3. Adventsonntag – Nicht „Was sollen wir tun?“, sondern „Was sollen wir lassen?“

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Die Frage der Langweile(r) und der Verzweifelten

Wer kleine Kinder hat, kennt es, und wer sich an die eigene frühe Kindheit erinnert, kennt es auch: Da kommen die Kinder zur Mutter, zum Vater, und sie fragen: „Was soll ich denn machen?“ Den Begriff der Langweile kennen sie noch nicht, aber das Gefühl, das zum Begriff gehört. Da gibt die Schachtel mit den Spielsachen, die Malbücher samt den Stiften, vielleicht auch das eine oder andere Spiel am Tablet oder am Mac, und trotzdem: „Was soll ich denn machen?“ Zuerst gehört diese Frage den Langweilern.

Dann gehört sie den Verzweifelten: „Schau mein Leben an, wie es gerade aussieht. Was soll ich denn machen?“ Angst und Verzweiflung, gerade davor, man selbst sein zu müssen, bezeichnet der dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard (1813-1855) als die „Krankheit zum Tode“.

Irgendwo zwischen der Langeweile einer Gebote-Religion und der Verzweiflung, ein lebendiges Leben mit und vor Gott zu leben, kommen im Evangelium zuerst die Leute des Täufers Johannes, dann die Zöllner und schließlich sogar die Soldaten zu Johannes und stellen ihm die Frage: „Was sollen wir also tun?“ Ersteren antwortet Johannes, sie mögen von zwei Gewändern, die sie besitzen, eines denen geben, die keines haben. Der zweiten Gruppe gilt die Ermahnung, nicht mehr zu verlangen, als festgesetzt sei. Und den Soldaten gilt die Mahnung, niemanden zu misshandeln, zu erpressen und sich mit dem Sold zu begnügen.

» Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. «
Gremmels, Christian, Bethge, Eberhard und Bethge, Renate in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt (Hgg.): Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, München 1998, 526-538, hier S. 533-535 (Brief vom 16.7.).

Vor Gott – mit Gott – ohne Gott

Zwischen Langeweile und Verzweiflung: In seinen „Skizzen zu einem religionslosen Christentum“ anerkennt der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) die Existenz Gottes, meint aber, man müsse den (langweilenden) Gott der Religion aufgeben, man müsse diesen Gott einfach lassen, ablassen von ihm. Ein solcher Gott führt entweder in Langeweile oder in Verzweiflung. „Was sollen wir denn tun?“ Bonhoeffers Antwort:  Vor und mit Gott ohne Gott leben. Es muss einen anderen Gott geben.

Der Existenz dieses anderen Gottes steht nun die Mündigkeit der Welt gegenüber, selbst erkennen zu können, was man denn zu tun habe, was zu tun sein – nur die religiösen, besser: spirituellen Langweiler brauchen die Autorität, die ihnen das beantwortet! Für Bonhoeffer ist das rechte Verhältnis zu Gott kein „religiöses“ zu einem denkbar höchsten, mächtigsten Wesen, denn dies sei keine echte Transzendenz. Bonhoeffer sucht das neue Verhältnis zu Gott in einem neuen Leben als ein „Dasein für andere“[1].

Bonhoeffer müsste heute sicher erleben, dass die drei Präpositionen seines Satzes anders gewichtet sind: Zuerst müsste das „ohne Gott“ genannt werden, das Pendel der mündig gewordenen Welt ist dahin ausgeschlagen. Nah dran wäre sicher die Frage nach dem „vor Gott?“; denn es ist ja nicht ausgeschlossen, dass es da etwas, jemanden gäbe, wer weiß. Und die Minderheit, die noch „mit Gott“ lebt, kämpft entweder einen verzweifelten Überlebenskampf oder ergibt sich dem Relevanzverlust des Religiösen – während sich eine kleine kämpfende Minderheit z.B. mit anonymen Zetteln im Brieflasten, denen ein „Kehrt um!“, ein paar willkürliche Bibelstellen und der Hinweis auf den Verein zur Verbreitung der Heiligen Schrift (VdHS e.V.) steht – eine namentliche Kennzeichnung, eine Telefonnummer oder eine Mailadresse fehlt natürlich. Dieser Gruppe kann man auf die Frage „Was also sollen wir tun?“ des Evangeliums schnell antworten: „Lasst das, um Gottes willen!“

