Weihnachten – Einen Sinn zum L(i)eben finden

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Wir bauen die Krippe auf

Am Montag vor Heiligabend kommt ein mir sehr lieber und nahestehender Freund, der sich neben dem Geschenk seiner Freundschaft unter anderem durch eine hohe Sensibilität und durch ein nahezu untrügliches Gefühl für Bewegung auszeichnet, und dafür, Dinge und Menschen im rechten Verhältnis zueinander zu sehen und ins rechte Verhältnis zu setzen. Auch um dieser Gabe Willen schätze ich ihn sehr. Er wird mit mir die Krippe in meinem Wohnzimmer aufbauen.

Ich ahne schon, dass es in der Zusammenstellung der Figuren um Nähe und Distanz dieser Figuren zueinander gehen wird (wo und wie stehen Maria und Josef?), um An- und Wegschauen bzw. um Blickrichtungen (wohin schauen die Hirten, mit wem sind sie in Kontakt?), um Fluchtpunkte und Standorte (sind die Könige schon da, oder müssen sie noch aus einem anderen entfernten Zimmerwinkel anreisen?). Und vor allem: wo und wie steht die Krippe mit dem Kind (geschützt, zugänglich, frei, verborgen?) und welche Pflanzen dürfen das Ganze begrünen?

Ich schreibe die Predigt weit vor Weihnachten, am Mittwoch, dem 15.12., es sind noch fünf Tage bis zum gemeinsamen Aufbau der Krippe, und sogar noch neun Tage bis Weihnachten, dem Fest, an dem dann an der Krippe die Kerze entzündet wird. Und trotzdem fühle ich schon den Montag mit dem gemeinsamen Aufbau und den Heiligen Abend mit dem Baum und der gleichsam von uns aufgebauten wie uns aufbauenden Krippe, spüre Freude aufs Zusammensein, auf das Planen und dann auf den Aufbau, und später auf die gemeinsame Zeit an der Krippe.

» Man muss die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit finden, um als Mensch wirklich leben zu können. «
Drewermann, Eugen (1993): Auferstanden aus der Angst. Eugen Drewermann im Gespräch mit Eike Christian Hirsch, in: der. (Hrsg.): Wort des Heils - Wort der Heilung, Bd. 4, Düsseldorf, 177.

Die Krippe baut uns auf

„ich komme gern, Du weißt ja, wie viel Freude mir das macht, die Krippe aufzubauen,“ schrieb der Freund vor zwei Wochen. Bösartig könnte man sagen, da fangen erwachsene Männer an, mit Holzfiguren zu spielen. Wer so denkt, hat wahrscheinlich einen Zugang zum „spielerischen Leben“ verloren, schade. Denn das, was da im Aufbau der Krippe mit dem menschgewordenen Gott geschieht, korrespondiert doch auch mit dem Aufbau unserer eigenen – fast könnte man sagen – gottähnlichen Menschlichkeit.

Für einen Moment haben wir mit den Figuren der Krippe die Not der Menschen in der Hand, die in der Kälte der Nacht ein Kind, anders: das Leben gebären, die wachsam auf die Gefahren der Dunkelheiten in dieser Welt sind; wir positionieren bedürftige und auf Leitung angewiesene Schutzsuchende (auch wenn es „nur“ Schafe sind) auf den Ort hin, der uns Leben verheißt. Die Reise der Könige auf die Krippe hin – jeden Tag ein wenig mehr Raum im Wohnzimmer – steht für das Unterwegssein: uns ist das Leben schon geschenkt, aber die Fülle noch nicht, die steht aus in der Begegnung an der Krippe. Über allem der Engel – er gehört nach dem Lukasevangelium nicht an die Krippe, sondern auf das freie Feld der Hirten! Der Blick, die Ahnung des freien, des weiten Feldes unseres Lebens wird beim Aufbau der Krippe uns aufbauen.

Wie so oft erfahren diesen Blick auf das Leben nur die, die sich für diese Berührung des Lebens öffnen. Wie so oft in einem spirituellen Leben und Erfahren gibt es nur die eine Vor-Leistung: sich offen zu halten dafür, dass etwas geschieht, sich zu öffnen, sich aufzumachen (im doppelten Sinn des Wortes), wie es am vierten Advent gezeigt wurde.

» Der Fehler bei unseren Fragen und Klagen ist vermutlich der, dass wir von außen etwas geschenkt bekommen möchten, was wir uns nur selber, mit eigener Hingabe, in uns zu erlangen vermögen. Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben – aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selber ihm zu geben imstande sind. «
Hesse, Hermann (1981): Mein Glaube, hrsg. von Siegfried Unseld, Frankfurt/Main, 121f.

