Zweiter Adventsonntag: Die Dinge beim Namen nennen

  • Anstößig - Darüber lohnt es zu reden
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Die üblichen Verdächtigen – damals

Du kennst das vielleicht, wenn bei „Soko Köln“ oder „Soko Stuttgart“ das Team in der Beratung zusammensitzt und an eine große transparente Glas- oder Plastikwand Fotos mit Gesichtern klebt. Zeiten, Namen, Tätigkeiten und Beobachtungen werden daruntergeschrieben und mittels Pfeilen werden Relationen zu den „üblichen Verdächtigen“ aufgezeigt.

So ähnlich kannst Du Dir den Beginn des heutigen Evangelientextes vorstellen: „Es war im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tibérius; Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Tetrárch von Galiläa, sein Bruder Philíppus Tetrárch von Ituräa und der Trachonítis, Lysánias Tetrárch von Abiléne; Hohepriester waren Hannas und Kájaphas.
Da erging in der Wüste das Wort Gottes an Johannes, den Sohn des Zacharías.“

Die Verbrecherbande bei Lukas ist schnell genannt: An erster Stelle im Clan wird der römische Kaiser genannt, Tiberius. An seiner Statt herrscht sein lokaler Vertreter Pontius Pilatus in Jerusalem. Dann die anderen Herrscher der Tetrarchie – hier ist das Land in vier Teile aufgeteilt, die unterschiedliche Herrscher haben: Pilatus Vasall Herodes Antipas, dessen Bruder Philippus mit zwei Herrschaftsbereichen, und Lysánias. Neben der staatlichen wird auch die religiöse Herrschaft genannt: die Hohepriester Hannas und Kájaphas. Die üblichen Verdächtigen eben.

Deutlich wird, wie sehr der Evangelist Lukas um eine „historische Rahmung seiner Darstellung“[1] bemüht ist. Es geht ihm um eine Befreiungsgeschichte. Und er nennt dazu geschichtliche Personen beim Namen. Die Namen und die dahinterstehenden Personen und ihre Geschichte(n) kennen die den von den Römern besetzten Juden, aber auch den Römern selbst sind sie nur zu gut bekannt sind. In seiner Verkündigung übersteigt Lukas zum einen Grenzen und setzt zum anderen an einem geschichtlich greifbaren Punkt an – ein kluger Kopf.

» Dass wir in einem Zeitalter sich überlagernder Krisen leben, wird kaum jemand noch in Frage stellen. Der Satz wirkt mittlerweile wie abgegriffen. Aber ist die Rede von einer ‚Krise‘ überhaupt angemessen? Krisen haben nämlich einen Anfang und ein Ende, wie vorläufig letzteres auch sein möge. Die Klima-Krise ist demnach keine, denn die Erderwärmung und die ökologischen Irr- und Wirrnisse werden uns in den kommenden Generationen auf unabsehbare Zeit bedrängen. Es ist keinerlei Ende in Sicht. Die gewaltigen Umwälzungen, die uns bevorstehen und sich bereits ankündigen, nötigen uns von einer ‚Katastrophe‘ zu sprechen. Die Totalität des Raums wird von ihnen erfasst, denn es gibt kein Außerhalb. Das Überlebensproblem wird sich auf die gesamte Zukunft erstrecken. Ein Fliehen aus dieser Zeit ist unmöglich.«
Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft., Stuttgart, 43.

Die üblichen Verdächtigen – heute

Großer Zeitsprung – in die Gegenwart hinein. Es ist auf keiner der drei Ebenen zu leugnen, dass eine Befreiungsgeschichte zu erhoffen und notwendig, die Not wendend zu initiieren ist: Auf der Mikro-Ebene eine Befreiung zu einem verantworteten Umgang mit sich selbst und mit denen und dem um uns herum; auf der Meso-Ebene eine Befreiung zu eben demselben verantworteten Umgang im Zusammenleben in der Zivilgesellschaft (wem es hilft, der mag noch „und in der Kirche“ dazu denken); und auf der Makro-Ebene ein drittes Mal eine Befreiung hin zu einem (vertikal) verantworteten Umgang innerhalb der Generationengerechtigkeit und vor allem (horizontal) hinsichtlich des Überlebens und Lebens in und mit der Klimakatastrophe.

Der Unterschied im Kampf mit den üblichen Verdächtigen ist fundamental. Zur Zeit Jesu – und viele hunderte Male danach – konnten Aufstände, manchmal Kriege, manchmal Verhandlungen dazu führen, dass langfristige Krisen abgewendet werden konnten, bevor sie sich zu andauernden Katastrophen entwickelten. Ich halte es daher mit Jean-Pierre Wils, der klarstellt, dass das Wort „Klimakrise“ beinahe einer Verniedlichung gleichkommt. Er schreibt:

Dass wir in einem Zeitalter sich überlagernder Krisen leben, wird kaum jemand noch in Frage stellen. Der Satz wirkt mittlerweile wie abgegriffen. Aber ist die Rede von einer ‚Krise‘ überhaupt angemessen? Krisen haben nämlich einen Anfang und ein Ende, wie vorläufig letzteres auch sein möge. Die Klima-Krise ist demnach keine, denn die Erderwärmung und die ökologischen Irr- und Wirrnisse werden uns in den kommenden Generationen auf unabsehbare Zeit bedrängen. Es ist keinerlei Ende in Sicht. Die gewaltigen Umwälzungen, die uns bevorstehen und sich bereits ankündigen, nötigen uns von einer ‚Katastrophe‘ zu sprechen. Die Totalität des Raums wird von ihnen erfasst, denn es gibt kein Außerhalb. Das Überlebensproblem wird sich auf die gesamte Zukunft erstrecken. Ein Fliehen aus dieser Zeit ist unmöglich.[2]

» Eine Korrektur wird aber nur dann gelingen, wenn wir uns auch begrifflich neu aufstellen. Unsere Sprache entscheidet mit über die Angemessenheit oder Unangemessenheit unserer Weltwahrnehmung, über die aus ihr zu ziehenden Konsequenzen und abzuleitenden Praktiken. «
Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft., Stuttgart, 15f.

