„Was/wer ist ein spiritueller Mensch?“

  • Nach/Denken - ein wenig Wissenschaft
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Vorbemerkungen:

Der gestellten Frage wird hier rein phänomenologisch begegnet, d.h. das Wesen des untersuchten Gegenstandes – der spirituelle Mensch – geht aus von der Anschauung dieses Wesens, wie es sich zeigt, erscheint wahrgenommen wird. M.a.W.: wie zeigt sich, wie erlebe bzw. erfahre ich einen spirituellen Menschen? Es geht dabei weder um Wertungen noch um Erwartungen, Vorgaben oder Ansprüche, richtig oder falsch, sondern „nur“ um Wahrnehmungen.

Für das Verstehen der hier entwickelten Antwort auf die Frage nach dem spirituellen Menschen sind ein Bild (vom „Tetraeder“) und eine unbedingt durchzuhaltende Unterscheidung dreier Begriffe („Religion“, „Frömmigkeit“, Spiritualität“) wesentlich. – Um die Frage aus einem kirchlichen Umfeld zu lösen: Statt „Religion“ kann durch „Weltanschauung“ und, „Frömmigkeit“ kann durch „Riten und Abläufe“ ersetzt werden.

Das Bild vom Tetraeder

Aus Kinderzeiten ist vielleicht noch SUNKIST bekannt, ein Saft bzw. eine Limonade in einer einprägsamen Form – im Tetraeder. Der Tetraeder hat drei Seiten, die miteinander über einer vierten Seite verbunden sind; alle vier Dreiecke haben die gleichen Seitenlängen.

Für ein phänomenologisches Vorgehen könnte auf dem Boden „Glaube“ (oder „Weltdeutung“) stehen, die drei Seiten sind dann eben „Religion“ (bzw. „Weltanschauung“), „Frömmigkeit“ (oder „Riten und Abläufe“) und „Spiritualität“.

 

Tetraeder – Meinstein

 

Die Unterscheidung dreier Begriffe

Religion: meint phänomenologisch zunächst den Glauben, der geglaubt, die „Lehre“ (lat.: „fides quae creditur“). Auf diese Seite des „Tetraeders des Glaubens“ gehören die Lehrbücher des Glaubens, allen voran der Katechismus und die Glaubensbekenntnisse. An diesen Inhalten versuchen Menschen sich festzumachen, Halt zu finden, z.B. in der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod.
(„Weltanschaulich“ könnte statt „religiös“ die Beschreibung der Welt aus einer marxistisch-leninistischen Idee, ebenso Kapitalismus-Modelle oder Schriften des Liberalismus stehen. Entscheidend für diese Seite: Es geht um ein Lehrgebäude! Psychologisch können hier Glaubenssätze – „Ich bin sündig!“ oder „Ich bin geliebt!“ usw. – eine Rolle spielen.)

Frömmigkeit: meint phänomenologisch den Glauben, wie er geglaubt wird, das „Glaubensleben“ (lat.: „fides qua creditur“). Auf diese Seite des „Tetraeders des Glaubens“ gehören die Gesang- und Gebetbücher, gehören Riten und Abläufe, Lieder und Brauchtum – und ihr Wert als Ausdruck von Zugehörigkeit, auch als Ausdruck des Sich-Überantwortens und des Umgangs mit Liebe und Heil, aber auch Angst und Unheil.
(„Weltanschaulich“ statt „fromm“ kann alles genommen werden, was man z.B. in Gruppierungen um des Erkennens und um der Zugehörigkeit willen singt, liest, auch Gesten und Körperhaltungen etc. Entscheidend für diese Seite: Es geht um Weisen der Zugehörigkeit! Psychologisch spielt hier daher alles eine Rolle, was „Zugehörigkeit“ vermittelt – oder eben in Frage stellt: Riten, Gewänder, Lieder, aber auch Lebensformen, Lebensentscheide usw.)

