„Womit kann ich dienen?“ – Über (-) Lebensfragen in Sachen „Glaube“ in Deutschland

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Die Ausgangslage

Ich möchte meine Gedanken beginnen mit drei Beobachtungen, die Sie sowohl hier im Bistum Dresden-Meißen als auch ich in der Erzdiözese Köln mache und von denen ich glaube, dass sie im gesamten deutschen Katholizismus zur Zeit eine Rolle spielen und alles andere als lokale oder einzelne Phänomene sind.

Die drei Beobachtungen beziehen sich auf die Kirchenaustritte der vergangenen Jahre, auf den sogenannten „Synodalen Weg“ und auf die vielfältigen Weisen seitens der Bistümer auf die Umbruchsituationen in der Kirche zu reagieren, sei es im Sinne eines „Erkundungsprozesses“ wie hier in Dresden-Meißen, sei es im Sinne nach der Suche eines „Pastoralen Zukunftsweges“ wie in Köln.

Dabei möchte ich gerne die Beobachtungen knapp vorstellen, ohne sie zu bewerten, aber ich bitte Sie nach jeder Beobachtung um ein kleines In-sich-hinein-hören: Ist Ihnen diese Beobachtung bekannt? Und was löst sie bei Ihnen aus?

Eine erste Beobachtung: Im vergangenen Jahr 2019 erreichte die Zahl der jährlichen Kirchenaustritte einen Höhepunkt. Mehr als eine halbe Million Menschen verließen die katholische und die evangelische Kirche. Damit gehören noch 52,1 % der deutschen Bevölkerung einer dieser beiden Kirchen an. Es gebe an dieser Statistik nichts schönzureden, und auch der Rückgang beim Empfang der Sakramente spiegele in der katholischen Kirche den Prozess der Erosion einer persönlichen Kirchenbindung wider, so Bischof Georg Bätzing, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz.[1]

Ist Ihnen diese Beobachtung bekannt? Haben Sie. Mit Menschen zu tun, die aus der Kirche ausgetreten sind oder sich mit diesem Gedanken beschäftigen? Können Sie es verstehen? Können/wollen Sie ihnen entgegnen? Wie begegnen Sie denen, die ausgetreten sind – gerade, wenn sie Ihnen nahestehen? Und was löst das Ganze bei Ihnen aus?

Eine zweite Beobachtung: Im Januar 2020 trat zum ersten Mal die Synodalversammlung des Reformprozesses „Synodaler Weg“ in Frankfurt/Main zusammen. Dieser Versammlung gehören die Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz, 69 Vertreter*innen des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken sowie weitere Vertreter*innen geistlicher Dienste und kirchlicher Ämter sowie junge Menschen und Einzelpersönlichkeiten an. Insgesamt umfasst diese Synodalversammlung 269 Menschen. Vier Themenblöcke werden miteinander im Dialog bearbeitet: (1) Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag; (2) Priesterliche Existenz heute; (3) Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche; und (4) Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft. Zu diesen vier Foren konnten persönliche Eingaben eingereicht werden, mehr als 5300 „Stimmen“ wurden so im Büro des Synodalen Weges gesammelt.[2] Das Bistum Dresden-Meißen griff die Themen auf und ging auf „Zuhörertour“[3]:An sechs Abenden und an verschiedenen Orten des Bistums sollte, so Bischof Heinrich Timmerevers, zugehört und frei, ohne Denkverbote, miteinander geredet werden können – auf die Themen der vier Foren hin. Die Internetrecherche für das Erzbistum Köln verweist auf eine eigens eingerichtete Seite auf der Homepage des Erzbistums[4] – hier finden sich der Brief von Papst Franziskus an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland vom 29.Juni 2019 sowie eine Hinführung zu diesem Brief aus der Feder des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki. Verwiesen wird auf einen Blog des Domradios Köln[5] – der letzte Eintrag war zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf den 01.02.2020 datiert. Um einiges informativer für Lesende und Hörende ist der Hinweis auf die „Meldungen zum synodalen Weg“ auf der Homepage des Domradios.[6]

Ist Ihnen diese Beobachtung, ist Ihnen der „Synodale Weg“ bekannt? Und was lösen die Themenblöcke bei Ihnen aus: (1) Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag; (2) Priesterliche Existenz heute; (3) Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche; und (4) Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft? Hätten Sie Interesse, sich zu beteiligen, mit Eingaben, in Gesprächsrunden? Was löst das Ganze bei Ihnen aus?