Befreiung – anders, als Du denkst!

Das wäre das erste, was dieser Adventssonntag und sein Evangelium lehrt: War die Menschwerdung Jesu Christi so etwas wie der Initiativversuch Gottes, die geschichtlich herbeigebührten Umstände durch Verkündigung und Lebensweise einzugreifen und sie zum Besseren, einem Freieren und Befreienden zu wenden, so ist die Feier der Menschwerdung Jesu Christi in diesem Jahr die Annahme (im doppelten Wortsinn) einer in ihren bisherigen Folgen nicht umkehrbaren Katastrophe durch den einzelnen Menschen und durch verschiedenste Formen der Gemeinschaft sowie die Bereitschaft, unter dieser Annahme eine Form des gesellschaftlichen Lebens zu entwickeln, wiederum unter dem Leitwort des Freieren und Befreienden, nur eben jetzt in den Grenzen, die die Katastrophe gesetzt hat. Wie beim Evangelisten Lukas – eine Befreiungsgeschichte eben!

Das zweite, was damit in engem Zusammenhang steht, ist die sicher veränderte und verändernde Definition von Begriffen, allen voran die Begriffe des „Verzichts“ und der „Freiheit“. Johannes der Täufer spricht im Evangelium so schöne Worte – Georg Friedrich Händel hat sie in die Eröffnungsarie seines „Messias“ gelegt:

„Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn! Macht gerade seine Straßen! Jede Schlucht soll aufgefüllt und jeder Berg und Hügel abgetragen werden. Was krumm ist, soll gerade, was uneben ist, soll zum ebenen Weg werden.“

Es muss vereinbart werden, was es jetzt heißt, dem Herrn den Weg zu bereiten oder „geradewegs“, „geradlinig“ auf Ziele zuzugehen. Es muss geteilt werden, welche Schluchten untereinander aufgefüllt und was an Vorurteilen, Gewohntem, Liebgewonnen und Unzulässigem (i.S.v. nicht zu Lassendem) „abgetragen“ werden muss. Ebene Wege müssen beschrieben, krumme Wege benannt sein. Und wieder: auf der Mikro-, der Meso-, der Makroebene. In der Sprache des Fachmannes heißt das:

„Eine Korrektur wird aber nur dann gelingen, wenn wir uns auch begrifflich neu aufstellen. Unsere Sprache entscheidet mit über die Angemessenheit oder Unangemessenheit unserer Weltwahrnehmung, über die aus ihr zu ziehenden Konsequenzen und abzuleitenden Praktiken.“[3]

Anders als „Soko Köln“ oder „Soko Stuttgart“!

Es wird – zumindest im Sinn – einige transparente Glas- oder Plastikwände brauchen, auf der Namen, Zeiten, Zusammenhänge, Relationen, vielleicht auch Theorien notiert sind. Nicht, um die üblichen Verdächtigen zu stürzen – im Gegenteil, um weiterzugehen in einem Leben, das ein Mehr an Bedrohung aufwiest als vor 20, 40, 60 Jahren – und Bedrohung ist durchaus aktivisch wie passivisch zu verstehen.

Ein bisschen schade ist schon, dass Lukas an die Liste der üblichen Verdächtigen zwar eine messianische Verheißung aus dem Propheten Jesaja anhängt, aber deren Beginn weglässt Georg Friedrich Händel hat sie im „Messias“ übernommen! Das erste gesungene Wort in diesem wunderbaren Oratorium ist „Comfort ye, my People!“ – „Tröste Dich, mein Volk!“

Und das ist jetzt wirklich Advent! Die Welt sehen, wie sie wirklich ist, nicht, wie ich sie gerne hätte. Dich absichern mit anderen, wie deren Weltsicht ist, und ggf. Dich annähern oder Dich abgrenzen – wage es, Deine eigene Vernunft zu gebrauchen (Dieser Satz hat schließlich seinen 300. Geburtstag in diesem Jahr gehabt). Die Gefahr der Verdrängung, der Verzweiflung, der Angst, der Depression, vielleicht sogar des Nicht-mehr Wollens, ist angesichts der Katastrophe und ihrer Folgen immens. Die benennbaren Übeltäter üben eine schier unerträgliche Macht aus (auf allen drei Ebenen!). Und doch klingt das „Comfort ye, my people“, das „Tröste Dich, mein Volk!“

Nur, dass diesmal kein anderer, kein höherer kommt, wie zur Zeit der üblichen Verdächtigen damals! Heute bist Du es, bin ich es, sind wir es, die an Seiner Statt den üblichen Verdächtigen begegnen müssen, und es sind die Zusammenschlüsse derer, denen an „Menschwerdung“ in der Gegenwart , aber auch in der Zukunft noch etwas liegt.

Um zwei Worte des Kölner Wortakrobatik-Duos „Ulan & Bator“ zu gebrauchen: Es braucht für die Zukunft auch mehr  „Zukunst“ – und es braucht neben der Zuversicht auch mehr „Zuverzicht“.

Amen.

Köln, 06.12.2024
Harald Klein

[1] vgl. Drewermann, Eugen (2009): Das Lukas-Evangelium, 1. Teil, Düsseldorf, 165.

[2] Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft, Stuttgart, 43.

[3] Wils, Jean-Pierre (2024): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft, Stuttgart, 15f.