33. Sonntag im Jahreskreis: Religiös unmusikalisch? oder: Tinder für Glaubenssuchende

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Religiös unmusikalisch sein?

Der Radiosender Deutschlandfunk (DLF) Kultur bieten seit vielen Jahren den Podcast „Religionen“ an, der sowohl religiös-theologische als auch gesellschaftliche Fragen, dann im Licht der Theologie und der Religionsphilosophie vorhält. Anlässlich des 80. Geburtstages des Philosophen Jürgen Habermas führte Thomas Kroll, Mitarbeiter des DLF Kultur, und der Politiker Egon Bahr im Juni 2009 ein Gespräch, das unter einem bekannt gewordenen Zitat Habermas‘ steht. Frage man, so Kroll, Jürgen Habermas nach seiner Konfession, erkläre der Gelehrte, er sei immer noch Mitglied der Evangelischen Kirche, er zahle Kirchensteuer und verstehe sich als Kulturprotestant. Bekannter hingegen sei seine Aussage, er sei „religiös unmusikalisch“. Bahr erläutert: „Religiös unmusikalisch sind die Leute nach Max Weber[1], die zwar über Religion nachdenken, aber sich selbst nicht als besonders fromm fühlen.

Genau das habe Jürgen Habermas auch kürzlich in einem Interview behauptet, er sei zwar alt, aber immer noch nicht fromm geworden. Kroll gibt zu bedenken, recht verstanden sei Jürgen Habermas weder „religiös unmusikalisch“ noch „religiös taub“. Und Bahr bestätigt, Musikalität meine ja nicht, dass man selbst eine große Oper aufführe, sondern dass man ein Sensorium entwickele für die Fragen der Religion in der Gegenwart.[2]

» Lass mich Dich lernen, Dein Denken und Sprechen,
Dein Fragen und Dasein,
damit ich daran die Botschaft neu lernen kann,
die ich Dir zu überliefern habe. «
Hemmerle, Klaus (1983): „Was fängt die Jugend mit der Kirche an? Was fängt die Kirche mit der Jugend an?“, in: Communio 12/1983, Freiburg i. Brsg.,309.

Religiöse Musikalität lernen – die Rolle der Sinne und der Besonnenheit

Nicht, dass Du jetzt in die falsche Richtung denkst: Im Folgenden geht es weder um Kirchenmusik noch um Verkündigungsinhalte in frommen Liedern! Es geht mir um das, was Egon Bahr im Interview von Max Weber zitiert: um eine angemessene Weise der Frömmigkeit. Und ich meine, das sei dasselbe wie die Entwicklung eines Sensoriums für die Fragen der Religion der Gegenwart, von der er kurze Zeit später spricht.

Lass mich mit dem Evangelium dieses Sonntags beginnen. In den letzten Sonntagen eines Kirchenjahres – für die religiös eher „Unmusikalischen“: das sind die letzten Sonntage vor dem Advent – werden in den katholischen Sonntagsgottesdiensten sogenannte „Gerichtstexte“ vorgelesen. Hier erzählen die Evangelisten in den Worten Jesu (oder umgekehrt: Jesus in den Worten der Evangelisten, schau, welche Deutung Dir lieber ist), wie sie sich das Ende der Welt, die Wiederkunft Christi, das Endgericht oder wie immer man das nennen mag, vorzustellen habe. In martialischen Worten wird gezeigt, wird offenbart, was dann geschehen wird. Man nennt diese Texte auch „apokalyptische Texte“ – und „Apokalypse“ meint nichts anderes als Offenbarung, als „das Veröffentlichen“ dessen, was bisher verdeckt war.

Die Schreckensbilder schau Dir an, wenn Du magst, ich nehme nur den Hinweis, dass Du Hinweise auf das Kommen des Gerichtes entdecken, auch sehen und auch hören kannst, wenn Du religiös musikalisch unterwegs und nicht taub bist, um Krolls oder Bahrs Worte zu zitieren. Die Frage ist, was du damit machst.

Nachdem Jesus in Bildern des Markus von verfinsterter Sonne und von Sternen, die vom Himmel fallen gesprochen hat, sagt er: „Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, erkennt Ihr, dass der Sommer nahe ist. So erkennt auch Ihr, wenn ihr das (i.e. die Anzeichen des Gerichts ) geschehen seht, dass er (i.e. der Engel der Vergeltung) nahe vor der Türe ist“ (Mk 13,28f).

Religiös musikalisch werden: Mir scheint, es geht um Wahrnehmung dessen, was ist, was um Dich herum ist, sich abspielt, was Dich anfragt und Dich und uns „unbedingt angeht“ – für den evangelischen Theologen Paul Tillich ist das die Umschreibung für Gott: Gott ist das, was uns unbedingt angeht – ich hoffe, auf die Zweideutigkeit dieser Gottesdefinition muss ich Dich nicht eigens hinweisen. Das ist der Vergleich mit dem Feigenbaum: Nimmst Du ihn wahr, wenn die Sterne vom Himmel fallen und der Himmel sich verdunkelt? Hast Du noch Sinne für den Saft seiner Zweige, wenn Du selbst und die Welt um Dich herum wie ausgedörrt und verbrannt ist?