Eine dritte Beobachtung: Seit mehreren Jahren wurden im Rahmen der Frage nach der Zukunft der Kirche, der Pfarreien und der Gemeinden in Deutschland und als Positionsbeschreibung in der Umbruchsituation der Kirche unterschiedlich bezeichnete, aber in der Ziel- und Stoßrichtung annähernd gleiche Prozesse gestartet. Was in Dresden-Meißen „Erkundungsprozess“ heißt, wird in Köln „Pastoraler Zukunftsweg“ genannt. Am Ende dieses (gemeinde-) pastoral begonnenen Prozesses stehen häufig pfarrlich-strukturelle Ergebnisse. So entstehen durch Fusionen einzelner Pfarreien in Dresden-Meißen sogenannte „Verantwortungsgemeinschaften“. Rechtlich geht es darum, aus z.B. fünf Pfarreien eine einzige Rechtsgröße im Sinne einer „Zentralpfarrei“ zu bilden, in der dann verschiedene Gemeinden (i.S.v. personalen Gemeinschaften) an verschiedenen Kirchorten zusammenkommen und sich gegenseitig unterstützen können. – In der Erzdiözese Köln wurde Ende August in der Öffentlichkeit bekannt, dass die Zahl der Pfarreien von 500 auf 50-60 reduziert werden soll. „Unter dem Dach der neuen Pfarreien soll es demnach mehrere Gemeinden geben; während der Pfarrei ein Pfarrer vorsteht, sollen die Gemeinden von sogenannten Teams von Verantwortlichen geleitet werden, so der Kölner Generalvikar […]. Diese setzten sich aus ehrenamtlich engagierten Laien zusammen und übten ihre Aufgabe jeweils zeitlich begrenzt aus. Als Gemeinden verstehe das Erzbistum sowohl territorial organisierte Gemeinschaften wie auch kategoriale Einheiten um Krankenhäuser, Schulen oder andere kirchliche Einrichtungen.“[7]

Ein drittes Mal die Frage zur Reflexion: Ist Ihnen diese Beobachtung bekannt? Stecken Sie aktiv mit drinnen in diesen Prozessen – oder erleiden Sie sie eher, quasi im „Passiv“? Vielleicht haben Sie auch einen „dritten Weg“ gefunden? Und vor allem: was lösen diese Prozesse an Reaktionen bei Ihnen aus?

Einige ergänzend-erklärende Worte

Bevor ich Ihnen ein Deutungsmodell für das, was hier kirchlich geschieht, anbiete, möchte ich einige gesicherte Ergebnisse, aber auch einige Erklärungsversuche für das anbieten, was hinter diesen drei Beobachtungen stehen kann.

Zur ersten Beobachtung, den Kirchenaustrittszahlen: Es ist ausgerechnet eine der kleinsten und finanziell schwächsten Diözesen gewesen, die sich wissenschaftlich mit den Gründen der Kirchenaustritte beschäftigt hat.[8]Eine Studie der Diözese Essen machte offenbar, dass die Hauptursache zur Entscheidung des Austritts aus der Kirche ein langer Weg der Entfremdung und eine  fehlende emotionale Bindung, gepaart mit Glaubenszweifeln sei. Das Erscheinungsbild der Kirche werde abgelehnt, viele Lehren seien nicht mehr zeitgemäß. Hier werden besonders das Frauenbild und die Haltung zur Homosexualität und gegenüber wiederverheiratet Geschiedenen genannt. Nur jeder Zehnte nannte die Missbrauchsfälle oder die Limburger Finanzaffäre als Motiv. Die Frage nach der Kirchensteuer wird in all dem eher zu einem Auslöser als zu einem Motiv zum Austritt. Entscheidend, so die Studie, sei die Tatsache der Entfremdung von Kirche, die fehlende emotionale Bindung und der Zweifel an den Lehrinhalten.

Lassen Sie mich erneut die Frage zur Verankerung in Ihrem Erleben stellen: Ist Ihnen diese Deutung der Motivation zum Kirchenaustritt verständlich und nachvollziehbar? Und was löst sie bei Ihnen aus?

