Das Vorhaben
Johannes Röser, Chefredakteur des „Christ in der Gegenwart“ hat in CiG 71(2019), Heft 32 (S. 355f) einen herausfordernden Artikel zur Rolle der Rituale und des Ritus vor allem der Eucharistiefeier geschrieben. Für eine Gruppe von Priestern im Rahmen des Selbstorganisierten Lernens sind Zitate aus diesem Artikel zusammengestellt und mit Impulsfragen versehen worden.
Die Lektüre des gesamten Artikels ist für eine Diskussion oder ein Eigenstudium sinnvoll, es ist aber auch gewinnbringend, sich mit den Impulsfragen einfach anhand der Zitate auseinanderzusetzen.
Am Ende des Artikels können Sie eine tabellarische Übersicht hat der Zitate und der Impulsfragen downloaden.
Zitate und Diskussionsfragen
Es handelt sich um die vielleicht kürzeste Bestimmung und Erklärung von „Religion“: Nach einem Wort des Theologen Johann Baptist Metz meint sie „Unterbrechung“. Unterbrechung aber wovon und wozu?
- Die Diskussionsfrage stellt Röser selbst: Unterbrechung wovon und wozu? Trifft die Definition unsere erlebte Wirklichkeit?
Der regelmäßig widerkehrende Sonntag als Tag des gemeinschaftlichen Aussetzens der üblichen Geschäftigkeit ist vom Wochenende der privaten Geschäftigkeit längst abgelöst, mit neuen ökonomischen Interessen und Gewinnmöglichkeiten. […] Entscheidend ist, was mir gefällt, guttut, was mich erfüllt.
- Welchen Wert hat der Sonntag für uns als Priester, und welchen Wert vermuten wir bei den Menschen um uns herum? Wie steht es um unsere „Sonntagskultur“?
Wo sich das Ich auf diese Weise formt oder formen lässt, wird es schwer für ein Wir über den Nahbereich hinaus.
- Ist dieser These zuzustimmen, ist sie zu verändern oder abzulehnen?
Ein Wir gar als „Volk“? Dieses Wort, „Volk“, ist verfemt, aus guten Gründen, weil für tyrannische, rassistische, nationalistische Zwecke missbraucht. An seine Stelle ist „die Gesellschaft“ getreten, ein vages Konstrukt, kühl, neutral, emotionsfrei, keimfrei, Gegenstand nüchterner soziologischer und politischer Betrachtung. Ein Alibibegriff. „Darüber muss die Gesellschaft entscheiden“, heißt es meistens, wenn zum Beispiel die eigene Haltung fehlt oder der Mut, für sie einzutreten. „Die Gesellschaft“ aber entscheidet nichts. Sie ist abstrakt. Das Volk hingegen ist konkret. Es entscheidet in vielen einzelnen Ichs, nicht zuletzt durch Wahl und Auswahl – oder auch der Abwahl (etwa des christlichen Glaubens).
- Wo sehen wir Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zwischen „Volk“ und „Gesellschaft“? Wie positionieren wir uns zur Unterscheidung Rösers zwischen „Volk“ und „Gesellschaft“?
Eine Kultur für den Kult
Wenn aber viele Ichs – zu „Hauptmeinungsströmen“ – formatiert und von Moden kollektiv gesteuert, ja manipuliert – nur noch ihr Eigeninteresse beanspruchen und somit bewusstseinsmäßig an die Stelle eine übergeordneten Wir treten haben es nicht nur Politik, Parteien oder sonstige weltliche Instanzen schwer, einen Sinn für das Übergreifende, das Gemeinschaftliche zu wecken. Das trifft inzwischen besonders hart die Kirchen, die sich nicht als Projektionsfläche individualistischer Bedürfnisbefriedigung, nicht als Serviceunternehmen netter seelischer oder folkloristisch-familiärer Angebote, sondern als Volk Gottes auf dem Weg, als pilgernde Glaubensgemeinschaft, die sich auf etwas jenseitig-diesseitig „Kollektives“ ausrichtet, auf ein übergeordnetes Hoffnungsziel: das Reich Gottes.
- Beschreibt der Autor hier wirklich einen Widerspruch? Wie unterscheidet sich das „Volk Gottes“ vom oben beschrieben „Volksbegriff“? Wie kann der Containerbegriff „Reich Gottes“ beschrieben und gefüllt werden – ist er eher univok – äquivok – analog zu verstehen? Was macht das „Wir“ des“ Volkes Gottes“ aus?