Spiritualität: meint phänomenologische die Suche nach einem Geist, aus dem heraus Leben gestaltet und gedeutet wird. Drei allgemeine plus ein spezifizierendes Kennzeichen können erkannt und genannt werden:[1]
(1) Sie wird als alltagstauglich erfahren, d.h. prägt und sie deutet den Alltag.
(2) Sie erweist sich als dialogisch – ein spirituell lebender Mensch kann zum einen verständlich Antwort geben auf die Frage, warum er oder sie was wie tue. Und umgekehrt: Ein spirituell lebender Mensch lässt sich ansprechen von dem, was ihm, was ihr im Kleinen wie im Großen begegnet, und von denen, die ihm/ihr begegnen.
(3) Spiritualität ist ausgerichtet auf ein „Mehr“ an Menschwerdung, ist ausgerichtet auf ein „Humanum“, ein bestimmtes Bild vom Menschen und von Menschsein. Sie gibt dem Leben ein „Mehr“ an Tiefe, an Weite, sie lässt Liebes- und Leidensfähigkeit im Menschen wachsen.
(plus 1): Und insofern sie christliche (oder buddhistische ) Spiritualität ist, orientiert sie sich an Botschaft, Handeln und Leben Jesu Christi (oder des Buddha). Hier wird dann die Bibel (oder die Schriften Buddhas) zum Buch der Spiritualität.

Thesen für den Weisheitskreis

  • Das Modell vom Tetraeder zeigt, dass es dem Betrachter auf Augenhöhe immer nur möglich ist, gleichzeitig eine oder maximal zwei Seiten zu sehen. Phänomenologische Folge: für einen spirituellen Menschen ist weder Religion noch Frömmigkeit notwendig oder vorausgesetzt – es geht um eine wahrnehmbare Dimension der drei Kennzeichen, die oben genannt sind. Der ursprünglich religiös gefärbte und der auf die Religion hingeordnete Begriff der „Spiritualität“ hat sich von „Religion“ und „Frömmigkeit“ emanzipiert. Das Tetraeder-Modell zeigt: sie müssen nicht getrennt sein, aber sie sind unterschieden und unterscheidbar.

 

  • Sieht man vom Tetraeder die beiden Seiten „Religion“ und „Frömmigkeit“, ist die dritte Seite, „Spiritualität“ nicht sichtbar. Die phänomenologische Folge ist, dass Menschen in Religionen wie in Weltanschauungen fest davon überzeugt sein, dass die Lehre und dass die zugehörigen Abläufe, Riten, Verhaltensweisen „richtig“ sind – spätestens das 2. und dann das 3. Kriterium der Spiritualität – „dialogisch“ im doppelten Sinne und „Ausrichtung auf das Humanum“ – können fehlen, wenn nicht gar negiert werden. Im besten Falle dienen „Religion und Frömmigkeit“ dem Strukturieren und Deuten des Alltags und dem Erleben einer Zugehörigkeit, die bis zum Verlust der Individualität gehen kann.

 

  • Sieht man vom Tetraeder die beiden Seiten „Religion“ und „Spiritualität“, so kann in der phänomenologischen Wahrnehmungdas „Maß nehmen“ erkannt werden. Der in dieser Weise spirituelle Mensch lebt aus der Lehre z.B. eines Religionsstifters oder einer politischen Schule bzw. einer politischen Lehrmeinung oder Richtung. Lebensführung und Entscheidungsfindung geben davon Zeugnis.

 

  • Sieht man vom Tetraeder die beiden Seiten „Frömmigkeit“ und „Spiritualität“, so kann in der phänomenologischen Wahrnehmung wiederum das „Maß nehmen“ entdeckt werden – in umgekehrter Richtung! Es mag hier weniger um die Frage nach der „Zugehörigkeit“ als um die Frage nach der „Angemessenheit“ gehen. Primär ist dem in dieser Weise spirituellen Menschen die Suche nach einem Geist, der alltäglich, alltagstauglich und der doppelt dialogisch ist, und nach einem Geist, der liebesfähig und leidensfähig ist . Christlich wäre diese Spiritualität dann, wenn dieser Geist eine Ausrichtung auf Jesus Christus ausweist, buddhistisch gilt das Gleiche mit einer Ausrichtung auf den Buddha; aber auch sozialistische Spiritualität mit Ausrichtung auf Marx, Lenin, Rosa Luxemburg oder eine Ausrichtung auf Mahatma Ghandi u.v.a. sind denkbar.

 

  • Als Impuls für den Schluss: Was heißt das jetzt für dich, zu sagen, du seist Christ oder Christin, katholisch, evangelisch, freikirchlich? Oder Buddhist, Buddhistin, oder du seist ungläubig, oder aus der Kirche ausgetreten? Und was heißt das für deine Spiritualität bzw. die Anerkennung der Spiritualität anderer?

Köln, 23.09.2025
Harald Klein

[1] Im Folgenden beziehe ich mich auf Schütz, Christian (1988): Christliche Spiritualität, in (ders.) (Hrsg.): Praktisches Lexikon zur Spiritualität, Freiburg, 1170-1179.