Zur zweiten Beobachtung, deren Bewertung ich aus meinem subjektiven Nachdenken nehme: In den Beratungen des „Synodalen Weges“ kommen 269 Menschen zusammen. Neben den 69 Mitgliedern der Deutschen Bischofskonferenz sind 69 Mitglieder aus dem Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (ZDK) sowie weitere Delegierte kirchlicher Institutionen, Ordensgemeinschaften und Verbände zur Synodalversammlung benannt. Alle sind von ihrer Herkunft her „Funktionäre“ im Raum der Kirche und Teil der Vollversammlung aufgrund irgendeiner institutionellen Zugehörigkeit. Sie repräsentieren zuerst eine strukturell verfasste, synodale Kirche. Ihr Ringen miteinander geht von daher verständlicherweise um strukturelle und inhaltliche Fragen, die nicht neu sind, auf die hin ich persönlich jedoch aus den Diskussionen der letzten Jahre und Jahrzehnte keinerlei Veränderung erwarte[9]. Es ist ein Wert, miteinander zu reden und aufeinander zu hören, das mag sein – dass dieses Hören des anderen zu strukturellen Veränderungen führt, halte ich persönlich für unwahrscheinlich. M.a.W.: Mit Blick auf die Frage nach der Entfremdung von der Kirche, mit Blick auf die emotionale Bindung in der und an die Kirche und mit den Fragen nach den Zweifeln an den Lehrinhalten erwarte ich vom „Synodalen Weg“ keine Hilfe, keine Unterstützung, keine Entwicklung. Wenn schon die Tatsache, dass die Bischöfe mit Ausnahme der Zelebrierenden in „Zivil“ am Eröffnungsgottesdienst der Synodenversammlung teilnehmen sollen und die Tatsache, dass sich die Sitzordnung basisdemokratisch nach dem Alphabet richtet, zu einem „betroffenen Schweigen“ führt, wie es die Tagespost vermutet, wird dieses Schweigen sich wohl auch in den vier Themenblöcken fortsetzen. Die Ergebnisse des „Synodalen Weges“ werden den Trend zum Kirchenausritt nicht aufhalten.

Auch hier die Frage zur Verankerung in Ihrem Erleben: Wie geht es Ihnen im Gedanken an den „Synodalen Weg“? Wie stehen Sie dazu? Und was lösen diese Gedanken bei Ihnen aus?

Zur dritten Beobachtung und zu einer wiederum persönlichen Bewertung der Umstrukturierungsvorhaben der Pfarreien. Auch hier kann ich nur einige beobachtete Linien nachzeichnen. Eine Umbruchsituation, die mit einem Rückgang von Finanzen, Priesterzahlen und aktiv in der Gemeinde Glaubenden zu tun hat und die auch Veränderungen in den Lebenswelten der Menschen vor Ort zu berücksichtigen scheint, beginnt mit Begriffen wie „Kirchenentwicklung“ oder „Pfarreiwerdungsprozess“ einen auf Zukunft hin ausgerichteten Titel. Es gilt, die Rechtsform der Pfarrei so neu zu beschreiben und zu fassen, dass christliches Leben – was auch immer damit gemeint ist – in dieser Pfarrei gesichert ist. So entstehen aus mehreren kleineren Pfarreien entweder eine größere Zentralpfarrei oder ein Netzwerk kleinerer Pfarreien, von der man sich ein verstärktes christlichen Leben erhofft.[10]Christliche Leben aber bedarf nicht der Struktur einer rechtlich gefassten Pfarrei, es bedarf der Menschen, die aus ihrem Glauben heraus leben. – Je nach Ausrichtung derer, die für diesen Umstrukturierungsprozess Verantwortung tragen, wird jetzt eine Entscheidung eher zugunsten der Zentralpfarrei oder zugunsten des Netzwerkes fallen, das eine schließt das andere eher aus. Fällt die Entscheidung zugunsten der Zentralpfarrei, werden gewachsene und liebgewordene Traditionen in den einzelnen Strukturen der Pfarreien und vor allem bei den Menschen in den Gemeinden der Idee der Zentralpfarrei „geopfert.“ Eine Folge ist die innere Emigration und die Verweigerung, an den neuen und unverstandenen Strukturen mitzuarbeiten. Dies hat zur Folge, dass Menschen, die in den kleinen Pfarreien Jahrelang eingestanden sind für verschiedenste Grunddienste der Kirche, sich zurückziehen; oft kommen so Menschen neu „zum Zuge“, die für die Idee der Zentralpfarrei einstehen. Diese Spannung kommunikativ und außerhalb einer Gewinner-Verlierer-Matrix zu lösen ist beinahe unmöglich. Und: Im Rahmen einer Kirchenentwicklung und eines Pfarreiwerdungsprozesses entstehen natürlich auch Spannungen, Eifersüchteleien und Abspaltungen dann, wenn in Netzwerkstrukturen gedacht und gearbeitet wird. Hier wie dort trifft die Umstrukturierung auf einerseits neu formulierte und andererseits gewachsene und liebgewordene Ziele und Methoden, vor allem aber tritt die Umstrukturierung hier wie dort auf Menschen, die für „Neues“ eintreten“ und gleichzeitig auf Menschen, die für „Gewohntes“, für „Rituelles“ für „Gewachsenes“ stehen. Die Gesprächsprozesse müssen – um schon einmal auf den nächsten Schritt vorzugreifen – gut abwägen, ob sie eher mit imperativischen, mit indikativischen oder mit Fragesätzen gestaltet werden sollen.

