13. Sonntag im Jahreskreis – Jesus und Fromms „Kunst des Liebens“

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„Mehr lieben…“ – wie geht das?

Diejenigen, die heute im Gottesdienst das Evangelium – also die „frohe Botschaft“ – hören, müssten ehrlich gesagt zusammenzucken, als seien sie erwischt und ertappt. Die ersten Worte Jesu im Evangelium heute lauten: „Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert“ (Mt 10,37). Man möchte zurückfragen: „Den oder die eine mehr lieben als Dich, wie messe ich das denn?“ Oder: „Warum ist es dann einem Menschen möglich, den einen mehr zu lieben als die andere?“

Um es gleich zusagen: Das Gefühlsleben, der emotionale Haushalt eines Menschen ist ein gutes Instrumentarium dafür, dass ich dem einen mehr zugeneigt, mehr gewogen bin als der anderen, hier kann es ein „Mehr“ im Sinne eines „Multum“, einer bestimmbaren Menge geben. Aber das Maß der Haltung der Liebe anderen, mir selbst, dem Leben gegenüber hat nichts mit einem „Multum“, einer bestimmbaren Menge, sondern mit einem „Magis“, einer tief im Menschen sitzenden und verwurzelten Haltung zu tun. Hier geht es nicht um ein „ich liebe Dich mehr als andere und anderes“, sondern hier geht es um „Ich bin mehr ein liebender Mensch als ein neidischer, hasserfüllter, nachtragender Mensch.“

Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass Jesus hier in der Ansprache an seine Apostel Konkurrenzen aufbauen will, noch dazu in Sachen des „mehr Liebens“. Lieber (i.S.v. einem „Magis“ an Liebe) höre ich diesen Vers als Ansporn, in Sachen „mehr Liebender zu werden“, also auf mein Leben und auf alle, die bzw. auf alles, was dazugehört, zu schauen, und das natürlich mehr im Sinne eines „Magis“ als im Sinne eines „Multum“.

» Fürsorge, Verantwortlichkeit, Respekt und Wissen sind voneinander abhängig. Sie sind ein Zusammenklang von Haltungen, die man im reifen Menschen findet, das heißt, in dem Menschen, der seine eigenen Kräfte schöpferisch entwickelt, der nur das haben will, was er sich erarbeitet hat, der die narzisstischen Träume von Allmacht und Allwissen aufgegeben und eine Demut erworben hat, die auf der inneren Stärke beruht, wie sie allein die wirkliche und schöpferische Tätigkeit geben kann. «
Fromm, Erich (1956): Die Kunst des Liebens, Berlin, 53f.

Die Kunst des Liebens lernen

Ich gebe es gerne zu, dass diese Gedanken nicht meine sind, ich habe sie mit offenem Herzen und viel Freude von Erich Fromm (1900-1980) übernommen. Das Werk, aus dem sie stammen, ist „Die Kunst des Liebens“, die erstmals 1956 in New York erschien. Zwei Thesen[1] Erich Fromms will ich hier nennen, die ich als grundlegend für das das „Mehr lieben“ ansehe.

Fromm sagt, Liebe sei nicht in erster Linie eine Bindung an eine bestimmte Person, sondern eine Haltung, eine Charakter-Orientierung. Liebe heiße soviel wie gegenüber jedem eine liebevolle Haltung einnehmen; es gebe „Arbeitsteilung“ zwischen Liebe zu den eigenen Angehörigen und der Liebe zu Fremden. Wenn ich jemanden liebe, dann liebe ich in ihm alle Menschen einschließlich meiner selbst, dann liebe ich durch ihn die ganze Welt, dann liebe ich das Leben.

Und als Zweites möchte ich die vier Grundelemente wiedergeben, die Liebe nach Fromm in all ihren Formen enthält: (1) Fürsorge als tätige Sorge für das Leben und das Wachstum dessen, was wir lieben; (2) Verantwortungsgefühl als freiwillige Antwort auf seine ausgesprochenen und unausgesprochenen Bedürfnisse; (3) Achtung vor dem anderen als Wunsch, dass er sich um seiner selbst willen entfaltet und nicht mir zuliebe; (4) Erkenntnis als Streben danach, ihn so zu sehen, wie er wirklich ist.

Es lohnt, mit diesen ersten Worten des Evangeliums einen Blick auf Ihre „Lieben“ zu werfen, auch auf die Liebe zu sich selbst, und auf Ihre „Vor-Lieben“, denen es sicher an einem oder dem anderen der Fromm’schen „Grundelemente“ mangelt, sonst wäre es ja keine „Vor-Lieben“, oder?

» Wenn ich einen Menschen wirklich liebe, liebe ich alle Menschen, liebe ich die ganze Welt und liebe ich das Leben. Wenn ich zu einem anderen sagen kann: 'Ich liebe dich', muss ich auch sagen können: 'Ich liebe in dir alle Menschen, ich liebe in dir die Welt ich liebe in dir auch mich selbst.'. «
Fromm, Erich (1956): Die Kunst des Liebens, Berlin, 70..

Aufnehmen als annehmen

Ein letztes: Im heutigen Evangelium spricht Jesus viel vom „Aufnehmen“ – wer euch aufnimmt, wer einen Propheten aufnimmt, wer einen Gerechten aufnimmt, wer einen von diesen Kleinen aufnimmt i.S.v. auch nur einen Becher Wasser gibt… – all diese werden nicht um ihren gerechten Lohn kommen.

Anders nur einmal: „Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert“ (Mt 10,38). Es scheint, als sei zwischen „Aufnehmen“ und „Annehmen“ kein großer Graben. Wieder: mehr „Magis“, weniger „Multum“, Nicht die Menge, das „Multum“ an Wasserbechern für die Kleinen, an aufgenommenen Gerechten oder Propheten ist entscheidend, sondern die Haltung, das „Magis“ des Aufnehmens und des Annehmens – und das macht nicht einmal vor dem Kreuz seines eigenes Lebens Halt.

Von daher: es lohnt auch, mit dieser Haltung der Liebe, mit Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung und Erkenntnis auf das zu schauen, das anzunehmen, was ich als „mein Kreuz“ bezeichne. In dieser Bereitschaft fühle ich mich Jesus nahe, und fühle ich mich Erich Fromm und seiner „Kunst des Liebens“ nah, vielleicht auch, weil sie sich so ähnlich sind.

Amen.

Köln, 30.06.2023
Harald Klein

[1] Erik Wunderlich hat Fromms „Kunst des Liebens“ in „30 Thesen zur Liebe“ 2013 zusammengefasst, vgl. [online] https://www.zegg-forum.org/images/PDF/Texte-Deutsch/30-Thesen-zur-Liebe.pdf [30.06.2023]