Von Stammbäumen und Stammbüchern

  • Beiträge im Werkheft der GCL
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„Rück-Erinnern“ und „Gegenwärtig-werden-lassen“

Keine Angst: dieser Artikel ist keine weitere Einladung und kein weiteres Angebot, Ihren „Lebensweg“ malen zu sollen! Ich gehe schlicht davon aus, dass Sie das in Exerzitien, in der Geistlichen Begleitung oder zu anderen Gelegenheiten schon oft genug getan haben (falls nicht, will ich Sie aber auch nicht davon abhalten).

Aber um ein Rück-Erinnern wird es gehen, nicht, um in Klage (oder Lob) zu kommen, sondern um die „Tore der Vergangenheit“ als Startplätze für manche Etappe Ihres Lebensweges zu sehen, aus denen Sie heraus losgegangen sind, um jetzt im „Hier und Heute“ angekommen zu sein. Das, was Ihnen aus Ihrer Herkunft, Ihrem „Stammbaum“ erwachsen ist, und das, was Ihnen gleichsam ins „Stammbuch“ geschrieben wurde, kann in zweierlei Hinsicht für die Gestaltung zweier Gruppenabende genommen werden, die unter den Stochworten „Innere Antreiber“ und „Gute-Eltern-Botschaften“ stehen. Wie gesagt, nicht, um in Klage (oder Lob) zu kommen, sondern um aus der Vergangenheit heraus (doppelsinnig gemeint) ein Mehr an Bewusstheit und Lebendigkeit gewinnen zu können.

Die „Inneren Antreiber“

Ein erster Gruppenabend kann sich mit den „Inneren Antreibern“ beschäftigen. Hier geht es um fünf Haltungen, die in unserem Kulturkreis wie ein inneres Gesetz den Menschen eingeschrieben sind und gerne zur Beschreibung, zur Selbst- oder zur Fremdwahrnehmung herangezogen werden, sei es bewusst oder unbewusst. Um es „ignatianisch“ zu sagen: für sich sind diese Antreiber „indifferent“, denn erst die Weise des Gebrauchs, besser: des Gehorchens, und das Maß des Antriebs, das Sie ihnen geben, macht sie fragwürdig. An diesem ersten Gruppenabend soll es zunächst um die Frage gehen, welche Antreiber Sie – rückblickend auf einen Zeitraum – immer wieder entdecken. Hilfreich ist es, diese fünf Antreiber aufgeschrieben auf dem Tisch liegen zu haben, damit sich die einzelnen darauf beziehen können. Welche der fünf kennen die Teilnehmenden, woran machen sie das fest? In einer Anhörrunde können sich alle Teilnehmenden äußern, die anderen aus der Gruppe können ihre Wahrnehmungen dem Redenden zur Verfügung stellen.

Im gemeinsamen Austausch kann danach gefragt werden, worin die Verheißungen, aber auch worin die Vermeidungen dieser Antreiber liegen. Stärke verheißt Sicherheit, Perfektion verheißt Anerkennung, Gefälligkeit verheißt Zuwendung, Schnelligkeit verheißt,nichts Wichtiges zu verpassen, und Anstrengung verheißt Erfolg. Satzanfänge wie „Ich bin gerne stark/perfekt/gefällig…, weil ich …“ oder „Durch meine Anstrengung/Schnelligkeit will ich vermeiden, dass…“ können für das Gespräch eine Hilfe sein.

Es kann hilfreich sein, über den „Stammbaum“ und das „Stammbuch“ danach zu fragen, welche Wurzeln diese Antreiber haben Macht über Sie gewinnen lassen oder wie stark sie Ihnen mitgegeben wurden – mehr hilfreich wird es sein, sie als „Tor der Vergangenheit“ zu sehen, dessen vorgeschlagenen Weg Sie nun weitergehen oder verändern wollen.

Mit Hilfe der Gruppe – vor allem aber mit Hilfe des Blickes auf Jesus Christus – können Sie den Antreibern einen „Inneren Erlauber“ an die Seite stellen, einige davon sind im Kasten rechts aufgeschrieben. Begleitet werden kann dieser Schritt vom Schriftwort „Kommt und ruht ein wenig aus!“ (Mk 6,31), das ausgedruckt auf den Tisch gelegt wird. Wenn die je eigenen Antreiber und die Weise, wie Sie das Leben bestimmen, auch aus dem „Stammbaum“ erwachsen und Ihnen ins „Stammbuch“ geschrieben sind, heißt das nicht, dass das Stammbuch voll wäre – im Gegenteil: mehr in der Gegenwart zu leben heißt die Erlaubnis und die Einladung zu haben und anzunehmen, das Stammbuch weiter zu schreiben und den „Inneren Erlaubern“ einen Platz darin zu sichern. Selbst gesuchte Schriftworte, Psalmenverse oder Worte aus der jüdischen Weiheit können diesen Waxchstumsschritt begleiten und fördern. Die Gruppe kann ein guter Ort sein, sich selbst und anderen Rechenschaft zu geben davon, wie Sie gemeinsam mit den anderen aus der Gruppe sicher eher kleinschrittig, aber dennoch fortschreitend sich vom „Tor der Vergangenheit“ entfernen in ein neues Heute in der Gegenwart eines mitgehenden Gottes.