Das Geschehen deuten – einen Sinn finden

Es ist nicht – und wohl niemals – die Frage, was wir da eigentlich tun: eine Krippe aufbauen. Es ist hierbei – und wohl meistens, wenn nicht gar immer – die Frage, welchen Sinn wir dem, was wir da tun, geben. Oder welchen Sinn wir dem, das uns ereilt, abgewinnen (was für ein schönes Wort) können. Hermann Hesse schreibt 1956: „Der Fehler bei unseren Fragen und Klagen ist vermutlich der, dass wir von außen etwas geschenkt bekommen möchten, was wir uns nur selber, mit eigener Hingabe, in uns zu erlangen vermögen. Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben – aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selber ihm zu geben imstande sind.“[1]

Was für ein Satz, der auch dem Aufbauen der Krippe gilt, dem Singen der Weihnachtslieder, der Feier der Weihnacht. Es ist nicht das „von außen“, dass all das sinnvoll macht, sondern das „von innen“; Sinn stellt sich nicht von außen her ein, gehört nicht zum Inventar, zum Habitus des Erlebens oder des Lebens. Sinn wird dem Erleben, dem Habitus des Lebens von uns, von jedem einzelnen gegeben. Oder anders: Sinn im Leben ergibt sich nicht von außen, von selbst, Sinn wird von Ihnen, von mir und Dir, eben nicht aus dem Leben herausgelesen, Sinn wird subjektiv ins Leben und Erleben hineingelesen.

» Weil der Einzelne das nur unvollkommen vermag, hat man in den Religionen und Philosophien versucht, die Frage tröstend zu beantworten. Diese Antworten laufen alle auf das Gleiche hinaus: den Sinn erhält das Leben einzig durch die Liebe. Das heißt: je mehr wir zu lieben und uns hinzugeben fähig sind, desto sinnvoller ist das Leben. «
Hesse, Hermann (1981): Mein Glaube, hrsg. von Siegfried Unseld, Frankfurt/Main, 121f.

Sinn finden, an der Krippe, in der Krippe

Weihnachtlich gesagt: Ich höre mit die Weihnachtsgeschichte an, zum unendlich wiederholten Male. Ich baue mit dem Freund die Krippe auf, kenne alle Figuren – aber wenn ich frage, was das alles soll, und welchen Sinn das habe, muss ich passen. Weder Ochs noch Esel, weder Hirten noch Josef oder Maria, weder die Engel noch die Könige können mir (von außen) einen Sinn anbieten. Spielende Männer, die Figuren aufbauen, mehr nicht! Doch diese These bekommt eine Wendung, wenn der Freund eine meiner Krippenfiguren, einen Hirtenjungen mit einem Lamm auf dem Arm, der das Jahr über bei ihm wohnt, zum Aufbau der Krippe mitbringt und den Hirtenjungen (er trägt den Namen des Freundes) an meine Krippe stellt.

In der Frage nach dem Sinn und dem Impuls, ihn selber und aus uns heraus dem Leben zu geben, fährt Hermann Hesse fort: „Weil der Einzelne das nur unvollkommen vermag, hat man in den Religionen und Philosophien versucht, die Frage tröstend zu beantworten. Diese Antworten laufen alle auf das Gleiche hinaus: den Sinn erhält das Leben einzig durch die Liebe. Das heißt: je mehr wir zu lieben und uns hinzugeben fähig sind, desto sinnvoller ist das Leben.“[2] (121f) – von 1956

Das ist doch mal eine Weihnachtsbotschaft: „Je mehr wir zu lieben und uns hinzugeben fähig sind, desto sinnvoller ist das Leben.“ Wie gesagt, ich schreibe die Predigt am 15.12., unser gemeinsamer Krippenaufbau wird am 20.12. stattfinden. Dann zieht auch der kleine Hirtenjunge mit dem Lamm auf dem Arm um. Ihren Ort hat die Predigt in der Christnacht und am Weihnachtstag am 24./25.12.

Aber Sie haben es sicher schon heraus: Einen Sinn im Leben finden, das ist völlig unabhängig vom Datum. Mit offenen Sinnen wahrnehmen, was Ihnen tagtäglich in die Krippe gelegt wird, mit weitem Herzen annehmen, wer da mit Ihnen um die Krippe steht, in der Haltung von Liebe und Hingabe. An Ostern 2021 war in den Predigten die Rede von Rose Ausländers „Unsere Sterne – Brot, Wort, Umarmung“ – wenn all das keine Deutung von Leben mit Sinn ist, dann weiß ich es nicht.

Ich glaube, so geht Weihnachten, so sehe ich einen Sinn im Fest, in der Krippe, in deren Aufbau. Von daher ein Dankeschön dem, der die Krippe mit aufbaut am Montag, für die Tage davor und für alle gemeinsamen Tage, die noch kommen.

Amen.

Köln 15.12.2021
Harald Klein

[1] Hesse, Hermann (1981): Mein Glaube, hrsg. von Siegfried Unseld, Frankfurt/Main, 124.

[2] ebd.