und eine Menge anderer Menschen. Was hilft, ist nicht der Ausbau der alten Erfahrungen, der gegenwärtigen Vergangenheit, sondern die Entschiedenheit und das Ausprobieren der Erwartungen, der vergegenwärtigten Zukunft – damit wir noch Zukunft haben, wir uns Zukunft schenken und sie uns schenken lassen.

Amen.

Köln, 19.12.2024
Harald Klein

[1] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukas-Evangelium, Bd. 1: Bilder erinnerter Zukunft, Düsseldorf, 87f.

[2] Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft, Stuttgart, 66. Wils zitiert hier Sloterdijk, Peter (1987): Kopernikanische Mobilmachung, Frankfurt/Main, 66f.

[3] Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft, Stuttgart, 66. Wils zitiert hier Koselleck, Reinhard (1984): Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungsraum‘ – zwei historische Kategorien, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik vergangener Zeiten, Frankfurt/Main, 349-375, hier 354f.)

[4] a.a.O., 142.

[5] ebd.