23. Sonntag im Jahreskreis – Wenn Religion zu Moral verkommt (II)

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Der Glaube, der geglaubt wird / wie er geglaubt wird

Wie letzten Sonntag, nur schlimmer: Das heutige Evangelium schließt inhaltlich nahtlos an das des vergangenen Sonntags an. Ging es da um die Wahl und um die Entscheidung zum geringsten Platz bei der Hochzeit, zu der man eingeladen ist, so legt Jesus denen, die ihm zuhören heute ans Herz, nicht nur auf alles zu verzichten, was einem lieb ist, sondern auch obendrein auch noch auf seinen ganzen Besitz.

Nur mal zur Kenntnis: Die FAZ veröffentlichte am 18.02.2015[1] eine Übersicht über das Vermögen des Erzbistums Köln. Der Jahresabschluss für 2013 wies ein Vermögen von 3,35 Milliarden Euro sowie Finanzanlagen von rund 2,4 Milliarden Euro aus. Dazu kommen Sachanlagen in Höhe von rund 646 Millionen Euro, unverkäufliche Kunstschätze nicht mit eingerechnet[2]. Au weia – da liegt aber eine milliardenschwere Spannung zwischen den Anforderungen Jesu und kirchlicher Realität, oder?

Was hilft, ist die Unterscheidung von Religion, Frömmigkeit und Spiritualität. Noch einmal, nach dem letzten Sonntag: Religion meint die Gesetze und Gebote, die Lehrinhalte, die diese Religion ausmachen. Es geht um den Glaubensinhalt, der geglaubt wird – in der lateinischen Sprache der Theologie fides quae creditur. Frömmigkeit meint den Glaubensakt, mit dem geglaubt wird, in und mit dem der Glaubensinhalt „geglaubt“ = gelebt wird – in der lateinischen Sprache der Theologie fides qua creditur. Mich fasziniert immer wieder, was dieses kleine „e“ zwischen dem „qua“ und dem „quae“ zu verändern vermag. Bleibt noch Spiritualität – sie meint den Geist, aus dem heraus Menschen ihrem Leben Gestalt geben wollen; sie ist alltagstauglich, weil sie dem alltäglichen Leben und nicht einer Sonderwelt neben dem Leben zugehört; sie ist dialogisch (im doppelten Sinne: man kann begründen, warum man wie handelt und sucht gemeinsam nach Antworten auf Fragen die sich aus den Begegnungen mit der Welt und mit einem selbst erwachsen); sie zielt auf ein Wachstum des Humanum, auf ein Wachsen im Menschsein, in der Menschlichkeit, in der Menschwerdung – in der lateinischen Sprache der Theologie gibt es kein fides-Wort, das Spiritualität umschreibt.

» Die für die Soziologie der Weltbeziehungen zentrale Kategorie der Resonanzerfahrung lässt sich [...] als ein momenthafter Dreiklang aus konvergierenden Bewegungen von Leib, Geist und erfahrbarer Welt verstehen. Die Bewegung kann von allen drei Elementen initiiert und begünstigt, aber zugleich auch blockiert und gehemmt werden. «
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 290.

Au weia: Der Holzweg der Religion und der Frömmigkeit

Vielleicht erinnern Sie sich die Kritik an der Selbstkontrolle in der Predigt vom vergangenen Sonntag. Sie hängt zusammen mit dem Begriff der Glaubenssätze. Das sind gedankliche Gewohnheiten, die sich in Ihrem Kopf festgesetzt haben und die sich wie ein Leitmotiv in Situationen wiederholend abspielen, ohne dass Sie es merken. Sie wurzeln in der frühen Kindheit oder später im Hören auf andere nahestehende Personen (oder Institutionen). „Sei artig“ oder „Widersprich nicht!“, „Tue, was ich dir sage!“ sind solche Sätze.

Religionen sind groß und gut in der Formulierung von Glaubenssätzen. „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein eigenes Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein“ (Lk 14,26) – diese Aussage als fides qua creditur, als Glaube, der geglaubt wird, zuzuordnen, ihm einen Gebote-Charakter geben hieße, sein eigenes Leben verleugnen und von sich nur gering denken, sich nur gering achten. Schnell ist man bei der Ehelosigkeit als „evangelischem Rat“, der zum „Kirchengebot“ geworden ist. Ehrlich gesagt: Wie krank ist das denn? Ehelos leben, weil es ein anderer, ein anderes verlangt und gebietet?! Wo eine Verkündigung in dieser Weise lebensfeindlich auftritt und mit dieser Zielrichtung geschieht, ist die Vermutung von geistlichem Missbrauch auf der einen Seite oder von Weltflucht auf der anderen Seite zu Recht nicht weit.