Und ein letztes Mal die Frage zur Vertiefung und zur Verankerung in Ihrem Erleben: Sie erleben vor Ort die Veränderung der Pfarreistruktur, wahrscheinlich ist ein Seelsorgekonzept erstellt worden, neue Gruppierungen und „Leitungsformen“ sind entstanden. Was erwarten/befürchten Sie vom Bild der Zentralpfarrei? Was erwarten/befürchten Sie vom Bild der Netzwerkstruktur? Können Sie die Prozesse in Ihrer Pfarrei und die Folgen für Ihre Gemeinde(n) nachvollziehen? Und was lösen diese Prozesse und deren Folgen in Ihnen gegenwärtig aus?

Religion – Frömmigkeit – Spiritualität: Unterscheidend in Beziehung setzen

Um diese innerkirchlichen Vorgänge besser verstehen zu können, aber auch um manche außerkirchliche Begegnung vor allem in religiösen Kontexten deuten, aber auch selbst gestalten zu können, greife ich auf einen Artikel des ehemaligen Benediktinerabtes Christian Schütz (*1939) zurück. Im Beschreiben dessen, was christliche Spiritualität sei, unterscheidet er im „Praktischen Lexikon zur Spiritualität“ drei Grundbegriffe, die er unterscheidend in Beziehung setzt: „Religion“, „Frömmigkeit“ und „Spiritualität“.[11]

Religion“ meint ein Sich-festmachen in etwas, das außerhalb meiner selbst liegt. Lange Zeit galt die Rede von den Weltreligionen: Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus. Für all diese Religionen gilt dieses „sich festmachen“ auf eine oder auf mehrere Gottheiten oder göttlich angesehene Personen hin. Es gab und es gibt vermehrt Versuche, „hinter“ die einzelnen Religionen zu schauen, das sie Verbindende mehr zu sehen als das sie Trennende. – Heute kann man ketzerisch fragen, ob nicht z.B. das vegane Leben, das Streben nach Besitz, Geld oder Ansehen so etwas wie eine moderne Religion sei. Der vegan lebende Mensch, der Kapitalist wie auch der Kommunist machen sich fest an etwas, an einer Idee, die außerhalb seiner selbst liegt und auf sein Leben einen großen Einfluss von außen her nimmt. Das mag für die „Herren der Religion“ befremdlich klingen, die „Jungen“ und die „Junggebliebenen“ werden mir vermutlich eher zustimmen.

„Frömmigkeit“ ist die Kenntnis und das Beherrschen der Riten und Praktiken, in denen ich meine Zugehörigkeit zu dieser „Religion“ ausdrücke. Ein kleines Beispiel: Würde ein Vortrag in einem kirchlichen Hause begonnen werden mit „Im Namen …“, hätten viele von Ihnen wahrscheinlich gleich die rechte Hand zur Stirn geführt. Die, die in der katholischen Kirche groß geworden sind, kennen den Sonntagsgottesdienst, wissen, wann zu stehen, zu sitzen, zu knien ist. Manch einer von Ihnen wird den Rosenkranz kennen, vielleicht sogar in diesem Gebet zu Hause sein, und die Älteren sind noch mit dem Nüchternheitsgebot groß geworden sein: eine Stunde vor der Kommunion darf nichts gegessen werden. Der can. 919 §1-3 gilt übrigens heute noch. Ausgenommen sind ältere Leute, sind die Kranken und diejenigen, die sie pflegen, sowie Priester, die am selben Tag zweimal oder dreimal die heiligste Eucharistie feiern – sie dürfen vor der zweiten oder dritten Eucharistiefeier etwas zu sich nehmen, auch wenn nicht der Zeitraum von einer Stunde dazwischenliegt.[12] – Sie meinen, das sei doch pedantisch? Ein vegan lebender Mensch wird niemals sein Geschirr in der Spülmaschine gemeinsam mit den nicht-vegan lebenden Menschen spülen. Er hat seine eigenen Läden, seine eigene Kleidung, in manchem auch seine eigene Sprache – und zumindest Läden, Kleidung, Sprache unterscheidet auch den Kapitalisten vom Sozialisten. Sie merken in all diesen Beispielen: „Frömmigkeit“ hat viel mit Riten und Praktiken zu tun, die z.T. sogar (kirchen-) rechtlich vorgegeben und geregelt sind. Und gleichzeitig sind es diese Riten und Praktiken, die denen, die zu einer Religion gehören, Identität geben, die sie erkennbar machen, die Zugehörigkeit vermitteln und die einen Halt in schwierigen Entscheidungs- oder Lebenssituationen geben. Diese Riten und Praktiken sind nicht einfach austauschbar. Pierre Bourdieu (1930-220), ein französischer Soziologe, prägte dafür den Begriff des „Habitus“[13]: So und nicht anders leben wir unser Christsein, unsere konfessionellen Besonderheiten.

