Hans Christian Andersen: Des Kaisers neue Kleider
Dänemarks prominentester Dichter und Schriftsteller Hans Christian Andersen veröffentlichte 1837 eines seiner bekanntesten Märchen. In „Des Kaisers neue Kleider“ erscheinen am Hofe eines auf Mode – nicht nur im Sinne von „Kleidung“ – Wert legenden Kaisers zwei Weber. Sie könnten, so ihr Angebot, Gewänder aus Stoffen herstellen, die nicht nur prachtvoll erscheinen, sondern die Besonderheit hätten, von niemandem gesehen werden zu können, der zu dummsei oder der für sein Amt nicht tauge. Dieser Versuchung folgend, erteilt der Kaiser den beiden sofort einen Auftrag für ein zugleich prachtvolles wie nützliches Gewand.
Selbst wenn Sie das Märchen nicht kennen, ahnen Sie, wie es weitergeht. Im neuen „Gewand“, von den Webern ihm kunstvoll angelegt – eine „Luftnummer“ im wahrsten Sinne des Wortes – zeigt sich der Kaiser dem Volk. Alle wissen um die beiden „Fähigkeiten“ des Stoffes, alle jubeln ihm zu, wie prachtvoll er aussehe, ihm, der in seiner Blöße vor allen sich zeigt. Autoritätsgläubig, „weltgläubig“, wie sie sind, glauben sie ja an die eigene Unfähigkeit zum Leben, weil sie kein Gewand sehen, aber das zugeben – niemals!
Ein kleines Kind ruft aus: „Aber er hat ja gar nichts an!“ Sein Vater glaubt dieser Stimme der Unschuld, die Nachricht verbreitet sich, bis dass das ganze Volk ruft, ja bis der Kaiser einsieht, dass er betrogen wurde. Und trotz dieser Einsicht beschließt er, den Umzug bis zum Ende eben in seiner Blöße zu führen.
Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils,
er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit. «
Jesaja: Gottes neue Kleider
Deutero-Jesaja ist nun deutlich älter als Hans Christian Andersen. Aber das Motiv, die Rolle der Kleidung ist schon im Israel des 6. Jhdt.v.Chr. bekannt. Er schreibt (übrigens in der Situation des Unfriedens, als Verschleppter aus dem Exil Israels in Babylon). „Von Herzen freue ich mich am Herrn. Meine Seele jubelt über meinen Gott. Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit, wie ein Bräutigam sich festlich schmückt und wie eine Braut ihr Geschmeide anlegt.“ (Jes 61,10)
Es ist, als wäre Gott ein Weber, der seinem Volk damals – und Dir als Teil seines Volkes heute – Gewänder anlegt, die Heil versprechen, die einen festlichen Schmuck darstellen und die Dich schmücken.
Mit ein wenig Fantasie – man könnte auch von Meditation oder Gebet sprechen – kannst Du die Zusage des Deutero-Jesaja mit Gott im Genitivus subjectivus lesen: platt gefragt: wer legt mir Gewänder des Heils an? Antwort: Gott! Du kannst den Satz aber auch im Genitivus objectivus verstehen: wessen Gewänder (oder ganz platt gefragt: wem seine) Gewänder werden Dir angelegt? Gott legt Dir seine Gewänder des Heils an![1] Gottes neue Kleider decken den gen.subj. und den gen.obj. ab! Wer Dich in diesem Gewand sieht, sieht Gott! Dir sind die Gaben Gottes übergeben! Die Frage ist: siehst Du es? Spürst du es? Sind diese „Gewänder“ für andere sichtbar und erlebbar, oder sind sie überdeckt?
Sich zur Schau stellen
Hubertus Halbfas beschreibt in seiner Gebetschule „Der Sprung in den Brunnen“[2] Menschen, die eher diesem Kaiser gleichen. Als Typus sind sie zeitlos. Schau Dich in Deiner Umwelt um, schau Dich vielleicht selbst an, vielleicht findest Du dieser „Kaiser-Menschen“. Halbfas beschreibt sie so:
„Nichts ist den Menschen unbekannter und erschreckender als die eigene Seele. Die meisten Menschen haben Todesängste, in das Brunnenloch zu steigen und den Abstieg zum unbekannten Seelengrund zu wagen. Sie leben nur außen, von allem gefesselt, was zur Schau gestellt wird, aber sie werden schon verwirrt, wenn sie nur einen Blick über den Brunnenrand werfen sollen. Ihre Sicherheit liegt im Geläufigen der äußeren Welt; vor der Tiefe in sich selbst sind sie voll hilfloser Not. Aber der Brunnen ist noch nicht verschüttet. Wer ehrlich will, kann ihn finden und das Wagnis beginnen.“[3]
In den Tagen auf Weihnachten zu kannst Du im neutestamentlichen Zeugnis den König Herodes als älteren Bruder des Kaisers mit den neuen Kleidern sehen, er steht für die eine Seite der Menschen, die zur Schau stellen, was sie zu sein behaupten, was sie vorweisen wollen, als Zeugen der Macht, und als lebendiger Beweis aller, die sich selbst optimierthaben.
Im Evangelium vom heutigen Dritten Advent wird Johannes der Täufer als ein von Gott gesandter (oder auch „angezogener“) Mensch auf die andere Seite der Menschen gestellt, mit nichts als einer Handvoll Wasser, mit dem Wort, das auf Gott verweist, als „Zeuge für das Licht, ohne selbst das Licht zu sein“ (Joh 1,7f), und als lebendiger Beweis aller, die sich selbst kultiviert haben.
