Leben von dem, was mir zusteht
Eins vornweg: In meiner Rolle als Prediger fühle ich mich heute nicht wohl, wenn ich von der Alternative “Umkehr statt Flucht“ spreche, einen Monat und zwei Tage nach Kriegsausbruch in der Ukraine und angesichts der vielen Menschen, der Familien mit Kindern, die eine ganz andere Form von Flucht erleiden als die, von der hier die Rede ist. Dennoch möchte ich dem Erleben derer, die im hier dargestellten Sinne „auf der Flucht“ sind und eigentlich „nur Umkehr“ suchen, ebenso meine Aufmerksamkeit und auch mein Herz schenken.
Der Fliehende, von dem im heutigen Evangelium die Rede ist, ist besser bekannt als der „jüngere“ und noch besser als der „verlorene“ Sohn. Er hat einen älteren Bruder und einen vermögenden Vater – von der Mutter, von Schwestern möglicherweise oder auch einer Schwägerin ist im patriarchalisch gehaltenen Evangelium keine Rede.
Die Handlung ist bekannt: Der Jüngere lässt sich – warum, ist nur zu erahnen – im Sinne einer Schenkung sein Erbteil auszahlen, das, was ihm „zusteht“, und verlässt die Heimat, flieht die Familie, zieht in ein fernes Land. Wie so oft gilt: Von dem alleine, was einem zusteht, kann man nicht leben! Von Zügellosigkeit und verschleudertem Vermögen ist die Rede, vom Hungerleiden und vom Schweinehüten. Er lebt dort wie „neben der Spur“ – und so hart wie es ist, er lebt nicht mehr allein von dem, was ihm zusteht, sondern auch von dem und aus dem, was er riskiert. Das ging schief! Als die Not des Hungers zu groß wird, kehrt er um, sein Vater empfängt ihn mit offenen Armen, voller Mitleid und feiert ein Freudenfest, bindet ihn mit dem Ring neu an sich. Der „Ältere“, der immer in der Spur des Vaters lief, kann es nicht verstehen, dass der Vater sich dermaßen „verausgabt“ – im wahrsten Sinne des Wortes; schließlich hat der Jüngere das, was ihm zusteht, doch schon erhalten.
Eine Kain-und-Abel-Geschichte
Sie können die Geschichte natürlich als Familiendrama sehen und lesen – spannender und der Bußzeit mehr angemessen ist es allerdings, wenn Sie dieses Gleichnis als innerpsychisches Geschehen oder als Auseinandersetzung in Ihrem eigenen inneren Team deuten.
Da ist der, der in der Spur läuft, der routiniert den Alltag am Laufen und den Hof instand hält. Der „Ältere“, der „Erstgeborene“, der es den Abläufen, Geboten und Ansagen recht macht, der die Verbote beachtet und die Riten und Feiern im Blick hat. Der, dem als Erstgeborenem das meiste vom Erbe zusteht und dem alles überlassen wird, wenn der eigentliche Besitzer, der Herr im Haus, die Augen für immer schließt – weil er es so weiterführt! Schauen Sie doch mal, ob Sie so einen „Team-Player“ in Ihrem inneren Team, in den Sie leitenden und lenkenden Stimmen, kennen.
Da ist aber auch der, der aus der Spur ausbrechen will, der neben dem Alltag die Abende und das Wochenende kennt, der „Jüngere“, den das Leben wie der Hafer sticht und der es anderswo, aber nicht im Hof des Alltäglichen sucht. Er kann neben dem „Älteren“ nichts werden, kann mitlaufen vielleicht oder die Hand reichen, aber kreativ gestalten, umbauen, neu denken – das geht nicht. Der Sohn in der Spur des Vaters gewinnt!
Eine Lot-und-Abraham-Geschichte
Dem Jüngeren bleibt das Zurückstecken – oder die die Flucht, wenngleich sie sehr zivilisiert verpackt ist. Er bittet um das Erbteil zu Lebzeiten des Vaters, um eine Schenkung, würde man heute sagen. Er verlässt die Heimat, flieht die Familie, um mit dem ihm Überlassenen ein, nein: sein „Leben neben der Spur“ – und das ist nicht wertend gemeint – auszuprobieren. Bei Abraham und Lot heißt das: „Zwischen mir und dir, zwischen meinen und deinen Hirten soll es keinen Streit geben, wir sind doch Brüder. Liegt nicht das ganze Land vor Dir? Trenn dich also von mir! Wenn du nach links willst, gehe ich nach rechts; wenn du nach rechts willst, gehe ich nach links“ (Gen 13,8f).
