War im Anfang das Wort?
Da gibt es doch innerhalb einer Woche das gleiche Evangelium zweimal – es geht um den sog. Johannesprolog, den Beginn des Johannesevangeliums. Wer Ministrantin oder Ministrant war, oder auch regelmäßige Gottesdienstbesucherin oder regelmäßiger Gottesdienstbesucher, weiß, wie der Satz weitergeht: „Im Anfang war das Wort…“
Warum Johannes so beginnt? Klar, er erinnert an das erste Buch der Bibel, an den ersten Schöpfungsbericht (der zeitlich doch der zweite ist) und dessen Beginn: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde…“
Es mag sein, dass die doppelte Darbietung des Johannesprologs so etwas wie ein Einbläuen dessen darstellen, dass mit Jesu Geburt einen neuen, einen dritten Anfang mit den Menschen setzen will (nach Adam und Eva und nach der Sintflut und Noah samt seiner Familie). Eines haben die biblischen Autoren aber übersehen: Sie schrammen knapp an der Wahrheit vorbei, wenn sie behaupten, dass im Anfang das Wort gewesen sei!
Eine kindliche Bestätigung dieser These mag Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ bieten, in einer Art Negativ-Beweis. Wenn sie mit Tommy und Annika ins Kaufhaus gehen und nach einem „Spunk“ fragen, den sie gerne kaufen möchten, weiß niemand im Kaufhaus, was sie suchen. Das Wort vom „Spunk“ ist da, der Begriff, das Begreifen dessen, was ein „Spunk“ ist, fehlt. Da ist keine Anschauung, kein Phänomen, nichts, auf das das Wort „Spunk“ verweist. Von Pippi Langstrumpf kannst Du lernen, dass Du Worte zwar kennen magst, dass sie aber einen Sinn erst dann machen, wenn sie sich auf eine vorausgesetzte Anschauung beziehen, die Du mit diesem Wort verknüpfst.
Heißt für den ersten (und jüngeren) Schöpfungsbericht: Wenn erzählt wird, dass Gott „im Anfang“ Himmel und Erde geschaffen habe, muss er einen Himmel und eine Erde vor Augen gehabt haben, eine Anschauung, eine Vision oder ein Bild dessen, was er ins Leben rufen will.
Heißt für den Johannesprolog, dass es für Gott schon so etwas wie ein Bild gab – theologisch könnte man ja von einem „Selfie Gottes“ reden –, das dann „Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat: Gott-Ebenbildlichkeit eben.
Im Anfang war das Bild, war die Vision oder die Anschauung, die ins Wort gebracht oder durch das Wort ins Leben gerufen wurde – so müsse es meines Erachtens heißen.
Die guten Vorsätze
Ich scheibe die Predigt am 01. Januar, wahrscheinlich an dem Tag, an dem das Sterben der meisten guten Vorsätze, die in den vergangenen Tagen in Worte gefasst wurden, ihr Sterben beginnen. Du kannst da einen Zusammenhang zum oben Geschriebenen erahnen. Das Sterben der Vorsätze hängt meines mit den fehlenden Anschauungen, Bildern und Visionen zusammen.
Da gibt es eine ausgezeichnete Online-Hilfe: In gleich drei 6-Minuten- Podcasts macht der Autor Dominik Spenst klar, dass zur Klärung einer Frage wie „Was will ich wirklich?“ entweder keine umfassende oder viel zu viele kleinteilige Antworten zur Verfügung stehen. Es sind die Visualisierungen z.B. auf Unterfragen, die hier helfen können. Genau das bietet er in den drei Podcasts in gewohnter Weise „faktenbasiert, wissenschaftlich fundiert und wirklich im Alltag umsetzbar“.[1] Sechs „Unterfragen“ helfen, Bilder, Anschauungen und Visionen zu visualisieren, die schrittweise umgesetzt und den Vorsatz lebendig werden lassen können. Alles muss klein – und anschaulich – beginnen! Das gilt auch für die großen Worte der Advents- und Weihnachtszeit!
Eine Vision von „Freiheit“ – zumindest in Anfängen
Die großen Worte, die „im Anfang“ dieser Advents- und Weihnachtszeit standen und noch stehen, waren und sind die Worte von „Freiheit“ und „Verzicht“. Wenn auch hier „im Anfang das Wort“ und die Wörter waren, so mag auch hier das bisher Geschriebene gelten: ohne Anschauung, ohne Vision, ohne Bild werden weder „Freiheit“ noch „Verzicht“ Fleisch werden und unter uns wohnen.
Im Benennen von (erst einmal) „Fehlinterpretationen von Freiheit“ beschreibt Jean-Pierre Wils drei Visionen von Freiheit, die Fleisch geworden sind, und die damit einer neuen Anschauung von Freiheit im Wege stehen. Er nennt den „Negativismus der Freiheit“, in der Deine Freiheit an der Grenze der Meinigen sich erst erfährt, und zwar als begrenzt! Vor allem staatlichen Begrenzungen werden abgewiesen, gleichzeitig wird „der Staat“ angerufen, wenn die eigene Freiheit bedroht erscheint.[2]
Als zweites spricht Wils vom „Naturalismus der Freiheit“, einer Art angeborener Trieb des Menschen. In der Kindheit noch angewiesen auf die Eltern, „betreten wir […] einen Pfad, der freiheits-initiiert, freiheits-ambitioniert, freiheits-erweiternd und freiheits-finalisiert ist. Freie Wesen sind Wesen, die sich im eigenen Freiheitsradius entfalten.“[3] Wieder wird die Freiheit der anderen zur Grenze und Begrenzung der eigenen Freiheit.