„Spiritualität“ ist mehr. Sie ist alltagstauglich, d.h. prägt und sie deutet den Alltag. Sie ist dialogisch – ein spirituell lebender Mensch kann zum einen verständlich Antwort geben darüber, warum er oder sie was wie tue. Und umgekehrt: Ein spirituell lebender Mensch lässt sich ansprechen von dem, was ihm, was ihr begegnet, und von denen, die mir begegnen. Spiritualität ist ausgerichtet auf ein „Mehr“ an Menschwerdung, ist ausgerichtet auf ein „Humanem“, ein bestimmtes Bild vom Menschen und von Menschsein. Sie gibt dem Leben ein „Mehr“ an Tiefe, an Weite, sie lässt Liebes- und Leidensfähigkeit im Menschen wachsen. Und insofern sie christliche Spiritualität ist, orientiert sie sich an Botschaft, Handeln und Leben Jesu Christi.

Sie können das Bild des Tetraeders hernehmen, um dieses Unterscheiden und in Beziehung setzen sich zu verdeutlichen. Die auf dem Tisch liegende Seite mag der „Grund“ sein – „Kirche“ mag darauf stehen, oder auch „Glaube“. Und dann die drei Seiten, die Sie sich zuwendenden können. Sie wissen: alle drei Seiten sind da. Und sie erleben: niemals können Sie alle drei Seiten gleich gut sehen, wahrnehmen.

Der Seite „Religion“ möchte ich vor allem die Lehre des Christentums zuschreiben, und die „Lehrer“ des Christentums. Es geht um den Glauben, der geglaubt wird („fides quae creditur“), um den Inhalt des Glaubens. Das „Buch“ der Religion ist dementsprechend der Katechismus, und hierher gehört z.B. das Ringen um das christliche Credo, dass erst im 6. Jahrhundert seinen Abschluss fand. Die „Lehrer“ und diejenigen, die auf die Reinhaltung und Beachtung der Lehre verpflichtet sind, waren die Apostel und sind deren Nachfolger, die Bischöfe – und eben nicht die Theologen. Das Unbehagen, das bei denen vor allem aus den beiden anderen „Lagern“ aufkommt, ist, dass diese Bedeutung der Lehre und der Lehrer selbst durch die Lehrer als Lehre definiert wurde; ein Zirkelschluss, der viele erhoffte Reformen von sich aus zunichte macht, man denke nur an die endgültige Absage in der Frage nach dem Priestertum der Frauen durch Papst Johannes Paul II.[14] Seitens der „Spiritualität“ kann berechtigterweise gefragt werden, was denn z.B. das Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens für das eigene Leben einen Aussagewert besitzt. Die Sprache der „Religion“ geschieht in der Regel imperativisch, ihr Satzzeichen ist das Ausrufezeichen – an dem, was hier behauptet wird, halten wir uns fest!

