„Du hast mich betört…“
Nach vier Predigten zum „widerständigen Leben“ ist es an der Reihe, eine zustimmende Aussage zu treffen. Das und die, gegen das und die nur ein widerständiges Leben hilft, will man erfüllt leben, soll heute draußen vor bleiben. Nur: Geht das? Oder anders: gibt es Erfüllung ohne Widerständigkeit?
Eines meiner liebsten Jesaja-Worte stehen am Beginn der ersten Lesung: „Du hast mich betört, o Herr, und ich ließ mich betören“ (Jes 20,7). Hier schweife ich während des Schreibens das erste Mal ab. Wer (oder auch: was) hat mich in den letzten Tagen, Wochen, Monaten „betört“? Was verbinde ich mit „betören“ – schließlich verweist es auf „Torheit“ – oder vielleicht auch auf ein „Tor, das sich öffnet“? Oder sogar auf beides in einem! Bei Jesaja ist allemal klar: wer sich betören lässt, egal von wem, der macht sich in den Augen der anderen zum Narren.
Literarisch umgesetzt haben die beiden Brüder Heinrich und Thomas Mann diese betörten Toren zum einen in der Figur des Gymnasiallehrers Raat (in Heinrich Manns „Professor Unrat“, verfilmt als „Der blaue Engel“), zum anderen in der Gestalt des Rechtsanwaltes Jacoby (in Thomas Mann Erzählung „Luischen“). Beide Male verfallen die Anti-Helden den Frauen, lassen sich betören, sich verführen zu Handlungen, die sie „unbetört“ (man könnte auch sagen: „bei Sinnen“) niemals getan hätten. Der eine, Lehrer Raat, erliegt den Reizen der „feschen Lola“ – eine Art „Betörung von außen“ -, der andere, Rechtsanwalt Jacoby, hört auf seine innere Stimme und erfüllt seiner Frau alle Wünsche, die er zu hören und zu empfinden meint – eine Art „Betörung von innen“. Beide machen sich so zum Gespött der Menschen drumherum – und verlieren dabei ihr Leben: Raat innerhalb seines sozialen Umfelds, Jacoby stirbt, als „Luischen“ tanzend, vielleicht an gebrochenem Herzen, wer weiß. Sein Leben ist „aus“ – mit diesem Wort endet folgerichtig auch diese Erzählung. Es scheint, als sei der Weg von „betört“ zu „besessen“ nicht sehr weit – dem Betörten schließen sich die Tore.
„Wer sein Leben retten will, wird es verlieren…“
Die beiden Erzählungen der so ungleichen Brüder Mann vor Augen, klingt das Evangelium und darin die harschen Worte Jesu erstaunlich anders. „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es retten“ (Mt 16,25).
Sie können die Probe aufs Exempel machen: Lesen Sie den Satz einmal laut für sich vor. Wo setzen Sie die Betonung? Bei mir ist es das „Leben“ – es geht ums Leben! Jesus scheint zu fordern, scheint zu erwarten, dass die Seinen ihr LEBEN weggeben, ihr LEBEN lassen, Und er behauptet, dass diejenigen, die ihr LEBEN retten wollen, es verlieren werden.
Jetzt lesen Sie den Satz doch mal so, dass das kleine Wörtchen „SEIN“ betont wird. Merken Sie, wie der Satz anders wird, wie er sich in seiner Aussage verändert? Hier geht es ums Gemachte, hier geht es ans Eingemachte. Im Werbespot der Sparkassen heißt das „Mein Haus, mein Auto, mein Boot – meine Pferde, und meinePferdepflegerinnen“[1] „SEIN“ Leben (oder anders „MEIN“ Leben) meint das all das, was Kraft hat, mich zu betören, meint das, was Leben und Lebendigkeit verheißt, meint das, für das ich die Bereitschaft habe, mich bis zum Umfallen, bis zum Ersterben einzusetzen und es (oder sie oder ihn) zu verfolgen. M.a.W.: mich so auszurichten auf das, was ICH will, sodass ich für das, was von außen an mich herankommen will, keine Sinne mehr frei habe, geschweige denn Entschlüsse, dem zu begegnen. Ich ziehe mich zurück, aus dem Leben, vom Lebendigen, von allem Lebensspendendem – und mache mich zum Gespött für andere. Das ist die Tragik der Herren Raat und Jacoby.
Jesus wirft hier in Mt 1621-27 eine Alternative auf, die Eugen Drewermann wie folgt erläutert: „Die zweite Hälfte aus dem 16. Kapitel des Matthäusevangeliums ist gewidmet dem ewigen Konflikt zwischen einem Leben im Schoß eines Kollektivs und der Ungeborgenheit des Mutes, ein Individuum zu werden, ausgespannt auf die Kreuzesbalken zwischen Machtgier und Ohnmacht, zwischen abgelehnter Existenz und dem Mut zum eigenen Sein, zwischen dem Untergang eines verwalteten Lebens im Tode und der Auferstehung zu der Ursprünglichkeit und Unableitbarkeit des ‚Eigensinns‘ seiner wirklichen Persönlichkeit.“[2]
Wenn Jesus die Seinen dazu anhält, ihr Leben um seinetwillen zu verlieren, höre ich das als Aufforderung, nicht allem nachzulaufen oder nachzugeben was „betört“ oder da hinein zu viel an Energie zu legen. Ich verbinde mit dem „um seinetwillen“ eine Wachheit für das, was von außen und auch von innen „ansprechend“ auf mich zu kommt und eine – mit den Worten Drewermanns – ursprüngliche, unableitbare, eigensinnige und persönliche Antwort erfordert. Damit verbunden ist die Abkehr eines „verwalteten Lebens im Tode“, und Sie können sich selbst illustrierend ausmalen, wer und was da alles dazu gehört, wer oder was die „Auferstehung zu der Ursprünglichkeit und Unableibarkeit des ‚Eigensinns‘ seiner wirklichen Persönlichkeit“ hindert. Um nichts weniger geht es! Amen.
Köln, 01.09.2023
Harald Klein
[1] vgl. [online] https://www.youtube.com/watch?v=DbqcRG-CT30 [01.09.2023]
[2] Drewermann, Eugen (1995): Das Matthäus-Evangelium, Bd. 2: Bilder der Erfüllung, Solothurn/Düsseldorf, 377.