Sehen wollen
Mit Ostern ist ein Kipppunkt erreicht, der bis in die Gegenwart der Glaubenden Gültigkeit hat. Die Evangelisten beschreiben in der Zeit vor der Kreuzigung Jesu dessen Erfahren und Erleben, das er mit seinen Jüngern geteilt hat, so, dass es von den Jüngern damals und den Menschen heute eingeholt, eingeordnet und verstanden werden kann – menschliches Erleben eben. Sie lernen sich und die Welt mit Jesu Augen zu sehen. Für den französischen Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) gehört diese Übernahme eines Blickwinkels innerhalb einer Gruppe oder eines Milieus in den Begriff des „Habitus“. Was oder wie die Jünger „sehen“, ist lange nicht das „was“ oder „wie“ der Menschen außerhalb ihrer Gruppe, ihres „Milieus“.
In den Schlusskapiteln der Evangelien und vor allem in der Apostelgeschichte dreht sich die Perspektive: hier wird das Erfahren und Erleben der Jünger erzählt, verbunden mit dem bangend-hoffnungsvollen Versuch, all das, was sie erleben und ihnen widerfährt, in Kontakt, in Kontinuität, in Verbindung setzen zu können mit dem Erleben Jesu vor der Kreuzigung, an dem sie teilhatten. M.a.W.: hat der mit Jesus erlerne „Habitus“ Bestand, auch wenn er nicht mehr greifbar ist? Diesen bangend-hoffnungsvollen Versuch um Beständigkeit möchte ich gerne Auferstehung nennen. Es ist eine Art weniger eines neuen Sehens, es ist eher eine Transformation des Bestehenden und Bestand habenden. Die so verstandene Auferstehung lässt die Jünger – und uns? – auf(er)stehen in einer neuen Sichtweise von Leben, das vielem trotzt, und es gründet in ihrer – und unserer? – Deutung der Auferweckung Jesu von den Toten. Es mag der kleine theologische Unterschied genügen, dass die Auferweckung Jesu ein passivisches Wort ist, es braucht jemanden, der auferweckt; Auferstehung hingegen ist ein aktivisches Wort, es ist mein Entschluss, jetzt aufzu(er)stehen.
Für diesen Kipppunkt, für diesen Perspektivenwechsel gelten zwei Regeln. Die erste Regel entspringt dem „Habitus“: Du kannst nur sehen, verstehend und deutend sehen, was Du kennst. In Deinem Alltag mag das mit Wanderzeichen z.B. des Kölnpfades losgehen – Du musst die Wegmarkierung lernen; und wenn Du den Weg gehst, findest Du den weißen Ring auf schwarzem Quadrat an den verschiedensten Ecken und Enden. Da ist er schon ein paar Jahre. Aber vor Deinem Lernen und vor Deinem Aufbruch hast Du dieses Zeichen noch nicht einmal wahrgenommen!
Die zweite Regel: Vom Kaiser Marc Aurel, einem der großen Philosophen der Stoa in vorchristlicher Zeit, stammt der Satz: „Auf die Dauer der Zeit nimmt die Seele die Farbe der Gedanken an.“ Diese Regel umschreibt, was der Habitus bei Bordieux ist. Da kommt jetzt so etwas wie ein „Perspektivwechsel 2. Ordnung“ dazu. Der „Perspektivwechsel 1. Ordnung“ wechselte vom Beobachten Jesu, zum Hinschauen auf seine Erfahrungen und auf sein Erleben und nimmt jetzt sich selbst und das eigene Erfahren und Erleben in den Blick. Der „Perspektivwechsel 2. Ordnung“ orientiert sich an der ersten Regel weiter oben: Welchen Erinnerungen, welchen Zeichen, welchen Menschen, welchen Worten willst Du trauen? Wohin geht oder wo, bei wem ruht Dein Blick, worauf und auf wen hörst Du? Welche Stimmungen nimmst Du dabei wahr, und was regt sich in Dir? Was macht Dich, Dein Leben und Dein Zusammenleben eher licht und leicht, was eher schwer und dunkel? Du siehst: das „sehen wollen“ ist einfach, aber nicht leicht!
In der Mitte – Jesus?
Das Osterevangelium vom „Weißen Sonntag“ ist immer das Evangelium vom „ungläubigen Thomas“ – und wer ihn so nennt, hat den Thomas nicht verstanden. Thomas ist nicht ungläubig, sondern will sehen, will ein Sehender sein. Du hast natürlich nach den oben genannten Regeln schon klar, dass „sehen“ hier mehr meint als einfach wahrzunehmen. Wahrnehmen geht immer, etwas für wahr halten, das geht knapp am Verstehen und am Überprüfen vorbei. Wirkliches Sehen mein ein Wiedererkennen und Einordnen können auf etwas, was Du gerade lernst oder gelernt hast. Von daher mein Rat: vergiss das Wort vom „ungläubigen Thomas“, ungläubig erscheint er nur denen, die maximal beim „für wahr halten“ stehen geblieben sind.
Aber jetzt: „Am Abend des ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit Euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen“ (Joh 20,19) – damit beginnt das Evangelium des Tages.
Was sehen die Jünger hinter den verschlossenen Türen? Was hören sie, wovon reden sie, welche Stimmungen sind mit im verschlossenen Raum? Welche Erinnerungen teilen sie? Und: Worauf hoffen sie – wenn sie denn überhaupt noch hoffen?