Der Seite „Frömmigkeit“ möchte ich vor allem die Riten, Gebräuche und Gebete/Gebetsformen des Christentums zuordnen. Es geht um den Glauben, wie er geglaubt wird („fides qua creditur“). Die Frömmigkeit hat eine Dimension nach außen; sich in den Riten und Gebräuchen auskennen zeigt: Ich gehöre dazu. Das Kreuzzeichen, die Haltungen im Gottesdienst, die Gestaltung der Wohnung und des Lebens in besonderen Zeiten der Kirche drücken diese Zugehörigkeit und damit ein oft verbundenes Heimatgefühl aus. Das „Buch“ der Frömmigkeit ist am ehesten unser „Gotteslob“: Mit Hilfe dieses Gebets- und Gesangbuchs können Grundgebete gelernt werden, wird über den Empfang der Sakramente informiert, können Lieder eingeübt werden, die Menschen zu einer Heimat im Glauben werden. Die Sprache der „Frömmigkeit“ geschieht indikativisch, sie ist unaufgeregt: Denken Sie an den Einsetzungsbericht („Sende Deinen Geist auf diese Gaben herab…“), denken Sie an ein gemeinsames Gebet („Vater unser im Himmel…“), denken Sie an das oft „sprachlose“ Kreuzchen auf die Stirn beim Abschied. Das „Unbehagen“, dass vor allem aus den beiden anderen „Lagern“ aufkommt, hängt zum einen an der Frage, ob das Brauchtum der Frömmigkeit wohl mit dem Inhalt der Lehre übereinstimmt – wie ist es z.B. lehramtlich begründbar, dass „zwischen den Jahren“, zur Zeit der Raunächte vom Heiligen Abend bis zum Fest der Hl. Drei Könige, nicht gewaschen werden darf, sonst stürbe jemand aus der Familie? Seitens der „Spiritualität“ können z.B. die Formen und die Sprache des liturgischen Betens als „entweltlicht“ oder die Frage nach dem Sakramentenempfang als zu eingeengt und lebensfremd gesehen werden.

Der Seite „Spiritualität“ möchte ich vor allem das Alltägliche, alltägliches Leben und Deuten, zuordnen. Es geht darum, einen Geist in sich groß werden zu lassen, in dem und aus dem ich meinen Alltag gestalten kann. Fragt „Religion“ nach dem Glauben, der geglaubt wird, und ist „Frömmigkeit“ der Glaube, wie er geglaubt wird, so stellt „Spiritualität“ erst einmal die Frage: „Glaube?“ Oder anders: Wer oder was schenkt mir einen Geist, der mein alltägliches Leben deutet, der also „alltagstauglich“ ist? Aus welchem Geist heraus kann ich auf ad, was in der Welt geschieht eine Antwort geben, oder was kann ich antworten, wenn ich nach meinem Handeln gefragt werde („dialogisch“ heißt das bei Schütz).  Welcher Geist hilft mir, mehr liebes- und mehr leidensfähig zu werden, zu wachsen im „Humanum“? Wie geschieht das in christlicher Religion, in christlicher Frömmigkeit? Das „Buch“ der Spiritualität ist – sofern es sich um christliche Spiritualität handelt – die Bibel, und ist die persönliche Suche nach der Bedeutung Jesu Christi für das eigene Leben. Die Sprache der „Spiritualität“ ist vor allem fragend, ist Satzzeichen ist das Fragezeichen. Sie fragt immer weiter nach einem „Mehr“ (lat. magis) an Lebendigkeit, Liebes- und Leidensfähigkeit. Das „Unbehagen“, das vor allem aus den beiden anderen „Lagern“ aufkommt, hat in beiden Lagern die gleiche Wurzel. „Spiritualität“ verhält sich frei sowohl den Lehren aus auch den Riten und Gebräuche gegenüber, sofern diese Lehren und diese Riten und Gebräuche sich als nicht alltagtauglich erweisen, die Dialogfähigkeit eher bremsen als fördern und/oder der Entwicklung der Liebes- und Leidensfähigkeit nicht dienlich sind. Weder die Lehren noch die Lehrer des Glaubens, erst recht nicht die Riten und Gebräuche sind „Herren“ über einen spirituellen Menschen. Und: Auf seiner fragenden Suche nach einem Geist, der eben auch alltagstauglich ist, kann „Spiritualität“ Grenzen überschreiten, die nur von anderen als „Grenzen“ definiert oder gezogen werden.

Was leistet diese Unterscheidung? Wie setzt man sie in Beziehung?

Die Unterscheidung von Religion – Frömmigkeit – Spiritualität hilft, manches Geschehen in der Kirche zu verstehen (was noch lange nicht heißt es hinzunehmen und gut zu heißen!). Eine Verifizierung dessen soll anhand der drei Beobachtungen geschehen.

