Weihnachten – Von der Wahrheit und der Wirklichkeit Gottes

  • Auf Links gedreht - Das Evangelium
  • –   
  • –   

Das Wort ist Fleisch geworden

Wie das Kind in der Krippe in der Heiligen Nacht, so gehört die Rede vom Fleisch gewordenen Wort in den Gottesdienst des Weihnachtstages. Ob Du Dir des Wunders des Fleisch gewordenen Wortes bewusst bist, ob Du es mit eigener Erfahrung verbinden kannst?

Es muss ja nicht gleich um Gott gehen. Es mag genügen, wenn im Kontext der Freundschaften, Partnerschaften oder Ehen aus einem Wort des Zusammenbleibens ein Ring erwächst, den sich beide schenken. Die das tun, deren Liebe ist „Fleisch“ geworden. Oder wenn in therapeutischem (oder freundschaftlichem) Rahmen ein heilsamer Mensch einen wunden Menschen bittet, ihm mit Handschlag zu besiegeln, dass er sich bis zum Wiedersehen nichts antut. Eine Wahrheit geht ins Fleisch der sich gereichten Hände über.

Um es vorwegzusagen: aus der „Wahrheit“ der Liebe der Partner*innen zueinander oder dem unversehrten Weiterleben im zweiten Beispiel wird „Wirklichkeit“. Da bekommt ein Wort Fleisch. „Wahrheit“ will etwas „aus-sagen“ oder „be-wahren“; „Wirklichkeit“ ist das, was wirkt, was etwas „bewirkt“.

„Die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten“, heißt es in der zweiten Lesung der Heiligen Nacht. Gläubige und ungläubige Menschen fragen: „Ist das auch wahr?“ Und diejenigen, die für das Christentum oder für Jesus Christus einstehen, werden sagen: „Die Gnade Gottes ist wirklich Fleisch geworden in Jesus Christus.“

Weihnachten ist ein Fest, das einen Unterschied macht zwischen einer „Wahrheit“ (i.S.v. einer Idee des Bewahrens) und einer „Wirklichkeit“ (i.S.v. „Fleisch angenommen“, i.S.v. sinnlich erfahrbar). Diese Unterscheidung gilt auch für die Zusage aus der heutigen ersten Lesung des Propheten Jesaja: „Der Herr hat seinen heiligen Arm vor den Augen aller Nationen entblößt und alle Enden der Erde werden das Heil unseres Gottes sehen.“ (Jes 52,10). Ist das auch wahr? Sehen kannst Du nur die „Wirklichkeit“ von Weihnachten, die „Wahrheit“ ist die Deutung dessen, was Du siehst, der du zustimmen oder die Du ablehnen kannst.

» Die Vorratskammer an Mythen ist wahrhaft riesig. Die Griechen natürlich, aber auch die nordischen Prosa-Edda und Lieder-Edda, Äsop, Homer, der Ring der Nibelungen, die keltischen Legenden sowie die drei großen Sagenwelten Europas: jene Frankreichs mit ihren Geschichten um Karl den Großen, jene Roms mit Geschichten, die sich um das Weltreich drehen, und die Sagenwelt Großbritanniens, also die Lebenden um den König Artus. Hier in Deutschland wären die von Jakob und Wilhelm Grimm gesammelten Märchen zu nennen. [...] Alles, was ich über das Gute und sein Gegenteil wissen muss, über Freiheit, Gefangenschaft und Konflikt, findet sich in diesen Geschichten. Geht es allerdings um die Liebe, dann muss ich mich, wie ich gestehe, anderswo umsehen. «
Rushdie, Salman (2023): Wäre der Frieden ein Preis. Dankesrede anlässlich der Übergabe des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche

„Alles, was ich über das Gute uns sein Gegenteil wissen muss…“

„Alles, was ich über das Gute und sein Gegenteil wissen muss, über Freiheit, Gefangenschaft und Konflikt, findet sich in diesen Geschichten. Geht es allerdings um die Liebe, dann muss ich mich, wie ich gestehe, anderswo umsehen.“ [1]Salman Rushdie spielt in diesem Zitat auf die „Vorratskammer an Mythen“[2] an, bei den Griechen, bei der Prosa- und der Lieder-Edda, bei Äsop und Homer, im Ring der Nibelungen und in den Sagenwelten um Rom, um Karl den Großen, um König Artus. Er nennt allerdings weder Thora noch Bibel oder Koran. Die Weite seiner Aussage stellt die Frage an Dich: Woher weißt Du etwas über das Gute, oder über sein Gegenteil, über Freiheit, Gefangenschaft, Konflikt?