Die dem Ritual innewohnende Symbolkraft verleiht dem Dasein des Ich in Gemeinschaft einen tieferen, einen transzendenten, das Selbst transzendierenden Sinn und macht diesen sichtbar: feierlich, ergreifend, aber ebenso kritisch, anstößig und herausfordernd. Der vornehmste Ort dafür ist der Kult, das Glaubensfest. Im Entzug aller Äußerlichkeiten, aller Profanität, um den Menschen auf die Spur des Ewigen, Heiligen, Sakralen zu bringen.
- Was leisten (kultische) Rituale für uns, im eigenen Erleben?
- Welche „Rituale“ nehmen wir außerhalb des „Kultes“ wahr – im christlichen, im profanen Leben?
- Halten diese Rituale der Beschreibung des Autors stand? Sind sie „schlechter“ oder „besser“ geeignet?
Zitat Han, Byung-Chul (o.J.): Vom Verschwinden der Rituale:
“Im rituellen Rahmen werden die Dinge nicht konsumiert oder verbraucht, sondern gebraucht.So können sie auch altwerden. Unter dem Zwang der Produktion aber verhalten wir uns gegenüber der Welt verbrauchend statt gebrauchend. Im Gegenzug verbrauchensie uns. Rücksichtsloses Verbrauchen umgibt uns mit dem Verschwinden, was das Leben destabilisiert.“
- Welche Voraussetzungen bzw. Prädispositionen sind notwendig, um das Handeln im rituellen Rahmen zu verstehen?
- Wie steht es um eine „Kultur für den Kult“ – bei uns, bei unserer Gottesdienstgemeinde, in der uns umgebenden Welt?
- Noch einmal: gibt es vielleicht neue Rituale, die sich schon etabliert haben, deswegen, weil sie genau das liefern, was der Autor erwartet?
Einhausung im Ritual
Rituale nicht als geistlose Reproduktion von Bekanntem, sondern als geistvolle Erzählung und Inszenierung der Heilsgeschichte; eine vergegenwärtigende Wiederkehr und Vertiefung des Bekannten auf das Unbekannte, des Alten auf das in ihm enthaltene Neue hin. „Wer hingegen immer Neues, Aufregendes erwartet, übersieht das, was bereits da ist“ – im christlichen Kontext die mystische Gegenwart Gottes in der Präsenz Christi, der Ikone des unbekannten, unsichtbaren Gottes.
Einhausung (im Ritual, d.V.) bedeutet, dass der Mensch sich mit dem Letzten, Erhabenen in einer Hausgemeinschaft versammelt und befreundet.
- Wieder die Frage: Stimmt die Alternative? Gibt es dieses „Entweder – Oder“ zwischen „alt-neuen“ Ritualen oder der Erwartungen der Menschen der Gegenwart? Geht die Präsenz Christi auch „anders“ als im Ritual?
- Wie steht es um unsere „Einhausung“ mit dem Letzten, Erhabenen?
Terror der Intimität
Die Wiederholung hat es schwer in betriebsamen Zeiten mit den geforderten raschen Wechseln vom Ehepartner bis zum Freizeitvergnügen. Jeder soll sich jederzeit selbst verwirklichen. Für Han eine Sackgasse. Der „Authentizitätskult“ sei ein „Zeichen für den Verfall des Sozialen“. Der Zwang zum Ich produziere die narzisstische Selbstbespiegelung, begünstige die dauernde „Beschäftigung mit eigener Psychologie“. Angeblich muss ich nur mir selbst vertrauen, an mich selber glauben, um glücklich zu sein oder zu werden. Welch ein Irrtum! Laut Han lässt der Authentizitätskult den öffentlichen Raum erodieren. „Er zerfällt zu Privaträumen. Jeder trägt seinen Privatraum überall mit sich herum.“ So weit, dass man/frau sich auf dem Markt der Öffentlichkeit bis ins Intimste hinein ausstellt, ja entblößt. Für Han eine Art Pornographie, voller Übergriffigkeit.
- Was mag mit „Erodieren des öffentlichen Raumes“?
- Welche Alternativen zum „Authentizitätskult“ nehmen wir wahr?
- Wie stehen wir selbst im bzw. zum Authentizitätskult?
Unter der Tyrannei der Gefühle und dem Terror der Intimität geht verloren, was das übergreifend Gemeinschaftliche ausmacht, was sich rituell schweigsam wie von selbst ergibt. Han betrachtet das Gemeinschaftliche keineswegs als kalt, unsinnlich. Im Gegenteil. Gemeinschaft bildet sich rituell körperlich. „Rituale sind Verkörperungsprozesse und Körperinszenierungen. Die gültigen Ordnungen und Werte einer Gemeinschaft werden körperlich erfahren und verfestigt. Sie werden dem Körper eingeschrieben, inkorporiert, das heißt körperlich verinnerlicht. So bringen die Rituale ein verkörperlichtes Wissen und Gedächtnis, eine verkörperlichte Identität, eine körperlicheVerbundenheit hervor. Die rituelle Gemeinschaft ist eine Körperschaft.