Vielleicht ist hier der angemessene Ort, um auf das Zitat des römischen Stoikers Marc Aurel zurückzukommen, das weiter oben festgehalten ist. Wieder gilt: das Leben ist für sich genommen „indifferent“, erst die Farbwahl, erst die Gedanken, die uns antreiben, bestimmen die Farbe der Seele und geben dem erlebten und gelebten Leben seine Farbe. Als Schlussgebet, eher als Schlussmeditation kann für diesen ersten Abend die Weisheit des jüdischen Talmuds gelesen werden, die den Zusammenhang zwischen den Farben der Gedanken und dem Schicksal, das ein Leben nimmt, herstellt.

Die „Gute-Eltern-Botschaften“

Ein zweites Gruppentreffen kann sich unter dem Stichwort „Von Stammbäumen und Stammbüchern“ die sog. „Gute-Eltern-Botschaften“ zum Gegenstand nehmen, die ihren Ursprung in der Integrativen Körperpsychiatrie haben. Ähnlich wie die „Fünf Antreiber“ werden hier positive Grundhaltungen beschrieben, die Eltern ihren Kindern ins „Stammbuch“ schreiben können. Bleibt dieser Prozess aus oder kommt er zu kurz, werden sie dann als Erwachsene immer wieder – und oft vergeblich – versuchen, diese Botschaften von anderen für sie wichtigen Bezugspersonen zugesagt zu bekommen. In der Geistlichen Begleitung, in den Exerzitien und in den Formen und Weisen des Gebetes kann es ein heilsamer Weg sein, sich all diese „Gute-Eltern-Botschaften“ vom himmlischen Vater, vom menschgewordenen Sohn oder auch von Maria, der Muttergottes, her sagen zu lassen und ihnen zu vertrauen.

Der Einstieg in die Thematik kann über Karteikarten gehen, auf denen jeweils eine der „Gute-Eltern-Botschaften“ notiert ist und die ausgelegt oder aufgehängt sind. Für den Anhörkreis mag der Impuls helfen: „Welche dieser Botschaften habe ich als Kind gehört/erlebt, welche gesucht, auf sie gehofft oder vermisst?“ Wieder gilt es, nicht beim „Tor der Vergangenheit“ stehen zu bleiben, sondern den Weg hinein in die Wirklichkeit der Gegenwart anzuschauen und einer vielleicht veränderten Zukunft Tor und Tür zu öffnen.

In einer zweiten Austauschrunde können einzelne aus der Gruppe sich selbst fragen, was aus den zugesagten und/oder der vermissten „Botschaften“ geworden ist, welche Wirkungen sie jetzt, gegenwärtig zeigen – und welche sie zukünftig zeigen können. Einzelne Beziehungen können in den Blick genommen werden, aber auch Grundzüge des Charakters, die in diesen (vermissten? ausgesprochenen?) Botschaften wurzeln. Die anderen in der Gruppe können auch hier ihre Wahrnehmung zur Verfügung stellen, als Bestätigung oder als Angebot zur Korrektur.

Der Frage kann nachgegangen werden, welche „Botschaft“ durch mein Agieren von anderen erbittet oder durch mein Beten vom Herrn her ersehnt werden darf. Die Übung kann helfen, sich selbst anders, neu und tiefer wahrzunehmen und dadurch auch den Mitmenschen und mir selbst anders, neu und tiefer zu begegnen.

Abschließend können Zusagen Jesu aus der Schrift gesucht werdden, die vor allem den vermissten „Botschaften“ entsprechen und die den Gruppenabend auch nach der Verabschiedung betend weiterführen.

Ein Blick auf die eigene Familie und den Freundeskreis

Zwei weitere Möglichkeiten, zwei weitere Orte, über die Gruppe hinaus sich mit den „Gute-Eltern-Botschaften“ zu beschäftigen, sind die Familie und der enge Freundeskreis. Beide Möglichkeiten zielen ebenso wie die Gruppe darauf, Vergangenes anzuschauen, um danach „gegenwärtig“ eine veränderte Zukunft zu ermöglichen.

Beide Male können die Karten mit den „Botschaften“ ausgelegt werden. Im Kreis der Familie mit den Kindern kann die Frage sein, welche „Botschaft“ die Kinder schon erfahren, und welche sie gerne deutlicher, öfter hören (oder spüren!) möchten. Die Eltern können den Kindern mitteilen, welche „Botschaften“ an ihre Kinder ihnen leicht, welche schwer fallen. Und sie können von ihrem eigenen „Stammbaum“, ihrem eigenen „Stammbuch“ erzählen.

Im Gespräch im engen Freundeskreis klingt ein wenig das Modell der Transaktionsanalyse und das Bild des „inneren Kindes“ auf. Hier kann im Fokus der Betrachtung die Frage stehen, welche der „Gute-Eltern-Botschaften“ mein „Kind-Ich“, mein „inneres Kind“ in der freundschaftlichen Bziehung erfährt. Und genauso kann es um den reflektierten Umgang im „Erwachsenen-ich“ gehen. Wo, wenn nicht im vertrauten Kreis der Familie oder der engen Freundinnen und Freunde sind Botschaften wie „Wenn Du hinfällst, werde ich Dir aufhelfen“, „Ich freue mich an Deiner Lebendigkeit“ u.a. überhaupt aussagbar und gleichzeitig erfahrbar?

Schließen mag dieses „Praktisch umgesetzt“ mit der Erinnerung an das Wort Marc Aurels: „Mit der Zeit nimmt die Seele die Farben der Gedanken an!“ Wo Menschen sich im Sinne dieser „Gute-Eltern-Botschaften“ und ihrer Annahme begegnen, da mag die Seele ruhig die Farben der Gedanken annehmen. Sie werden hell sein!

Harald Klein, Köln