Mit anderen Worten: Willst du religiöse Musikalität lernen, musst Du mit einer gesteigerten und ausdauernden Wahrnehmung beginnen. Da sind zuerst Deine Sinne gefragt. Ein anderes, vielleicht noch zutreffenderes Wort wäre der Begriff der Besonnenheit. Ohne Besonnenheit auf das, was ist, und was auch oder noch ist, keine religiöse Musikalität.

» Die erste Frage unseres Lebens ist nicht,
was wir gelernt haben, als wir noch Kinder waren;
die Frage ist, wie wir es wagen,
selber zu denken und einander so offen zu begegnen,
wie es der Augenblick erfordert. «
Drewermann, Eugen (5. Aufl. 1989): Das Markusevangelium. 1. Teil. Bilder von Erlösung, Freiburg, 168f.

Religiös musikalisch unterwegs sein – die Rolle Deiner Urteilskraft

Und willst Du – denn es ist eine wirkliche Willensentscheidung – wirklich religiös unterwegs sein, dann genügt es nicht, Konfirmation oder Firmung zu feiern; beides sind Zusagen, dass Du das kannst, und Du gibst willentlich ein feierliches Ja dazu. Aber jetzt braucht es das Vokabular, die Melodien, den Rhythmus, um mit dem, was Du wahrnimmst, rechtumzugehen, es auf- oder anzunehmen, es zu gestalten oder auch es liegen zu lassen.

Aus der Besonnenheit erwächst ein Urteil, eine Bejahung, eine Ablehnung, eine Weise des Umgangs und der Veränderung.

Und aus diesem Urteil, aus der Summe der Urteile erwächst so etwas wie ein religiöses Profil Deiner selbst. So ungefähr stelle ich mir die „Werbung“ bei Partnerprofilen, z.B. bei Parship, bei ElitePartner oder bei Tinder. Du schaust Dich besonnen selbst an, Du bildest Dir ein Urteil über Dich, wie Du Dich als Partner*in siehst, und wie Du Dir die Partner*in vorstellst. Und das zeigst Du – zugegeben, erst einmal nur auf Smartphone-Größe, im besten Fall dann im Real Life.

Dein religiöses Profil, Deine religiöse Musikalität oder Nicht-Musikalität, kannst du ähnlich ausdrücken. Auf drei Feldern kannst Du religiös musikalisch sein: (1) auf dem Feld der Lehre, den Ausformulierungen dessen, was zum kirchlichen Glauben an den dreifaltigen Gott gehört; (2) auf dem Feld der Frömmigkeit, den Riten und all dem, worin sich dieser Glaube in Gemeinschaft oder aus allein auszudrücken vermag; (3) auf dem Feld der Spiritualität, der Suche nach einem Geist, der alltagstauglich ist und dem Alltag Gestalt gibt, der dialogisch ist und Antwort auf Deine aktuellen Fragen und auf die Fragen um Dich herum zu geben vermag, der Dich mehr zu einem liebesfähigen und einem leibeswerten Menschen formen kann.

Auf allen drei Feldern bist Du „religiös musikalisch“ unterwegs. Aber es ist wie beim Chorsingen. Die eine Epoche mag Dir liegen, die andre nicht, und bei der dritten mühst Du Dich ab, damit wenigstens einige Akkorde stimmen.

Daher mein Tipp: Stell Dir vor, Du hättet einen Score, Du hättest 20 Punkte und könntest Sie verteilen. Verteile die Punkte doch nach der Intensität, nach der sich Deine religiöse Musikalität auf den drei Feldern verteilt. „Lehre“, „Frömmigkeit“, „Spiritualität“ werden sich Dir dann als musikalisch verlockend erschließen, wenn Du Partner*innen findest, deren Score ähnlich ist wie Deiner. Und alle drei Felder haben die Möglichkeit in sich, ein Sensorium für die Fragen (nicht nur) der Religion der Gegenwart zu entwickeln, sondern auch Antworten zu formulieren, die dem Leben dienlich sind.

In Zeiten, die Du, die ich, die wir eher dem „Gericht“ zuschreiben würden, in denen sich die Sonne verfinstert und die Sterne vom Himmel zu fallen scheinen, könnte dieses „Tindern für Glaubenssuchende“ den Blick lenken auf den Feigenbaum, dessen Zweige saftig werden und dessen Blätter treiben. Es ist Deine Besonnenheit, und es ist Deine Urteilskraft, die es zusammen vermögen, Deine religiöse Musikalität wachzuhalten.

Und noch was: Es ist nicht Johannes Oerding und sein Team auf VOX, sondern es ist letztlich Jesus selbst, der in diesen Gerichtspredigten Dich einlädt zu „Sing meinen Song!“ Glaube ist ein Tauschkonzert! Du singst, religiös musikalisch, den Song Jesu – aber mit Deiner Melodie, in Deinem Rhythmus, mit Deinen Worten und mit Deinen Bewegungen. Trau Dich – trau Ihm – und trau denen, die mit Dir singen.

Amen.

Köln, 15.11.2024
Harald Klein

[1] Max Weber (1864-1920), deutscher Soziologe und Nationalökonom, Klassiker der Soziologie, der Kultur- , der Sozial- und der Geschichtswissenschaften;

[2] vgl. [online] https://www.deutschlandfunkkultur.de/religioes-unmusikalisch-100.html [15.11.2024]