Für den dritten Advent ist nun mit Bonhoeffer festzuhalten: „Vor und mit (einem existenziell bedeutsamen) Gott leben wir ohne (einen) Gott der Religion<en>)“. Mit einer solchen Formulierung wäre gewiss eine hohe Zustimmung einhergehend.

» Nochmal skizziert: der Weg führt aus der Unschuld in die Schuld, aus der Schuld in die Verzweiflung, aus der Verzweiflung entweder zum Untergang oder zur Erlösung: nämlich nicht wieder hinter Moral und Kultur zurück ins Kinderparadies, sondern über sie hinaus in das Lebenkönnen kraft seines Glaubens.«
Hesse, Hermann (1931): Mein Glaube, in: Unseld, Siegried (Hrsg.) (1971): Hermann Hesse. Mein Glaube, Frankfurt/Main, 63.

Lebenkönnen in der Kraft des Glaubens

Mit Blick auf den adventlichen Weggefährten Hermann Hesse stelle ich mir vor, ich würde ihm begegnen und ihn fragen können: „Mit Blick auf Gott, auf meinem Leben und auf mein Umfeld – was soll ich denn tun?“

So, wie ich Hesse zu verstehen glaube, würde er auf sein eigenes Leben zurückverweisen, aus den dreistufigen Lebensweg, den er in „Ein Stückchen Theologie“ 1932 beschrieben hat: „Nochmal skizziert: der Weg führt aus der Unschuld in die Schuld, aus der Schuld in die Verzweiflung, aus der Verzweiflung entweder zum Untergang oder zur Erlösung: nämlich nicht wieder hinter Moral und Kultur zurück ins Kinderparadies, sondern über sie hinaus in das Lebenkönnen kraft seines Glaubens.“[2]

Das Verrückte: dieser Weg zur Erlösung geht eben gerade nicht über das Tun, sondern über das Lasen. Nicht fragen: „Was soll ich tun?“, sondern fragen: „Was soll ich lassen?“ führt zu einem Leben in der Erlösung vor und mit Gott und ohne Gott.

» Auf der ersten Stufe der Unschuld bekämpfen sich Fromm und Vernünftig so, wie Kinder von verschiedener Veranlagung sich bekämpfen. Auf der zweiten Stufe bekämpfen sich, wissend geworden, die beiden Gegenpole mit der Heftigkeit, Leidenschaft und Tragik der Staatsaktionen. Auf der dritten Stufe beginnen die Kämpfer einander zu erkennen, nicht mehr in ihrer Fremd-heit, sondern in ihrem Aufeinanderangewiesensein. Sie beginnen einander zu lieben, sich nacheinander zu sehnen. Von hier führt der Weg in Möglichkeiten des Menschentums, deren Verwirklichung bisher von Menschenaugen noch nicht erblickt worden ist.»
Hesse, Hermann (1931): Mein Glaube, in: Unseld, Siegried (Hrsg.) (1971): Hermann Hesse. Mein Glaube, Frankfurt/Main, 75.