- Wie beurteilen und stehen wir zu dieser These? Was spricht dafür, was dagegen? Was leistet und was bietet die Körperschaft der rituellen Gemeinschaft?
- Welche Voraussetzungen müssen die Akteure der rituale mitbringen, damit dieses Bild gelingt?
- Ist für uns Kirche eine Körperschaft der rituellen Gemeinschaft?
Für Byung-Chul Han ist die menschheitsgeschichtlich, kulturgeschichtlich und kalendarisch besondere, einmalige und entscheidende Unterbrechung das Ritual des Sonntags als Tag des Herrn, als Tag Gottes, als Tag der Ruhe, des Schweigens, der Stille. „Das Heilige gebietet Stille.“ Diese ist wesentlich für das Fest als Spiel und „Selbstdarstellung des Lebens“. Han sieht es durch einen „Überschusscharakter“ ausgezeichnet. „Es ist Ausdruck des überfließenden Lebens, das kein Ziel anstrebt. Darin besteht seine Intensität. Es ist die Intensivform des Lebens. Im Fest bezieht sich das Leben auf sich selbst, statt sich einem äußeren Zweck unterzuordnen. […] Die Fest-Zeit ist eine stehendeZeit. Sie vergeht, verrinnt nicht. So macht sie das Verweilenmöglich. Dagegen sieht Han im Boom der Events als „Konsumform“ nichts Bindendes und Verbindliches, bloß etwas Verbrauchendes. „Im Gegensatz zum Fest bringen Events auch keine Gemeinschaft hervor. Festivals sind Massenveranstaltungen. Massen bilden keine Gemeinschaft.“
- Noch einmal: Wie steht es um unsere eigene Sonntagskultur? Um unser Angebot einer Sonntagskultur in den Gemeinden und Gruppen?
- Hilft unsere Sonntagskultur zur Bildung von Gemeinschaft(en)?
Eucharistie – eine Tragödie
Die Kirche als Versammlung sollte ein Symbol dessen sein, was sie feiert: das Reich Gottes als Unterbrechung des Laufs der Dinge, spannungsgeladen, nicht spannungsarm. In der Eucharistie werden Leben, Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi gefeiert. Ein Drama. Seine Vergegenwärtigung setzt Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Einkehr, Ruhe, Schweigen und Stille voraus. Eine Tragödie eigener Art ist es, dass die Eucharistiefeiern von heute vielfach an Geschwätzigkeit, Belanglosigkeit, ja „Wortdurchfall“, wie der Theologe Paul Michael Zulehner treffen beobachtete, kranken. Das Gerede tötet, tötet erst recht das Symbol.
Nur: Die Ruhe ist kein Selbstzweck. Vielmehr treibt sie im sakramentalen Geschehen zu heftigster Unruhe, zu einer existenziellen Erschütterung über Sein und Zeit, Entstehen und Vergehen, Gottes Nähe und Abwesenheit, Vernichtung und Erlösung, Untergang und Befreiung. Der christliche Kult treibt eine festlich „stehende Zeit“ auf die Dynamik des Reiches Gottes, Gegenwart auf Zukunft, das Unvollendete auf Vollendung, das Bekannte auf das Unbekannte hin. Hoffnung als Stachel. Geheimnis des Glaubens.
- Rösers Voraussetzung für eine gelungene rituelle Eucharistiefeier: Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Einkehr, Ruhe, Schwiegen und Stille – eine Anfrage an unsere Praxis?
- Haben unsere Eucharistiefeiern einen Raum für existenzielle Erschütterung über Sein und Zeit, Entstehen und Vergehen, Gottes Nähe und Abwesenheit, Vernichtung und Erlösung, Untergang und Befreiung? Wie gestalten wir solche Räume?
Am Sonntag kommt mit der Unterbrechung der Allerweltsbewegung Gott selbst in Bewegung. Das macht den religiösen Mehrwert des sonntäglich-feiertäglichen Rituals aus, dass kein bloßer Funktionalismus zur bürgerlichen Gemeinschaftsbildung in behaglicher Wellness ist, sondern einlädt zu einem Transzendieren auf Transzendenz hin.
- Wer muss welche Disposition mitbringen, um diesem Ziel nahe kommen zu können?
Köln, 16.08.2019
Harald Klein