Ein drittes Missverständnis“ bezieht Wils auf das „absolutistische Deutung“ dieser „Bildes“, dieser „Vision“ oder dieser „Anschauung“ von Freiheit. Sie wird hier verstanden als ein persönliches und unteilbares Eigentum mit dem Nimbus des nahezu Unantastbaren. Das isolierte Individuum behauptet eine alleinige Verfügungsmacht über diese Art von Freiheit.[4]
Es liegt auf der Hand, dass Negativ-Bilder nicht oder nur schwer in der Lage sind, etwas Positives ins Leben zu rufen – es sei denn, Du begnügst Dich damit, negative Bilder, Anschauungen oder Visionen fallen zu lassen oder gar zu zerstören. In Sachen „Freiheit“ mag das hier genügen, es wäre ein guter Anfang, Abstand zu nehmen von den Freiheits-Missverständnissen, die Wils beschreibt – seine Positiv-Beschreibungen möchte ich gerne für ein späteres auf Links gedrehtes Evangelium aufheben.
die Herrlichkeit des Herrn
wie in einem Spiegel
und werden so in sein eigenes Bild verwandelt,
von Herrlichkeit zu Herrlichkeit,
durch den Geist des Herrn. «
Eine Vision von „Verzicht“
Wie oben schon gesagt: ohne Anschauung, ohne Vision, ohne Bild werden weder „Freiheit“ noch „Verzicht“ Fleisch werden und unter uns wohnen. Auf die für mich schönste Anschauung, Vision oder auf das schönste Bild von „Verzicht“ hat mich ebenfalls Jean-Pierre Wils mit einem Zitat und dem Hinweis auf John von Düffel gebracht. John von Düffel, Dramaturg und Schriftsteller, hat 2022 ein „Stundenbuch“, eine Sammlung von Gedanken entlang eines Tagesablaufs im Kloster vorgelegt, die den Titel „Das Wenige und das Wesentliche“ trägt.[5]
Du kannst die, die sich einem Verzichten stellen wollen, nach von Düffel als Asketinnen und Asketen bezeichnen. Von Düffel befreit den Begriff aus seiner religiösen Engführung, und bereits im ersten Poem kennzeichnet er sich als Asket als den, dem es nicht ums Verzichten gehe, sondern darum, wie wenig er bauche.
In „verw:ortet 01/2025“ habe ich eine ausführliche Sammlung der Bestimmung des Asketen zusammengestellt. Von Düffel betrachtet den Asketen, die Asketin. Dem Asketen gehe es darum zu erkennen, wie wenig er brauche. Wenn das Wenige dem Wesentlichen entspräche, sei das Glück, was gleichzusetzen sei mit einem Handeln in der Übereinstimmung mit selbst. Der moderne Asket wende sich nicht von der Welt ab, im Gegenteil, er wende sich der Welt zu, mit dem Blick für das Wesentliche. Sein „Verzicht“ werde für ihn zur Befreiung von Unwesentlichem. Sein Ideal sei nicht Gottesnähe, sondern die größtmögliche Nähe zum richtigen Leben. Ein Weniger an Konsum bedeute für den modernen Asketen nicht Einschränkung, sondern einen Zuwachs an Freiheit.
John von Düffel beendet dieses erste und grundlegende Kapitel mit einem Zugeständnis und gleichzeitig der Ergänzung eines häufig gebrauchten Zitates Theodor W. Adornos: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Aber es gibt im Falschen eine richtige Richtung“ (Hervorhebung durch den Autor).
Nach wie vor glaube ich fest, dass im Anfang nicht das Wort ist, sondern die Anschauung, die Vision, das Bild. Meine beiden adventlich-weihnachtlichen Autoren Jean-Paul Wils und dann John von Düffel machen mir es vor, bestätigen diese Vermutung, einfach dadurch, dass sie Anschauungen, Bilder und Visionen von der richtigen Richtung in einem falschen Leben anbieten.
Das wusste schon Paulus, als er an die Gemeinde in Korinth schrieb: „Wir alle aber schauen mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn“ (2 Kor 3,18). Du darfst diese Weisheit des Paulus ruhig aus dem religiösen Kontext herausnehmen. Nicht die Augen verschließen vor allem, was z.B. ein neues Jahr alles an Katastrohen bringen mag, sondern den Blick darauf richten, was an Anschauungen, Bildern und Visionen angeboten wird. Es gibt eine richtige Richtung – auch im falschen Leben.
Amen.
Köln, 08.11.202
Harald Klein
[1] vgl. Spenst, Dominik (2024): Was will ich wirklich? Der 6-Minuten-Podcast #124 – #125 – #126.
[2] vgl. Wils, Jean-Pierre (2022): Verzicht und Freiheit. Überlebensräume der Zukunft, Stuttgart, 172f.
[3] a.a.O., 175f.
[4] a.a.O., 187.
[5] Zitate des Buches sind in verw:ortet 01/2025 gesammelt, ausschließlich aus dem Kapitel zur „fünfte[n[ Stunde: Einige Gedanken über Askese. Vor Sonnenaufgang.“