Zur ersten Beobachtung: Die hohe Zahl der Kirchenaustritte wird mit der fehlenden emotionalen Bindung zur Kirche, mit Glaubenszweifeln und mit einem langen Weg der Entfremdung begründet. Es genügt nachzufragen, welches Wort, welche Begründung wohl die „stärkste“ in diesem Satz ist. Für mich wäre es die „Entfremdung“. Am weitesten weg wären die Glaubenszweifel. Den Kirchenaustritten etwas entgegenhalten hieße, Räume der Begegnung und der Beheimatung schaffen – aus meinem Erleben in Ihrer Pfarrei sind mir da die Liederwald-Gottesdienste ein gutes Beispiel, in denen es über Musik und Gesang, über das Wort Gottes zu einem guten Austausch über Alltag und Deutung dessen im Licht des Glaubens kommt. Ein erstes: Heimat schaffen in einem guten Geist – so ganz ohne Lehre, Lehrer, Riten und Gebräuche.

Zur zweiten Beobachtung: Das Geschehen des „Synodalen Weges“ kann stellvertretend sein für die vielen Wegen, „synodal“ Kirche gesteilten zu wollen. Hier kommen die beiden Seiten „Religion“ samt Lehre und Lehrer und „Frömmigkeit“ samt Funktionäre zusammen. Positiv formuliert: Das muss niemanden stören.“ Negativ formuliert: „Für meine eigene Spiritualität erwarte ich davon nichts.“ Was im Großen geschieht, kann auch für das Kleine gelten, von daher gleich der Sprung in die dritte Beobachtung.

Zur dritten Beobachtung: Die Umstrukturierungsprozesse und die Pfarreiwerdungsprozesse sind nicht nur verbale Ungeheuer. Sie geben sich den Anschein, der „Spiritualität“ und der „Frömmigkeit“ in gleicher Weise dienen zu wollen, was sogar gelingen mag. Letztlich haben sie Ihren Ort aber auf der Seite der Religion und der Lehre, wie es spätestens die Instruktion „Die pastorale Umkehr der Pfarrgemeinde im Dienst an der missionarischen Sendung der Kirche“ vom 29.06.2020 zeigte. [15] Über allem steht hier die Lehre der Leitung einer Pfarrei durch den Pfarrer. „Spiritualität“ muss sich von diesen – dem Lehramt völlig entsprechenden! – Instruktionen befreien, um sich letztlich treu sein zu können; „Frömmigkeit“ kann dies tun, wird sich dann als „Glaube wie er geglaubt wird“ im Konflikt sehen mit dem „Glauben, der geglaubt wird.“

Über (-) Lebenfragen in Sachen „Glauben“ in Deutschland

Im Blick auf das Bild des Tetraeders mit der Unterseite „Glauben“ und den drei Dreieckseiten „Religion“, „Frömmigkeit“ und „Spiritualität“ scheinen mir folgende Fragen und deren Beantwortung wichtig:

 

  • Zu einem verfassten Glauben gehören im Bild des Tetraeders drei Seiten, die miteinander über einer vierten Seite verbunden sind; die Weise, wie diese Verbindung aussieht, muss deutlich werden: wie dient die „Frömmigkeit“ der „Religion“, und wie hängen „Religion“ und „Frömmigkeit zusammen? Vor allem: wie dienen „Religion“ und „Frömmigkeit“ der eigenen „Spiritualität“?
  • Was weiß ich über meine eigene „Religion“, und wie bzw. wozu dient mir dieses Wissen?
  • Welche Formen der „Frömmigkeit“ stützen meine christliche Identität, welche Formen möchte ich gerne ablegen bzw. von welchen Formen habe ich mich schon verabschiedet? Welche Formen von Frömmigkeit möchte ich mit anderen teilen, weil sie mich so wachsen lassen?
  • Welche Ausdrucksformen welche Prägemale hat meine „Spiritualität“, hat der Geist, in dem und aus dem ich mein Leben zu gestalten versuche? Gemeint ist das alltägliche Leben, ist der Umgang mit mir selbst und mit anderen, ist der Moment des Dialogischen, das Antwortgeschehen auf Fragen der anderen und auf das Geschehen der Welt. Wer oder was hilft mir, mehr liebesfähiger und mehr leidensfähiger zu werden? Welche Rolle spielt darin – für eine christliche Spiritualität. Jesus Christus, welche Rolle spielen andere und anderes dabei? Wie sieht die Verbindung zwischen „Spiritualität“ und „Frömmigkeit“ bzw. zwischen „Spiritualität“ und „Religion“ aus? Wo gibt es ggf. Veränderungsbedarf?

