Eigentlich schade…
An drei aufeinanderfolgenden Jahren werden die Sonntagsevangelien aus den drei „synoptischen“ (sich aufeinander beziehenden) Evangelien gelesen, in aller Regel als „Bahnenlesung“, also fortlaufend. In diesem Jahr hören wir die Evangelien aus dem Matthäus-Evangelium.
Eigentlich schade! Statt weiterzumachen, wo man letzten Sonntag aufhörte, wird leider eine Lücke gelassen. Zum einen fehlt eine kurze Erzählung in drei Versen, die auf den Gang Jesu auf dem Wasser, dem „Gegenwind“ und dem Ruf Jesu an Petrus, zu ihm zu kommen, folgt. Als alle wieder am Ufer des Sees ankamen, brachten die Menschen ihre Kranken zu Jesus, und alle, die schon allein sein Gewand berührten, wurden geheilt (Mt 14,34-36). Zum anderen wird den Gottesdienstbesucher*innen Jesu mahnendes Wort von der Unreinheit vorenthalten. Im Disput mit den Pharisäern und Schriftgelehrten macht Jesus klar, dass alles Unreine nicht von außen, etwa als Speise oder Herkunft, in den Menschen hinein-, sondern von innen, aus dem Herzen und damit aus dem Menschen herauskommt (Mt 15,1-20).
Eigentlich schade deswegen, weil hier eine wichtige Weichenstellung für das heutige Evangelium und für die Überlegung nach dem „widerständig leben“ verloren geht.
Die „heidnische Frau“ …
Da kommt eine kanaanäische, damit eine heidnische Frau zu Jesus mit der Bitte: „Hab Erbarmen mit mir, Herr, Du Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem Dämon gequält.“ Jesus reagiert nicht, und seine Jünger, die sonst schon mal die Rolle der Bodyguards für ihren Meister übernehmen, wechseln diese Rolle und sprechen für die heidnische Frau: „Befrei sie von ihrer Sorge, denn sie schreit hinter uns her.“ Jesus beharrt auf seiner Position, er sei nur zu den Schafen des Hauses Israel gesandt. Es sei nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen – man kennt diesen Jesus nicht wieder! Aber die Entgegnung der Frau zwingt ihn in die Knie: „Ja, Du hast Recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch des Herrn fallen.“ Jesus antwortet – ich vermag seine Stimme nicht einzuschätzen: „Frau, Dein Glaube ist groß. Was Du willst, soll geschehen.“ Und von dieser Stunde an war die Tochter geheilt.
… und ihr Widerstand
Die in Konstanz lehrende Journalistin und Historikerin Miriam Gebhart geht in ihrem Buch über die vor allem studentische Widerstandsgruppe der Weißen Rose der Frage nach, wie aus ganz normalen Deutsche Widerstandskämpfer wurden.[1] Eine ihrer Antworten auf diese Frage scheint mir plausibel – und vor allem zurück auf die heidnische Frau des Evangeliums und nach vorn in meine, in Ihre eigene Gegenwart übertragbar: „Die jungen Leute der Weißen Rose waren eine Ausnahmeerscheinung, weil sie sich vom offenbar großen Zuspruch für Hitler und von den Erfolgen des Regimes nicht einlullen ließen. Sie durchschauten frühzeitig das hohle Versprechen der standesübergreifenden ‚Volksgemeinschaft‘ und wahrten trotz nationalsozialistischer Sozialisation ihre innere Autonomie.“[2]
Es mag gewagt sein, ein Zitat, das auf Hitler zielt, mit Jesus in Verbindung zu bringen. Aber ist es nicht so, dass die heidnische Frau sich vom großen Zuspruch und großen Erfolg Jesu im „Hause Israel“ (vgl. die vergangenen Evangelien und die drei Verse der Krankenheilungen) nicht einlullen ließ? Ist es nicht so, dass sie die nationalen und religiösen Streitigkeiten zwischen dem „Haus Israel“ und den kanaanäischen und samaritanischen Volksgemeinschaften als „hohle Versprechen“ erlebte und deutete? Ist es nicht so, dass sie trotz nationaler Sozialisation hier wie dort ihre innere Autonomie wahrte und nicht locker ließ?
Nicht einlullen lassen – hohle Versprechen entlarven – die innere Autonomie wahren: Die kanaanäische Frau ist in Sachen „widerständig leben“, was den Mut angeht, dem Petrus gleichzustellen, der auf der stürmischen See aus dem Boot aussteigt und Jesus entgegengeht – davon hörten wir am letzten Sonntag. Und in diesen drei Schritten wird deutlich, dass nicht die Herkunft der Frau aus Kanaan sie unrein macht – von außen -, sondern dass das, was sie sagt und wie sie es sagt, von echter innerer Reinheit, von echter innerer Freiheit zeugt.
Christoph Probst, einer der Studierenden der Weißen Rose, schreibt, jemand müsse ‚das Menschliche‘ hochhalten, damit es sich eines Tages wieder durchsetzen könne. „Wir müssen dieses Nein riskieren gegen eine Macht, die sich anmaßend gegen das Innerste und Eigenstes des Menschen stellt und die Widerstrebenden ausrotten will. Wir müssen es tun um des Lebens willen – diese Verantwortung kann uns niemand abnehmen.“[3] Das gilt auch heute!
So sei es – so ist es. Amen.
Köln, 11.08.2023
Harald Klein
[1] Vgl. Gebhardt, Miriam (2017): Die Weiße Rose. Wie aus ganz normalen Deutschen Widerstandskämpfer wurden, München.
[2] a.a.O., 236.
[3] Rolf-Ulrich Kunze/Bernhard Schäfers (Hg.): Anneliese Knoop-Graf, Ausgewählte Aufsätze, Konstanz 2006, 71.