Vierter Fastensonntag: Die Ordnung der Blicke

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„Die wahrscheinlich längste Praline der Welt!“

Würde ich Sie fragen, wie denn die längste Praline der Welt heiße, so wüssten Sie sehr wahrscheinlich alle die Antwort. Richtig, es geht um Duplo – wobei jede und jeder von Ihnen weiß, dass es sich hierbei um einen Schokoriegel handelt, oder vielleicht doch eine Praline? Man kann es wissenschaftlich angehen: Eine Praline zeichnet sich dadurch aus, dass es ein Konfekt aus mind. 25 % Schokolade mit einer Füllung aus Nougat, Pistazien, Likör, Marzipan oder irgendetwas anderem sein kann – also: Duplo ist eine Praline! Aber: Eine Praline muss lt. Definition mundgerecht sein – und versuchen Sie mal, ein Duplo mundgerecht mit einem Mal in den Mund zu bekommen, ohne dass Sie würgen müssen. Das geht schlechthin nicht. Also: Keine Praline!

Keine Angst, ich bin noch nicht im Fastenwahnsinn, der mich dazu treibt, über Duplo zu predigen. Mir gefällt die Frage, weil sie so deutlich macht: was etwas ist, wer jemand ist, das sagt mir im letzten nicht ein wissenschaftlicher Blick, das hängt auch nicht mit Mehrheiten oder Minderheiten zusammen, das hängt an der Ordnung, die ich meinem Blick gebe. Um es kurz zu sagen: Wenn Duplo für mich ein leckerer Schokoriegel ist, dann sehe ich das so, und keiner wird mich davon abbringen. Und wenn das Duplo den Charakter der längten Praline der Welt für mich einnimmt, dann gilt das für mich, für meine Wahrnehmung, und vor allem für meinen Geschmack. Entscheidend ist, aus welchem Motiv und mit welcher Intention, mit welcher Absicht ich jemand oder etwas anschaue, ansehe oder Ansehen verleihe – vielleicht auch das Ansehen verweigere.

Der Kölner Pädagogikprofessor Kersten Reich spricht von der „Ordnung der Blicke“. Der Blick, mit dem ich etwas oder jemanden ansehe, ordnet das Angesehene oder den bzw. die Angesehene einer bestimmten Wirklichkeit zu, die ich ihm oder ihr zuspreche. Menschen, Dinge, Umstände können mit verschiedenen Betrachtern viele verschiedene Wirklichkeiten besitzen, ohne dass man ihre Wahrheit trifft – und das macht es so schwer.

Die Erwählung des David

Diesen Mechanismus können Sie auch in der Berufung des David zum König über Israel entdecken. Samuel lässt den Isai seine Söhne holen, und als Samuel den Eliab sieht denkt er: „Gewiss steht nun vor dem Herrn sein Gesalbter.“

Ein kleines Beispiel zum Üben. Sie hören den Satz „Professor Müller beritt die Aula“. Überlegen Sie bitte, wie Professor Müller in ihren Augen aussehen wird. Welches Bild ruft der Satz hervor? – Und dann lassen Sie sich sagen, dass es Frau Professor Müller ist, eine kleine tailändische Frau, die von einem deutschen Ingenieur in Thailand geheiratet wurde und die hier Sozialpädagogik studiert und darin promoviert hat. Mit Jeans und T-Shirt kommt sie zur Vorlesung – und dass sie eine schwarze Brille hat, gestehe ich Ihnen zu.

Zurück zur Lesung. Wie muss einer oder eine aussehen, dass man in ihm den künftigen König, in ihr die künftige Königin erkennt? Wie gut tut da der Satz: „Gott sieht nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“ Und erst, als der rötlich-blonde David, der mit den schönen Augen und der schönen Gestalt, vom Feld kommt, da sieht Samuel mit den Augen Gottes in sich in David den, der zum König gesalbt werden soll.

Darum geht es: die Menschen um mich herum, die Dinge, die geschehen, mich selbst nicht mit dem einen starren Blick anschauen, den ich immer und zuerst habe, sondern die Freiheit der vielen Blicke einzuüben. Im besten Fall mit den Augen Gottes die Menschen und die Dinge um mich herum ansehen – und sie und mich so in Gottes Ordnung einordnen

Wach auf, der du schläfst…

Der Verfasser des Epheserbriefes, ein Schüler des Paulus, beschriebt den gleichen Prozess des Ordnens der Blicke mit der Metapher von Licht und Dunkel. Die, die kundig sind in der Sichtweise Gottes, werden angesprochen: „Einst wart ihr Finsternis, jetzt aber seid ihr durch den Herrn Licht geworden. Lebt als Kinder des Lichts.“ Licht werden, mit Gottes Augen die Welt sehen, das geht durch die Freundschaft mit Christus, durch das Einüben seiner Lebensweise, seines Denkens, seines Miteinanders mit den Menschen. Die Aufforderung, sich dazu zu mühen, wird in Taizé an jedem Samstag in der Feier der Auferstehung gebetet. „Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein.“

Schiloach heißt übersetzt: Der Gesandte

Und das Evangelium setzt dieser Ordnung der Blicke die Krone auf. Da ist die Rede vom Blindgeborenen, von einem Menschen, der von Geburt an keine Wirklichkeit der Dinge und der Menschen sehen und ihre Wahrheit nicht erahnen konnte. Jesus spuckt auf die Erde und macht einen Teig aus dem Staub, den er dem Blinden auf die Augen streicht – hier kommen die Wirklichkeit der Welt und die Wirklichkeit Jesu zusammen! Und dann soll der Blindgeborene sich waschen gehen am Teich Schiloach. Das Johannesevangelium ergänzt: „Schiloach heißt übersetzt: Der Gesandte.“ Was für ein Bild: Der Teig, in dem Irdisches und Göttliches zusammenkommen auf den Augen liegend, und die Augen, die geöffnet werden durch den Gesandten. Dieser Teil der Geschichte endet mit dem Satz: „Und als er zurückkam, konnte er sehen.“

Und jetzt?

Man könnte meinen, damit sei alles gut. Das Evangelium: Der Blindgeborene kann sehen. Die Lesung aus dem Epheserbrief: Der Schläfer ist aufgewacht, und Christus wird sein Licht sein. Die Lesung aus dem Buch Samuel ist jetzt entscheidend: „Sieh nicht auf sein Aussehen und seine stattliche Gestalt, denn ich habe ihn verworfen; Gott sieht nämlich nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“ Auf das Sehen kommt es an! Wichtiger als das Können ist das Wollen – in der Freundschaft zu Jesus Christus mit den Augen Gottes das um mich herum, die um mich herum und mich selbst ansehen. Das wäre was, wenn wir in denen um uns herum und letztlich in uns selbst den Menschensohn gegenwärtig sehen würden. Sie haben den Schluss des Evangeliums noch im Ohr:

„Jesus hörte, dass sie ihn hinausgestoßen hatten, und als er ihn traf, sagte er zu ihm: Glaubst du an den Menschensohn? Der Mann antwortete: Wer ist das, Herr: Sag es mir, damit ich an ihn glaube. Jesus sagte zu ihm: Du siehst ihn vor dir, er, der mit dir redet, ist es. Er aber sagte: Ich glaube, Herr! Und er warf sich vor ihm nieder!“

Schokoriegel oder die wahrscheinlich längste Praline der Welt? Rabbi und Lehrer oder Menschensohn? Jesus von Nazareth oder Jesus der Christus? Wir entscheiden, nicht zuletzt durch die Ordnung, die wir unseren Blicken geben.

Amen.

Köln, 21.03.2020
Harald Klein