Das Schöne: Bei den Hirten in der Heiligen Nacht und bei den Drei Weisen aus dem Osten kannst Du Zeuge einer inneren Wandlung werden. Sie werden durch die Begegnung an der Krippe aus der Selbstoptimierung in die Selbstkultivierung gerufen – aber dazu dann in den Weihnachtstagen mehr.
Frieden: Die Gewänder des Heils, der Mantel der Gerechtigkeit,
Male Dir in Deiner Fantasie – wie gesagt: man könnte auch von Meditation oder Gebet sprechen – die Gewänder aus, die (im gen.subj.) Gott Dir anlegt: ein Gewand des Heils, einen Mantel der Gerechtigkeit. Oder lass vor Deinem geistigen – man könnte auch sagen: Deinem Dritten – Auge die Gewänder erscheinen, die Gott (im gen.obj.) trägt oder in denen er auftritt. Die Advents- und Weihnachtszeit lässt ein Muster, ein Symbol, ein Bild besonders auftauchen, das auf diesen Gewändern dargestellt wird: es geht um das Wort/Bild/Symbol des Friedens. Das ist der Gesang der Engel auf dem Feld: „Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede den Menschen auf Erden.“ (Lk2,14) Ich muss nicht betonen, wie sehr die Welt – auch über die Ukraine/Russland und über Israel/Gaza hinaus – dieser Gewänder des Friedens bedarf.
Sie sind da, aber oft nur schwer wahrzunehmen. Unser dritter Begleiter durch den Advent, neben Hubertus Halbfas und seinem „Sprung in den Brunnen“ und neben den atl. Heilsworten des Deutero-Jesaja ist der indische Autor Salman Rushdie und ist seine Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.[4] Er stellt in dieser Rede die rhetorische Frage an das Publikum: „Was hat die Welt der Fabeln zum Thema Frieden zu erzählen?“[5] Und er zeigt auf, dass es keine guten Nachrichten seien. Bei Homer ist der Friede in Troja erst lange nach dem Krieg, nachdem die Stadt zerstört sei, umgesetzt. Die nordischen Mythen kennten die „Götterdämmerung“, Frieden sei hier erst möglich, nachdem die Götter zunächst ihre Feinde und dann sich selbst zerstört hätten. In vielen indischen Mythen werde Frieden nur über einen blutigen Preis, über Verrat, ermöglicht. Im Kino der Gegenwart zeige der Film „Oppenheimer“, dass es erst nach dem Abwurf der beiden Atombomben Little Boy und Fat man zum Frieden nach dem II. Weltkrieg kam. Und „Barbie“ ließe darauf schließen, dass es dauerhaften Frieden und ungetrübtes Glück nur in pinkfarbenem Plastik gäbe.
Den Blick auf den Frieden in den Mythen der Welt endet Rushdie mit den Worten: „Frieden will mir im Augenblick wie ein dem Rauch der Opiumpfeife entsprungenes Hirngespinst vorkommen. […] Frieden ist schwer zu schaffen und schwer zu finden.“[6]
Von Gott angezogen
Ein kleines Wortspiel als Zusammenfassung: Vielleicht kommt es an Weihnachten schlicht darauf an, Dich von Gott anziehen zu lassen! (Oder was zieht Dich sonst an, das sicher nicht „Gott“ ist?) Als Ausdruck Deiner Selbstkultivierung, nicht Deiner Selbstoptimierung. Vielleicht braucht es nur den Aufbruch aus dem Gewohnten, und wenn es (wie bei den Drei Weisen) drei Paläste oder (wie bei den Hirten) das gewohnte Lebens- und Arbeitsumfeld sind. Aufbrüche, in denen Du Deine Komfortzone hinter Dir lässt, um in den Gewändern des Heils, in die Gott Dir schon lange gekleidet hat, zu den unendlich vielen Krippen zu gehen, die auf die Botschaft z.B. des Friedens warten. Vielleicht lässt Du das Kind in Dir (wie im Märchen von Hans Christian Andersen) entdecken und Dir zurufen „Aber Du hast ja gar nichts an“, um so den Durchblick zu haben auf dieses Gewand des Heiles und den Mantel der Gerechtigkeit zu finden, die überlagert sind von allem, was „zur Schau gestellt“ (Hubertus Halbfas) wird.
Letztlich geht es um Tuchfühlung mit Gott und seinen Weisen der Gegenwart, um Tuchfühlung mit Deinem eigenen Leben und dem Leben der anderen um Dich herum, um die Tuchfühlung mit allem, was anzieht und allen, die anziehen.
Kurz gefragt: Wer zieht Dich an? Hat Gott da eine Chance? – und: Was zieht Dich an? Hat da der Friede eine Chance? Wen ziehst Du an? Ist da Gott und Friede mit im Spiel?
Amen.
Köln, 14.12.2023
Harald Klein
[1] Den Gedanken habe ich von Paulus übernommen, er schreibt in Gen 3,27: „Ihr alle, die ihr auf Christus Jesus getauft seid, habt Christus als Gewand angelegt.“
[2] Halbfas, Hubertus (1981): Der Sprung in den Brunnen. Eine Gebetsschule, Düsseldorf.
[3] a.a.O., 15f.
[4] Rushdie, Salman (2023): Wäre der Frieden ein Preis. Dankesrede anlässlich der Übergabe des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche. Text und Seitenzahlen beziehen sich auf den Sonderdruck des Börsenblattes des Deutschen Buchhandels, Frankfurt/Main,28f.
[5] a.a.O., 28 – hier auch die Einschätzung zum Frieden in den Mythen.
[6] a.a.O., 28f.