In den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ schildert Rilke einen Gegenentwurf zum verschlossenen Raum der Jünger. Hier geht es um einen stillen Lesesaal in der Bibliothéque Nationale in Paris, und Rilke lässt seinen Malte Laurids Brigge ins Tagebuch notieren: „Ach, wie gut ist es doch, unter lesenden Menschen zu sein. Warum sind sie nicht immer so? Du kannst hingehen zu einem und ihn leise anrühren: er fühlt nichts. Und stößt du einen Nachbarn beim Aufstehen ein wenig an und entschuldigst dich, so nickt er nach der Seite, auf der er deine Stimme hört, sein Gesicht wendet sich zu dir und sieht dich nicht, und sein Haar ist wie das Haar eines Schlafenden. Wie wohl das tut.“[1]
Die Rilke’sche Utopie der Menschen in der Bibliothéque steht der Dystrophie der Menschen im Obergeschoss am Abend des ersten Tages Woche diametral gegenüber. Der inneren Ruhe des Lesenden steht das Aufgewühltsein der Jünger gegenüber; dem ruhenden Blick ins Buch oder dem Kommentar hier begegnet dort der unstete Blick, der nicht weiß, wohin; die wohlige Lektüre, die den anderen ganz bei sich lassen kann steht im Gegensatz zum Versuch, Erklärung, Deutung, Verstehen des Geschehenen bei anderen zu suchen. „Warum sind sie nicht immer so?“ oder „Wie wohl das tut.“ – davon sind die Jünger im Jerusalemer Obergeschoß meilenweit entfernt.
Und da kommt trotz verschlossenen Türen Jesus, tritt in ihre Mitte, sagt zu ihnen: „Friede sei mit euch“, und zeigt ihnen seine Hände und seine Seite. Und die Stimmung kippt, die Perspektive ändert sich.
„Wie wohl das tut.“
Aus der Dystopie, der Schreckensherrschaft, wird eine Utopie, eine nicht geahnte und dennoch ersehnte Möglichkeit, sogar Wirklichkeit. „Wie wohl das tut“, schreibt Rilke. Wie, wenn im hermetisch abgeschlossenen Raum eine Wahrnehmung (im doppelten Wortsinn) der eigenen Verwundungen der Verwundung der anderen begonnen hätte? Wenn sich die miteinander vertrauten Menschen ihre Wunden, ihre leeren Hände und die angeschlagenen, angestoßenen Seiten ihres Menschseins zeigten, in einer Weise, in der eines der häufigsten Worte der Schrift, „Friede sei mit Euch!“, spürbar die Atmosphäre im Raum prägt. Du erinnerst Dich an das Abendessen im vertrauten Kreis, im dem Jesus im Wort, in der Geste, in den Blicken und dem Schweigen als präsent, als gegenwärtig erfahren wird, vielleicht mehr als im rituellen Abendmahl. Und hier gehen sie jetzt so miteinander um, wie Jesus selbst mit ihnen umgehen würde; sie sehen das und deuten das als Jesus, der gegenwärtig unter ihnen ist – und der Weg ist nicht mehr weit zur Deutung, dass Jesus selbst in ihnen ist, lebt wirkt. Ob Rilke hier auch schreiben würde: „Wie wohl das tut“?
„Mein Herr und mein Gott“
Thomas ist nicht dabei – keiner weiß den Grund, warum er sich nach draußen traut! Er glaubt den Jüngern nicht, als sie erzählten, dass sie den Herrn gesehen, ihn wahrgenommen und wahr genommen haben (vielleicht, weil er den Begriff des „Sehens“ nicht genügend differenziert!). Thomas konkretisiert, will das Mal der Nägel an Jesu Händen sehen und die Hand in die offene Seite Jesu legen. Du kennst die Erzählung: Acht Tage später, wieder in der Versammlung drinnen, kommt Jesus und spricht Thomas direkt an: „Streck Deine Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck Deine Hand aus und lege sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Neben das Sehen treten jetzt das Greifen und das Begreifen. Ob Thomas „Jesus“ gesehen hat? Oder ob er in einem der Jünger „Jesus gesehen“ hat, der in ihm präsent ist, in ihm lebt? Thomas legt sein Sehen in die Hand, begreift, was er sieht – es ist nicht überliefert, ob er Jesus mit seinen Händen berührt! So bekennt der, der begriffen hat: „Mein Herr und mein Gott!“ – von wegen ungläubig!
Um den Atemmond
namenlose erleuchtete Sterne.
Unsere irdischen Sterne
Brot Wort und
Umarmung «
Ach, wie gut ist es doch, unter sehenden Menschen zu sein
Ich möchte Rilke bzw. dem Malte Laurids Brigge gerne ein zweites Moment an die Seite stellen, das zu einem leicht veränderten Tagebucheintrag führte: „Ach, wie gut ist es doch, unter sehenden Menschen zu sein. Warum sind sie nicht immer so? Du kannst hingehen zu einem und ihn leise anrühren: er fühlt mit Dir. Und stößt du einen Nachbarn beim Aufstehen ein wenig an und entschuldigst dich, so nickt er nach der Seite, auf der er deine Stimme hört, sein Gesicht wendet sich zu dir, dir zugewandt, und sein Haar ist wie das Haar eines, der vom Aufbruch kommt. Wie wohl das tut.“
Ob Du mit diesen Gedanken etwas anfangen kannst?
Mal sehen!
Amen.
Köln, 04.04.2024
Harald Klein
[1] Rilke, Rainer Maria (1982): Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Werke III-1, Prosa, hrsg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth-Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, 2. Aufl., Frankfurt/Main, 141.