Das Verhältnis von „Fromm“ und „Vernünftig“

Bei der Frage allein kann es nicht bleiben. Die Antwort muss gegeben, vor allem: muss gelebt werden. Im schon erwähnten kleinen Aufsatz „Ein Stückchen Theologie“ von 1932 sieht Hesse die Lösung im Zusammenklang nach der vorangehenden Auseinandersetzung von „Fromm“ und Tüchtig“. Nah an Kierkegaard dran, fällt der Mensch mit wachsender Freiheit in die Schuld, die zur Verzweiflung wächst und die dann zum Untergang oder zur Erlösung führt. Hesse unterscheidet zwei Typen von Menschen („Fromm“ und „Vernünftig“), er beschreibt anschließend drei Stufen der Entwicklung zur Menschwerdung: „Auf der ersten Stufe der Unschuld bekämpfen sich Fromm und Vernünftig so, wie Kinder von verschiedener Veranlagung sich bekämpfen. Auf der zweiten Stufe bekämpfen sich, wissend geworden, die beiden Gegenpole mit der Heftigkeit, Leidenschaft und Tragik der Staatsaktionen. Auf der dritten Stufe beginnen die Kämpfer einander zu erkennen, nicht mehr in ihrer Fremdheit, sondern in ihrem Aufeinanderangewiesensein. Sie beginnen einander zu lieben, sich nacheinander zu sehnen. Von hier führt der Weg in Möglichkeiten des Menschentums, deren Verwirklichung bisher von Menschenaugen noch nicht erblickt worden ist.“[3]

Er nimmt vorweg, was Bonhoeffer mit der Möglichkeit des Daseins-für-Andere als Gottesbeziehung beschreibt.

» Wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen - „etsi deus non daretur“ [als ob es Gott nicht gäbe]. Und eben dies verkennen wir – vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unserer Lage vor Gott. «
Gremmels, Christian, Bethge, Eberhard und Bethge, Renate in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt (Hgg.): Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, München 1998, 526-538, hier S. 533-535 (Brief vom 16.7.).

Den Gelangweilten und den Verzweifelten ein Trost

Das war viel Theologe und Literatur am Stück. Was ich für mich mitnehme und Ihnen mitgeben möchte: Stellen Sie nicht die Frage der Langweile(r) und hüten Sie sich vor der Frage der Verzweifelten. Mit den Antworten auf die Frage „Was soll ich machen?“ werden eher ganze Kreuzzüge und Schlachten eingeleitet, als dass sie erlösende Folgen hat. Die erlösende Frage ist viel eher „Was soll / kann / muss/ will ich lassen?“ Bonhoeffers Antwort klingt auf lateinisch schöner als auf Deutsch: „Etsi Deus non daretur“ – so leben, „als ob es Gott nicht gäbe“. Im „vor und mit Gott leben wir ohne Gott“ scheint es, als gäbe er den Gott Religio(en) auf und stellt sich vor einen Gott als Geheimnis seines Lebens, vor und mit dem er lebt. Für mich spiegelt das die gegenwärtige Situation von Kirche und suchenden Menschen sehr wider.

An diesem Platz, den Bonhoeffer beschreibt, möchte ich versuchen, „Fromm“ und „Vernünftig in ihrer Angewiesenheit aufeinander und ihrer Freude aneinander zu leben. In der Frömmigkeit alles lassen, wo die Vernunft den Kopf schüttelt, und die Vernunft nur so zu gebrauchen, dass „Fromm“ mit Freude mitgehen kann. Für mich ist es offensichtlich, dass das der Langeweile ein Trost sein kann – die Frage „Was soll ich tun?“ stellt sich nicht mehr. Und ich habe die Hoffnung, dass dieser Schulterschluss von „Fromm“ und „Vernünftig“ auch dem Verzweifelten ein Trost ist, wenn er statt eines Gottes der Religion(en) einen Gott als Geheimnis seines und des Lebens der anderen annehmen kann, vor das er sich und die Seinen stellt.

Oder um es ganz kur zu sagen: „Was soll ich denn tun?“ – „Lass es!“

Amen.

Köln 10.12.2021
Harald Klein

[1] Vgl. Bonhoeffer, Dietrich (1988): Widerstand und Ergebung, in: Eberhard Bethge (Hrsg.): Dietrich Bonhoeffer. Werkausgabe Bd. 8, Gütersloh, 558.

[2] Hesse, Hermann (1932): Ein Stückchen Theologie, in: Unseld, Siegfried (1981): Hermann Hesse, Mein Glaube, Frankfurt/Main, 63.

[3] a.a.O., 75.