Zur Unterscheidung von Religion, Frömmigkeit und Spiritualität

 

201106 Womit kann ich dienen

Dresden, 06.11.2020
Harald Klein

[1] vgl. [online] https://www.tagesschau.de/inland/anstieg-kirchenaustritte-101.html [03.11.2020]

[2] vgl. [online] https://www.synodalerweg.de [03.11.2020]

[3] Vgl. [online] https://www.bistum-dresden-meissen.de/wir-sind/der-synodale-weg [03.11.2020]

[4] Vgl. [online] https://www.erzbistum-koeln.de/thema/synodalerweg/ [05.11.2020]

[5] Vgl. [online] https://www.domradio.de/themen/reformen/2020-02-01/der-synodale-blog-blog-synodaler-weg [05.11.2020]

[6] Vgl. [online] https://www.domradio.de/themen/reformen [05.11.2020]

[7] [online] https://www.katholisch.de/artikel/26682-erzbistum-koeln-will-zahl-der-pfarreien-drastisch-reduzieren [05.11.2020]

[8] Vgl. u.a. [online] https://www.katholisch.de/artikel/16565-die-kirchensteuer-ist-nur-der-ausloeser [05.11.2020]

[9] „Stellung zu beziehen, gehört zum Beruf und zur Berufung eines Bischofs. Das Lehren gehört wie das Leiten und Heiligen zum Charisma des Amtes. Sich öffentlich zu Wort zu melden, hat untrennbar damit zu tun. Verkündigen ist bischöfliche Kernkompetenz. Doch gerade jetzt wirkt manches anders. Zwar haben sich nach der Vollversammlung des Synodalen Weges inzwischen einige Oberhirten zu Wort gemeldet. Doch viele andere halten sich bedeckt. Nicht jeder Bischof dürfte ein eingeschworener Fan oder entschiedener Gegner des Synodalen Weges sein. Da wirkt solches Schweigen auffallend. Wer vielleicht verhalten kritisch oder vorsichtig optimistisch auf den Synodalen Weg schaut, hätte doch auch etwas zu sagen. Doch da kommt wenig. Das muss einen Grund haben. Sitzt den Hirten der Schrecken in den Knochen, was für einen Geist man da aus der Flasche gelassen hat? Bischöfe ziehen in Zivil neben Laien in die Kirche ein. Sowas will ein Katholik eigentlich gar nicht sehen. Die Sitzordnung in der Versammlung ist basisdemokratischer als in einem Parlament. Deutlicher hätte man nicht zeigen können, dass der Synodale Weg auch ein Angriff auf die hierarchische Verfassung der Kirche ist. Eine andere Ekklesiologie macht sich darin breit. Nach der Vollversammlung setzt sich fort, was sich während der Sitzungen schon zeigte. Viele Bischöfe hüllen sich in Schweigen. Es hört sich an wie betroffenes Schweigen.“ [online] https://www.die-tagespost.de/kirche-aktuell/aktuell/Kommentar-um-5-vor-12-Betroffenes-Schweigen;art4874,205299 [05.11.2020]

[10] Diese Form der Zusammenlegung und des Netzwerkes ist grundgelegt in: Die deutschen Bischöfe (2015): „Gemeinsam Kirche sein.“ Wort der deutschen Bischöfe zur Erneuerung der Pastoral, Bonn. Hierin wird sehr für das Bild der Netzwerkstruktur geworben.

[11] Im Folgenden beziehe ich mich auf Schütz, Christian (1988): Christliche Spiritualität, in (ders.) (Hrsg.): Praktisches Lexikon zur Spiritualität, Freiburg, 1170-1179.

[12] vgl. Codex des kanonischen Rechts (21984): Buch IV: Heiligungsdienst der Kirche, Art. 2: Teilnahme an der heiligsten Eucharistie, can. 919, Kevelaer, 417.

[13] Vgl. Bourdieu, Pierre (1976): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/Main, und: ders. (1982) Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main.

[14] Hier sei an das Schreiben von Papst Johannes Paul II. „Ordination sacerdotalis“ vom Mai 1994 erinnert, indem der Papst als Erster der Lehrer festlegt, dass die Kirche keinerlei Vollmacht habe, Frauen die Priesterweihe zu spenden, und dass sich alle Gläubigen der Kirche endgültig an diese Entscheidung zu halten haben. [online] https://www.katholisch.de/artikel/21748-als-johannes-paul-ii-dem-frauen-priestertum-die-absage-erteilte [05.11.2020]

[15] Vgl. [online] https://dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2020/2020-07-20_Instruktion-Die-pastorale-Umkehr-der-Pfarrgemeinde.pdf [05.11.2020]