Eine Definition von „Widerstand“?
Dem Gesprächsimpuls liegt ein Besuch in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin zugrunde. In einer öffentlichen Führung verwies die Begleiterin der Führung auf die Vielfalt der Weisen, widerständig zu werden und widerständig zu leben. Gleichzeitig machte sie deutlich, dass es keinen objektiv klaren Begriff, keine klare Definition dessen, was „Widerstand“ meint, in der deutschen Umgangssprache gibt.
Als Besucher der Führung ließ mich die Frage nicht los, ob, wann, warum ich mich als „widerständig“ erlebe – scheint es doch, dass es viele Felder und Entwicklungen gibt, die eine je eigene Form von Widerstand beinahe notwendig erscheinen lassen.
Die Frage nach einem „widerständig leben“ begleitet unsere Tageswanderung.
Annäherungen an den Begriff des „Widerstandes“/des „Widerständigen“:
Im Laufen tauschen wir uns aus: Ist es für Dich Widerstand/widerständig, wenn…
- … eine Mutter dem Bitten/Drängeln, Schreien/Weinen des Kindes nicht nachgibt und ihm z.B. die Süßigkeit verweigert?
- … Du Dir selbst bei einem feuchtfröhlichen Abend ein letztes Bier versagst, weil Du morgen einen langen Tag hast?
- … Du eine Partei/politische Gruppierung finanziell unterstützt, die sich eher für Deinen politischen Willen einsetzt?
- … Du in eine Partei eintrittst, um Dich auf diese Weise auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Mitteln für Deinen politischen Willen einzusetzen?
- … Du auf Fern- und Flugreisen, vielleicht sogar auf ein eigenes Auto verzichtest, um klimabewusster zu leben?
- … Du bei Geldanlagen auf ethische Fonds achtest und hier anlegst?
- … Du beim Einkauf, bes. bei der Ernährung auf Umweltlabels, Herkunftsländer, Tierhaltung etc. achtest?
- … Du Leserbriefe schreibst und Dich auf Instagram etc. mit einer klaren Meinung gegen von Dir empfundene Ungerechtigkeiten äußerst?
- … Du im Freund*innenkreis auch Positionen vertrittst, die nicht von der Mehrheit geteilt werden?
- … Du aus der Kirche austrittst oder der Kirche zugehörig bleibst?
- … Du in Hierarchien und Institutionen Positionen vertrittst, die von den „Oberen“ nicht geteilt werden?
- … – vielleicht fallen Dir andere Beispiele ein?!
Definitionen von Widertand[1] – welchen Formen von Widerstand bin ich schon begegnet?
Widerstandsrecht im Grundgesetz: Art 20 Abs 4 verbürgt jedem Deutschen das Recht, gegen jedermann Widerstand zu leisten, der die im Grundgesetz verankerte freiheitlich demokratische Grundordnung außer Kraft setzt. Der Umkehrschluss: solange diese Grundordnung besteht, gibt es keine Rechtsgrundlage, auf der das Widerstandsrecht angewandt werden kann – gibt es die Grundordnung aber nicht mehr, gibt es auch kein Recht (im Sinne des Gesetzes) auf Widerstand mehr!
Widerstand als Alltagsbegriff: (1) Weiter Begriff: Widerstand als Angriff auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse; (2) Allgemeiner Begriff: „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ (3) Individueller Begriff: Widerstand ist das Aufbegehren der Un-Mächtigen gegen die Mächtigen, mit einer Utopie für eine gerechte Gesellschaft, an der sich auch die eigenen Handlungen messen lassen müssen.
Widerstand als kulturtheoretischer Begriff (Paul Willis): Soziologisch ist Widerstand die Unzufriedenheit gegen die alltäglichen und die herrschenden Verhältnisse. Mit widerständigen Strategien richten sich Menschen in das bestehende System ein (z.B. Machogehabe und gewaltbereites Auftreten benachteiligter Jugendlicher).
Widerstand als Angriff auf die Machtverhältnisse (Michel Foucault): Michel Foucault hat Widerstand als Angriff auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse definiert, die sich in eben diesen Verhältnissen bewegen und etablieren. Daraus zieht er den Schluss, dass sich Widerstand als Gegenpol mit der Macht wechselseitig bedingt. Machtverhältnisse können nur durch eine Vielfalt von Widerstandspunkten existieren, diese sind im Machtnetz präsent sowohl als Gegner wie auch als Stützpunkte, als Einfallstore oder Zielscheiben.
Widerstand als kollektiver Prozess Pierre Bourdieu): Pierre Bourdieu hat Widerstand recht praktisch definiert: Widerstand entsteht dann, wenn die Konkurrenzkämpfe überwunden werden zugunsten von Kämpfen, die die herrschende Ordnung in Frage stellen: durch reale, effektiv mobilisierte Kräfte, praktische Klassen, die kollektiv und öffentlich zu agieren beginnen.
Dietrich Bonhoeffer: Der Weg in den Widerstand
Die beiden Theologen Christian Gremmels (*1941) und Heinrich W. Grosse (*1942) gliedern den Weg Dietrich Bonhoeffers (1906-1945) in den Widerstand in vier Stufen:[2]
- Für Verfolgte eintreten („Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen!“[3])
- Gegen Verfolger handeln
- Sich verbünden („Gemeinsames Leben“ und „Nachfolge“)
- Die Beteiligung an der Verschwörung (Mitarbeit im „Kreisauer Kreis“)
Impulse fürs Gespräch:
- Können wir Beispiele miteinander teilen, die verdeutlichen, wo und wie wir schon „widerständig gelebt haben“?
- Kannst Du Dich da bei im Weg Bonhoeffers in den Widerstand wiederfinden? Welche Stationen sind Dir vertraut, welche weniger oder gar nicht? Wohin möchtest Du?
- Gibt es gegenwärtig Impulse, die zu einem widerständigen Leben einladen oder sogar aufrufen? Wer oder was kann helfen, den Impulsen nachzugehen?
Köln, 22.07.2023
Harald Klein
[1] Quelle: [online] https://www.juraforum.de/lexikon/widerstand-politik [21.07.2023]
[2] Gremmels, Christian/Grosse, Heinrich W. (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer: Der Weg in den Widerstand, 2. Aufl., Gütersloh, 2004
[3] Bethge, Eberhard: Dietrich Bonhoeffer und die Juden, in: Konsequenzen. Dietrich Bonhoeffers Kirchenverständnis heute, hrsg. von E Feil und I. Tödt (Internationales Bonhoeffer -Forum Bd. 3), München 1980, 171-214.