Die Beschreibung der Wirklichkeit all dessen (und von vielem mehr) kannst Du den Kulturleistungen der Welt einnehmen, allen voran der Literatur. Zu allen Zeiten und in allen Höhen und Tiefen des Menschseins werden diese anthropologischen Grunddaten beschrieben, in ihrer Wahrheit, in ihren Daseinsmöglichkeiten. Wirklich werden die Möglichkeiten erst, wenn sie Fleisch annehmen, wenn die Ideen und die beschriebenen Möglichkeiten der Wahrheit von einem Menschen aufgegriffen werden und ins Sein übergehen. Das gilt auch für das Heil, das Jesaja allen Enden der Erde verheißt. Auch das Heil muss einen Weg von der Wahrheit in eine Wirklichkeit finden. Auch das Heil muss Fleisch werden, damit seine Herrlichkeit gesehen werden kann.

» Alles kommt darauf an, nicht aufzugeben, nicht zurückzuwollen, sondern die Mitte anzustreben. Mitte heißt hier: neues Leben. «
Halbfas, Hubertus (1981): Der Sprung in den Brunnen. Eine Gebetsschule, Düsseldorf, 36.

Der Weg von der Wahrheit in die Wirklichkeit: Ein Labyrinth

Du kannst Dir jetzt jedes beliebige Beispiel aus diesem Text nehmen, oder Du suchst Dir ein anderes, wie Du magst. Damit eine behauptete Wahrheit (Idee) zu einer sinnenfälligen Wirklichkeit (Fleisch) werden kann, gibt es kein besseres Bild, keinen adäquateren Weg als den des Labyrinths. Hubertus Halbfas widmet dem Labyrinth in seiner Gebetschule viel Raum. Er schreibt: „Such mit dem Finger den Weg in die Mitte. Du kannst den Lebensweg eines Menschen er-fahren, der die alltägliche Welt verlässt, um durch eigenständiges Fragen, Denken und Handeln an den Wendepunkt zu kommen. Du gerätst in ein Gewirr von Gängen, die dich viermal siebenmal zwingen, deine Richtung zu ändern. Manchmal glaubst Du, die Mitte erreicht zu haben – und gleich darauf sieht es so aus, als ständest Du erneut am Anfang. Es ist ein Gehen und Suchen und Suchen und Gehen über Jahre. Alles kommt darauf an, nicht aufzugeben, nicht zurückzuwollen, sondern die Mitte anzustreben. Mitte heißt hier: neues Leben.“ [3]

„Mitte heißt hier: neues Leben.“ Für mich ist dieses Wort in diesem Jahr die Zusage des Weihnachtsfestes. Die vielen Bilder von Leben, die mir u.a. Mythen aus allen Kulturen und Literatur aus allen Zeiten weitergeben, liefern Wahrheiten über das Leben. Ich kann um sie kreisen wie um die Mitte des Labyrinths. Viermal siebenmal ändert sich die Richtung. Und „alles kommt darauf an, nicht aufzugeben, nicht zurückzuwollen, sondern die Mitte anzustreben.“

» Solange wir Gott noch außen suchen, anstatt im eigenen Seelengrund, sind Mensch und Gott sich fremd. «
Halbfas, Hubertus (1981): Der Sprung in den Brunnen. Eine Gebetsschule, Düsseldorf, 117.

Noch einmal: Und das Wort ist Fleisch geworden

Das Bild von Leben, das Du hast, wohnt in der Mitte. Ich finde es tröstend, dass allein der Weg zur Mitte, zum Leben – man darf es auch Christus nennen, muss aber nicht – schon Fleisch annimmt, Fleisch wird dann, wenn Du dich auf den Weg machst, und dass es Fleisch bleibt, wenn die viermal siebenmal Krümmungen kommen. Das „Wort“, Deine „Lebenswahrheit“ drückt sich auf Deinem Weg durch das Labyrinth des Lebens immer neu aus, nimmt in Deiner Lebenswirklichkeit immer mehr Fleisch, immer mehr Gestalt an.

Auf dem Weg zur Mitte mit allen Windungen und Krümmungen wird die Wahrheit des Wortes Wirklichkeit in Deiner Lebensgestalt!

Meine Idee für heute ist, die Menschen in meinem Umfeld anzusehen und mir zu sagen: In ihm, in ihr, in Dir ist das Wort Fleisch geworden, ist mir Gott ganz nahe. Und dann den Weg durch das Lebenslabyrinth so gehen, dass diese Wahrheitauch in mir Wirklichkeit wird.

Amen.

Köln, 22.12.2023
Harald Klein

[1] Rushdie, Salman (2023): Wäre der Frieden ein Preis. Dankesrede anlässlich der Übergabe des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche. Text und Seitenzahlen beziehen sich auf den Sonderdruck des Börsenblattes des Deutschen Buchhandels, Frankfurt/Main, hier 27.

[2] ebd.

[3] Halbfas, Hubertus (1981): Der Sprung in den Brunnen. Eine Gebetsschule, Düsseldorf, 35f.