Einen Unterschied gibt es allerdings zwischen den beiden Brüdern aus dem Gleichnis und der Erzählung von Abraham und seinem Neffen Lot: Die beiden letzten gehen sich aus dem weg, weil sie zwei gleiche Lebensentwürfe haben, die nebeneinander nicht existieren können; beide brauchen für ihre Herden Weide, brauchen Hirten und Lagerplätze. Ihr Leben geht in der gleichen Spur. Das Leben des „Jüngeren“ und das des „Älteren“ haben genau das nicht, da geht es um das eine Haus, den einen Hof, die eine Familie, und der „Jüngere“ bricht aus, um ein Leben zurückzulassen (das für ihn kein Leben war), und um ein anderes Leben zu finden.
„Man nimmt sich mit, wohin man geht“ (Ernst Bloch)
Und jetzt das Ganze als innerpsychisches Geschehen, als Auseinandersetzung mit und in Ihrem Inneren Team. Sie können im selben Raum, im selben Haus bleiben – und doch ist da der Wunsch, „abzuhauen“ (wie „verausgaben“ – was für ein schönes doppeldeutiges Wort) mit dem, was Ihnen zusteht, mal „neben der Spur“ sein zu dürfen, mehr noch: „neben der Spur“ leben zu dürfen, Neues auszuprobieren, und wenn es nur ein „neuer Look“ ist, oder Freiräume, die Sie sich verschafft haben und die Sie neu füllen wollen, im Buchregal ebenso wie an der Wand, im Kleiderschrank oder im Kalender.
Und in all dem gilt das kluge Wort aus der Tübinger Einleitung zur Philosophie von Ernst Bloch: „Man nimmt sich mit, wohin man geht.“ Sie können den Raum und den Ort fliehen, Sie können im Raum und am Ort bleiben und Ihre Lebensmuster fliehen, aber Sie können niemals sich selbst fliehen.
Wie furchtbar, dann den „älteren Bruder“ im Inneren Team zu haben, der Sie genau daran erinnert. Wie furchtbar, Gebäude zu sehen, Fotos in Alben oder Dateien vorgeführt zu bekommen, in alltägliche Abläufe wieder hineingesteckt zu werden, und dann funktionieren“ zu müssen! Es ist wie bei der Bahn: Sie können den „voranfahrenden Zug, “ älteren Bruder nur überholen, wenn Sie das Gleis oder die Richtung wechseln, sonst kommen Sie nicht vorbei.
Umkehr statt Flucht: Sich selbst mit Liebender Güte begegnen
Fortlaufen geht nicht, Flucht gelingt nicht. Um an dem „Alten“ vorbeizukommen, ist ein Spur-, ein Gleiswechsel nötig, oder eine Richtungsänderung. Wie wäre es, „Umkehr“ mal nicht auf Verhalten beziehen zu wollen, das zu ändern sei – wem gelingt das schon? -, sondern als „Umdeutung“ zu verstehen, so wie man „Versuchung“ auch als „Sehnsucht“ deuten kann? Die Lehrrede des Buddha über die Liebende Güte, in deren Kontext die Evangelien bis Pfingsten gelesen werden können, zielt ja auf den Frieden des Geistes als Ziel des Lebens. Der Buddha empfiehlt in dieser Lehrrede: „Die Sinne still, klar der Verstand, nicht dreist, nicht gierig sei sein Verhalten.“ Ich stelle mir das so vor, dass der „Jüngere“ in der Situation im Schweinestall, hungrig angesichts der Schoten, die er den Schweinen zum Fraß vorwarf, in diese Haltung hineinwuchs. Ich stelle mir vor, dass ich mit stillen Sinnen, mit klarem Verstand, nicht dreist, nicht gierig im Verhalten meine Lebensspuren anschaue. Dass ich ahne, wohin mich mein Weg führt, wo ich andere Weichen stellen muss, um mehr am Leben zu bleiben, dass ich die „Älteren“ begleite, wo sie mich oder ich sie fördere, aber auch hinter mir lasse, wo sie mich oder ich sie hindere.
So geht Versöhnung: Egal wohin ich gehe, ich nehme mich mit. Wie gut tut es, wenn da jemand an der Tür steht – mit „Brot, Wort, Umarmung“ (Rose Ausländer) – und mich, den Heutigen, mit dem, den ich mitbringe, willkommen heißt. Und wie gut, dass ich das denen tun kann, die bei mir anklopfen – mit „Brot, Wort, Umarmung“, und einem guten Wein. Umkehr heißt nicht, wegzulaufen, um dann wiederzukommen; Umkehr heißt, über die Lebensspur nachdenken und die eigenen Weichen neu stellen, wenn die alte Spur nur zum „älteren Bruder“ und dessen Leben führt. Manchmal ist dann mitfahren, oft überholen, noch häufiger Gleichwechsel dran. Umkehr führt in Versöhnung, führt mich in mein Leben, in meine Lebendigkeit. Das ist der Ort des Festes – im Gleichnis des heutigen Evangeliums, mehr noch im eigenen geteilten Leben.
Amen.
Köln. 25.03.2022
Harald Klein