Wenn Sätze „liebevoll mehrdeutig“ sind…
Mal angenommen, Sie wären heute in einer sonntäglichen Eucharistiefeier gewesen und hätten mit einer gewissen Aufmerksamkeit dem Diakon oder dem Pfarrer beim Vortrag des Evangeliums zugehört…
Und mal angenommen, Sie hätten nach Hinweisen zu dem einen Fleisch, das die beiden, die heiraten, bilden, nach Hinweisen zum Entlassen der Frauen aus der Ehe, nach Auslassungen zum Ehebruch zum Ende des ziemlich langen und ziemlich schwierigen Textes die Passagen mit den Kindern gehört, die man zu Jesus brachte, damit er sie berühre und segne…
Und dann nochmal angenommen, Sie hören dann den Satz: „Wer das Reich Gottes nicht annimmt, wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“, wie hören Sie diesen Satz dann genau?
Ich möchte wetten, Sie hören: „Wenn einer oder eine das Reich Gottes nicht so annimmt, wie ein Kind es annimmt, der kommt nicht hinein.“ – Aber: Sie können ihn auch so anhören und verstehen: „Wenn einer oder eine das Reich Gottes so annimmt, wie er/sie ein Kind annimmt, dann kommt er/sie nicht hinein.“ Zugegeben, es klingt fremd, aber gerade deswegen möchte ich mit Ihnen über diesen liebevoll mehrdeutigen Weg des Verstehens nachdenken. Und auf diese Weise auch die Möglichkeit schaffen, sich dem eigenen Erwarten des Reiches Gottes und der eigenen Erwartung vom Reich Gottes her anzunähern.
Diese Unterscheidung habe ich in einem Brief aus Taizé entdeckt, einiges vom hier Folgenden hat dort seinen Ursprung.[1]
Das Reich Gottes annehmen, wie ein Kind es annimmt
Die Brüder von Taizé setzen an beim Vertrauen eines Kindes; ein Kind kann nicht leben, Ohne in die Menschen um es herum Vertrauen zu setzen. Es will geliebt und angenommen sein, wagt zu bitten, leise ebenso wie lautstark. Das Reich Gottes, Gott selbst anzunehmen wie ein Kind setzt ein Herz voraus, das lebens- und überlebensnotwendig sich angewiesen weiß auf Gott, und das in der hoffenden Haltung eines Kindes mit allen Sinnen eben jenen sucht, der nicht nur Überleben, sondern Leben verheißt, der für Leben einsteht, um dann schlicht die Arme auszustrecken, Gott entgegen.
Das Reich Gottes annehmen, wie man ein Kind annimmt
Die Brüder von Taizé weisen darauf hin, dass „ein Kind empfangen“ so viel heißt wie „eine Verheißung empfangen“. Spielen Sie die Metapher mal durch. Was geht der Empfängnis voraus? Wollen? Hoffen? Mancher Niederschlag? Kommt sie vielleicht völlig überraschen, quasi „über Nacht“? Wirft sie das Bisherige um, ist sie willkommen, oder möchte man sie lieber hinter sich lassen, ungeschehen machen?
Wenn Sie das Reich Gottes, Gottes Gegenwart in sich wohnen lassen, wenn Sie mit Gott und seinem Reich schwanger gehen, dürfen Sie sich auf dieselbe Dynamik verlassen, die ein stetes Wachstum verheißt – wie bei einem Kind. Es gilt dann, das Spiel mitzuspielen, das in Ihr Leben eingebrochen ist. Und wahrscheinlich wird sich für die, die dieses Spiel Gottes mitspielen, im Alltag genau so viel ändern wie bei denen, die mit einem Kind schwanger gehen, die das Kind annehmen wollen.
Die „liebevolle Mehrdeutigkeit“ des Reiches Gottes
Und wie weiter oben schon gesagt: Ich möchte Sie gerne anstiften, über Ihre ganz eigene Annahme des Reiches Gottes nachzudenken.
Eine erste Möglichkeit ist die der „Annahme“, wie Kinder es tun. Was kommt Ihnen an Bildern und Erinnerungen an die eigene Kindheit, vielleicht an die Ihrer Kinder? Was nahmen Sie an? Wie nahmen Sie es an? Und wem oder was haben Sie als Kind Ihre Arme offen entgegengehalten, wer und was hat Sie dann getragen? Vieles von dem, was Ihnen an Antworten kommt, kann stehen für das Reich Gottes – es ist Gott sei Dank „mehrdeutig“!
Eine zweite Möglichkeit ist die „Annahme“ des Reiches Gottes in der Weise, wie man ein Kind annimmt. Wer oder was oder wer kam in Ihr Leben, quasi „über Nacht“, ungewollt – im positiven wie im negativen Sinn – oder gewollt, erhofft, vielleicht sogar erarbeitet? Wer oder was brachte Wachstum, Dynamik, Kraft zur Veränderung in Ihr Leben? Wer oder war sorgte dafür, dass Dinge, Geschehnisse, Überzeugungen hinter Ihnen blieben und Sie sich auf Neues hin ausrichteten? Das mag für Sie ganz anders aussehen als für mich, aber alles kann stehen für das Reich Gottes – es ist Gott sei Dank „mehrdeutig“!
Und jetzt?
Nochmal zurück zum Anfang: Nochmal angenommen, Sie hören jetzt den Satz: „Wer das Reich Gottes nicht annimmt, wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“, wie hören Sie diesen Satz jetzt? Und was machen Sie jetzt damit?
Amen.
Köln 29.10.2021
Harald Klein
[1] Vgl. [online| https://www.taize.fr/de_article3266.html [29.09.2021]