Was ist Dein Grundprojekt?

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Der „Grund“ von Allerheiligen – die Knochen der Märtyrer

Am 13. Mai 609, vor 1410 Jahren, weihte Papst Bonifatius IV. den Pantheon-Tempel in Rom zur Kirche der Hl. Maria zu allen Märtyrern, auf italienisch Santa Maria ad Martyres. Er nutzte dazu einen ganz besonderen Kniff. Ganze 28 Wagenladungen mit Knochen ließ er aus den Katakomben, den Begräbnisstätten der Christen vor der Stadt, in deren Mitte transportieren. Sie wurden auf das Fundament des alten Pantheon-Tempels geschüttet, ein neuer Boden wurde festgestampft, und aus dem römisch-heidnischen Pantheon wurde mit diesem Grund und auf diesem Grund durch das Weihegebet die Kirche Santa Maria ad Martyres. Den Ursprung, den „Grund“ des Hochfestes darf man nicht vergessen: 28 Wagenladungen verblichene Knochen verblichener Christen, auf die nicht nur die Kirche Santa Maria ad Martyres, sondern 500 Jahre später auch das Hochfest aller Heiligen, eben Allerheiligen, aufgebaut wurde.

Was ist Ihr, was ist mein „Grund“ im Blick auf das Hochfest Allerheiligen, aller Heiligen? Der zurückgewandte Blick auf die Heiligen mag inspirieren, mag verlocken, mag oft mich in meinen Grenzen traurig machen. Aber: Als Kinder Gottes, so schreibt es Johannes, wissen wir, dass wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird. Da erwächst die Frage: Wo und wie wird er, wird Christus offenbar in meinem Leben? Was ist, so könnte man fragen, mein „Grundprojekt“, in dem ich, in dem Sie ihm ähnlich sein werden, ähnlich werden können, ähnlich sind? „Grundprojekt“, das meint das Fundament, den roten Faden, das Ziel, das, was Sie oder ich nicht aus dem Blick verlieren dürfen und auf das hin sich so viel wie möglich in Ihrem Leben, in Ihrem Tun, im Denken und Beten bezieht und ausrichtet. Die erste Frage im Gottesdienst an Sie und an mich: Was ist Ihr, was ist mein „Grundprojekt“, das Ihnen und mir hilft, „ihm ähnlich“ zu werden, ihm immer ähnlicher zu werden?

„Ihm ähnlich werden“ – die spirituelle Identität

Eine zweite Frage schließt sich an: Was heißt „Jesus ähnlich sein, ähnlich werden“? Das kann ja nicht – auch in der Diskussion um das Weihesakrament – meinen, dass dies nur Männer könnten. Oder dass Männer wie Frauen die Worte Jesu parat hätten, ob sie nun gelegen oder ungelegen kommen. Das „ihm ähnlich sein“ bezieht sich weder auf eine geschlechtliche noch auf eine leibhaftige oder körperliche Identität. Hier hilft der Begriff der „spirituellen Identität“. Ich meine damit eine Sichtweise auf den Menschen, die ansetzt in der Beziehung zu Jesus Christus, als Hörende und Hörender, als Sehende und Sehender, als Handelnde und Handelnder, deren Handeln ausdrücklich – vielleicht auch ohne es zu wissen – aus dem Geist Jesu Christi motiviert ist. Die spirituelle Identität formt sich in der Beziehung zu Jesus Christus – und man darf gerade am heutigen Tag auch von persönlicher Berufung oder Schritten auf dem Weg zur Heiligkeit sprechen. Um es benediktinisch – in meinem Verständnis – auszudrücken: Es kommt weniger darauf an, die Gebetszeiten und die Liturgie fehlerfrei zu halten, vielmehr ist die innere Haltung, das In-Beziehung-kommen mit Christus und seinem Vater wichtig. So werden wir ihm mittels unserer spirituellen Identität ähnlich. Die zweite Frage in diesem Gottesdienst kann nur lauten: Was und wer hilft mir, jetzt, hier, heute und in nächster Zukunft, meine spirituelle Identität wachsen zu lassen, damit ich ihm ähnlicher werde?

Proaktiv-gestaltend oder rezeptiv-antwortend?

Und ein Drittes: Wie sieht Ihre, wie sieht meine Weise aus, an Ihren oder meinem Grundprojekt dranzubleiben, Ihrer und meiner persönlichen Berufung zu folgen, Ihre und meine spirituelle Identität wachsen zu lassen, sich entfalten zu lassen? Es gibt zwei Weisen, dies tun zu können. Die eine: Ich habe mein Grundprojekt klar im Blick und gehe proaktiv und gestaltend damit um, gehe bewusst Schritte, die aus meiner persönlichen Berufung erwachsen und stabilisiere so meine spirituelle Identität. Man könnte am Allerheiligen-Hochfest von proaktiv-gestaltenden Menschen auf ihrem Weg zur persönlichen Heiligkeit sprechen. Die andere Weise ist genau umgekehrt: Ich habe mein Grundprojekt klar im Blick und gehe rezeptiv, empfangend, aufnehmend und antwortend damit um, gehe in einer antwortenden Weise Schritte, dann, wenn ich in meiner persönlichen Berufung angerufen bin, und bleibt so seiner spirituellen Identität treu. Man könnte am Allerheiligen-Hochfest von rezeptiv-antwortenden Menschen auf ihrem Weg zur persönlichen Heiligkeit sprechen. Ich kann nur erahnen, dass in jedem Menschen beide Wege angelegt sind und der eine den anderen gerne verdrängt. Ihm ähnlich werden – da gibt es auch den betenden sich bitten lassenden Jesus auf der einen Seite und den Jesus mit der Geißel im Tempel auf der anderen Seite. Für jede spirituelle Identität gilt: die eine Seite kann von der anderen Seite lernen. Am Hochfest Allerheiligen werden Sie, wenn Sie alle Heiligen in den Blick nehmen, Heilige von der einen und Heilige von der anderen Seite finden. Das ist in Ihrer Gemeinschaft nicht anders als in meiner. Lassen Sie die jeweiligen Seiten voneinander lernen.

Die drei Fragen

Drei Fragen habe ich um dieses Hochfest in diesem Jahr legen wollen: Was ist Ihr Grundprojekt, was ist das, worin Sie Christus ähnlich werden wollen und sollen? Was hilft Ihnen hier und heute, in Ihrer spirituellen Identität zu wachsen und zu reifen? Und sind Sie dabei eher proaktiv-gestaltend oder rezeptiv-antwortend, und weiter: was können Sie jeweils von der anderen Seite lernen?

In der alten Kirche war der Grund von Allerheiligen 28 Wagenladungen verblichene Knochen von verblichenen Christen. Damit Allerheiligen gegenwärtig ist und Zukunft hat, braucht es den wachen Geist, braucht es ein Grundprojekt des Ähnlich-werdens, braucht es spirituelle Identitäten und sowohl proaktiv-gestaltendes als auch rezeptiv-antwortendes Handeln. Nehmen Sie diese drei Fragen oder diese drei Erwartungen als moderne Form der Seligpreisungen Jesu. Diese Trias wach lebend heißt sich zusagen zu lassen: „Selig seid ihr!“

Amen.

Für S.V.K.
mit Dank

Köln, 01.11.2019
Harald Klein