Dasselbe gilt, wenn diese Aussage Jesu fides quae creditur, dem Glauben, wie er geglaubt wird, zugeordnet wird. „Ebenso kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet“ (Lk 24,33). Frömmigkeit ist groß und gut in Ausdrucksformen (Riten, Liturgien, Festen), die den Glaubensinhalten Gestalt und eben Ausdruck verleihen. Und sie hat eine gewisse Bauernschläue. Da wird dann schnell von „Zeichen“ gesprochen, von „Symbolen“, und aus dem Verzicht auf den ganzen Besitz wird der „Zehnte“, der Anteil, den man spenden soll – am ehesten natürlich den kirchlichen Hilfswerken, wohin denn sonst? Ich wage die These, dass es sicher ein Akt kirchlicher Frömmigkeit ist, zu befolgen und auszuführen, was die Religion lehrt – und hänge an, dass all das völlig losgelöst von einer Bindung, einer Beziehung an Christus bzw. mit weltgewandten Erklärungen (im Beispiel des Vermögens der Kirchen etwa, man brauche die Rücklagen ja für die Verantwortlichkeiten, die man eingegangen sei) geschehen kann.

Zum Glück: Der Königsweg der Spiritualität

„Welcher Mensch kann Gottes Plan erkennen oder werbegreift, was der Herr will?“, fragt das Buch der Weisheit in der ersten Lesung (Weis 9,13). Die Antwort lautet: Der spirituelle Mensch. Der Lesungstext beantwortet die Frage: „Wer hat je deinen Plan erkannt, wenn du ihm nicht Weisheit gegeben und deinen heiligen Geist aus der Höhe gesandt hast“ (Weish 9,17). Das bisher Geschriebene mag den Eindruck erwecken, ich wolle mich vor solchen doch eindeutigen Worten Jesu wegducken oder drücken. Seien Sie versichert, das ist nicht der Fall. Ich lese und deute sie allerdings nicht aus der Religion (der Glaube, der geglaubt wird) oder der Frömmigkeit (der Glaube, mit dem geglaubt wird) heraus. Ich frage nach ihrem spirituellen, ihrem geistigen Gehalt, der mir hilft, den Alltag zu meistern und zu deuten; der mir Antworten anbahnt auf Fragen, die das Leben an mich richten und mit denen ich ins Gespräch mit anderen komme; der mich wachsen lässt in der Menschlichkeit mir selbst und anderen gegenüber – und der mich so mit Jesus Christus (und nicht nur mit ihm) verbindet.

Mir hilft bei Aufforderungen wie denen, die Jesus im Evangelium vorgibt, eine Unterscheidung aus der Motivationspsychologie. Ich stelle die Frage, ob Jesus mit solchen Worten ein Verhaltens-, ein Ergebnis oder ein Haltungsziel im Blick hat.

Religion zielt auf ein Ergebnisziel: Die Armut, der Verzicht auf Besitz, ist gebotene Haltung der Christen; die Ordensleute leben das zeichenhaft, die weltlichen Christen sind gehalten, diesen Weg in ihrem Maß zu gehen.

Frömmigkeit heraus geht es um ein Verhaltensziel: Die sind gute Christen, die sind in der Nachfolge Jesu gut aufgestellt, die auf ihren ganzen Besitz verzichten.

Spiritualität zielt auf ein Haltungsziel: Es geht um die Haltung des Loslassens, des Lassens, der Gelassenheit, all dem gegenüber, was mir gehört und all denen gegenüber, die zu mir gehören. Das Verzichten meint dann nicht das (gebotene) Weggeben all dessen, was zu mir gehört oder das (erwartete) Loslösen oder Loslassen all derer, die zu mir gehören. Stattdessen lebe ich alltäglich und dialogisch auf das hin, was mich „mehr“ (im Sinne des lat. „magis“) zum Menschen macht, was mich in meiner Menschwerdung fördert. Das kann Trennung und Abschied von „mehr“ (im Sinne des lat. „multum“) erforderlich werden lassen, und dann erst ist „Verzicht“ oder „Abschied“ dran, die Bereitschaft, das und die bisher Meinigen „gering zu achten“ (Lk 14,25f). Es sind nicht die Gebote einer Religion oder die Praxis einer Frömmigkeit, sondern einzig und allein das spirituelle Gespür von Resonanz zu dem, was zu meinem Leben gehört und zu denen, die mein Leben bereichern, manchmal auch beschweren. Die entscheidenden Faktoren dabei sind nicht Katechismus, Gesangbuch und Kirchenjahr, sondern Leib, Geist und erfahrbare Welt. Und zu ihr, zur erfahrbaren Welt, können dann Religion und Frömmigkeit gezählt werden und sich einordnen in all das, was verheißungsvoll ins Leben zu führen vermag.

Köln 28.08.2022
Harald Klein

[1] Neuere Zahlen habe ich im Internet nicht gefunden – 2012 kam es aber auch zu einem Bischofswechsel in Köln.

[2] Vgl. [online] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/das-milliardenvermoegen-des-erzbistums-koeln-13435576.html [28.08.2022]