Ostermontag – Sehnsucht, oder: (Sich) Sehnen ist auch eine Sucht

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Der Auferstandene, … die Hobbits…

Wilde Spekulationen gab es nach dem Verfassen des „Kleinen Hobbits“, den J.R.R. Tolkien zwischen 1930 und 1936 schrieb, mehr noch nach dem berühmteren Dreiteiler „Der Herr der Ringe“, der zwischen 1937 und 1949 erschien. Die Kritiker zerrissen und zerfleischten sich über der Frage, ob Tolkien mit letzterem eine Allegorie auf Hitlerdeutschland geschrieben habe, und inwieweit die vielen Völker in beiden Erzählungen für nord-, süd-, west- oder osteuropäische Völker stehen würden.

Tolkien wehrte solche Spekulationen ab – Gott sei es gedankt. Die Themen beider Erzählungen möchte ich lieber der Gattung des Mythos zuordnen, von dem der römische Philosoph Sallust (86-35 v.Chr.) sagte, sie erzählten das, was niemals war und immer sei. Themen wie das des gemeinsamen Weges, der Gefährtenschaft, der gemeinsamen Mission, der geteilten Furcht und der in Gemeinschaft gemeisterten Aufgabe finden Sie bei Tolkien genauso wieder wie im Neuen Testament. Und noch eine Besonderheit: Wissen Sie, wie der Untertitel des „Hobbit“ lautet? In der deutschen Ausgabe steht „Hin und zurück“; das Original trifft es etwas besser: „There and back again“. Da ist das „again“ drin, und übersetzt würde es heißen: „Dorthin, und wieder zurück“.

Wenn Sie die Predigten der Heiligen Woche noch einmal anschauen, dann könnte Sie die drei Zonen, die Komfort-, die Lern- und die Panikzone nicht nur im Leben und Geschick Jesu, sondern auch beim kleinen Hobbit Bilbo im „Hobbit“ und bei seinem Neffen Frodo im „Herrn der Ringe“ erkennen. Haben Sie bitte ein Nachsehen, dass ich diese These hier nicht ausführe, das würde den Rahmen einer Predigt sprengen.[1] Eines sei gesagt: sowohl Bilbo als auch Frodo Beutlin sehnen sich nach nichts so sehr wie nach einer Tasse Tee und einer Pfeife im Auenland, in das sie nach ihrer Durchwanderung der drei Zonen zurückkehren; und der Auferstandene sehnt sich nach der Rückkehr zu dem, von dem er gekommen ist – zweimal ein „There and back again“. Und ein drittes Mal zeigt sich dieses „There and back again“ im Leben und Geschick der beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus, von dem das Evangelium am Ostermontag erzählt. Deren „back again“ möchte ich mit Ihnen betrachten.

» Mögen alle Wesen glücklich sein und Frieden finden.
Was es auch an lebenden Wesen gibt:
ob stark oder schwach, ob groß oder klein,
ob unsichtbar oder sichtbar, fern oder nah,
ob einer Geburt zustrebend -
mögen sie alle glücklich sein. «
Khema, Ayya (2014): Nicht so viel denken, mehr lieben, Buddha und Jesus im Dialog, Uttenbühl, 4. Aufl., 11.

… und die Emmausjünger

Kleopas und sein namenloser Kumpane kennen eine Komfortzone, es mag Jerusalem sein, die Stadt, in der sie lange weilten. Sie kennen eine kurze Lernzone, in der sie Jesus als „Prophet, mächtig in Wort und Tat vor Gott und dem ganzen Volk“ (Lk 24,19) erlebten. Und sie fliehen aus der Panikzone, in der ihre „Hohepriester und Schriftgelehrten ihn zum Tod verurteilen und an Kreuz (erg.: haben) schlagen lassen“ (Lk 24, 20). Man könnte beinahe sagen, auf dem Weg nach Emmaus läuft sich die Panikzone aus, wie Wellen, die ans Ufer schlagen.

Eines kommt dazu, das an das Faktum der Sehnsucht Jesu im Abendmahlssaal erinnert, an das „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe“ (Joh 13,15). Es geht um das Faktum der Sehnsucht der Emmausjünger: „Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde“ (Lk 24,21).

Sie kennen zum einen sicher den Fortgang der Geschichte. Sie kennen zum anderen aber vielleicht auch den Mechanismus, den Lukas – ich meine den Evangelisten – hier durchscheinen lässt: Die Sehnsucht der Emmausjünger verblendet sie in einer Weise, dass sie den, auf den sie so gehofft haben, nicht erkennen.

» Eines Tages wirst Du begreifen, dass Du nach dem suchst, was Du schon hast«, sagte der Meister zu seinem Schüler. »Warum sehe ich es dann nicht jetzt?« - »Weil Du Dich darum bemühst.« - »Muss ich mich also nicht anstrengen?« - »Wenn Du Dich entspannst und ihm Zeit lässt, wird es sich selbst zu erkennen geben. «
de Mello, Anthony (1994): Eine Minute Unsinn, 2. Auflage, Freiburg, 34.

Sehnsucht ist eine Sucht, die blind machen kann

Es geht um das Faktum, um die Tatsache der Sehnsucht, besser: der „Sehn-Sucht“. Wenn Alkoholsucht eine Sucht nach Alkohol ist, Spielsucht eine Sucht nach dem Spiel, dann ist – rein vom Begriff her – die Sehnsucht eine Sucht nach dem Sehnen. Da geht es noch nicht um die Sehnsucht nach diesem oder nach jener, da geht es darum, süchtig nach dem Geschehen, dem Empfindens, des Sehnens zu sein. „Sehn-Sucht“ ist ohne Objekt oder Subjekt jenseits des Sehnens selbst.

„Wenn Sehnsucht blind macht“ war die Überschrift eines Artikels über Love- oder Romance-Scamming (Liebesbetrug), der in der Frankfurter Neuen Presse erschienen ist.[2] Die Sehnsucht, dass doch irgendwo ein möglicher Partner, eine mögliche Partnerin auf mich warten muss, von mir gefunden werden kann, macht mich anfällig und blind für den, für die, die mir ihre Liebe vorspielt – und mich ausnimmt wie eine Weihnachtsgans. „Nicht die Liebe macht blind, sondern die Sehnsucht danach“[3] ist der Titel eines im März 2022 erschienenen Buches von Anne Schelzig. Erzählt wird die Geschichte einer Tochter lesbischer Mütter, die sich mit ihrer Auseinandersetzung mit ihrem Selbstbild und Selbstwert all das verbaut, was der Erfüllung ihrer Sehnsucht dienen würde.

Zurück zu den Emmausjüngern: Sie sind so verfangen und gefangen in ihrer Hoffnung, dass ihnen jede  Unbefangenheit fehlt, um mit dem, der da zu ihnen gestoßen ist, wirklich etwas anfangen zu können.

» Wenn das Christsein im Allgemeinen und die Gefährtenschaft im Besonderen zur bloßen Bestätigung des gesellschaftlich Selbstverständlichen wird, wenn Christen in der Weise ‚sesshaft‘ geworden sind, dass ihr Glaube nicht mehr ‚unterwegs‘, zu neuen Aufbrüchen fähig ist, dann ist etwas Entscheidendes verloren gegangen und die Gefährtenschaft zum Junggesellentum mutiert. «
Gmainer-Pranzl, Franz (2011): Alleine leben – andere begleiten, in: ders. (Hrsg.): Alleine leben – mit anderen sein. Ein christlicher Lebensentwurf, Würzburg, 80.

„There and back again“

Die blind machende „Sehn-Sucht“ kann sich als Verlängerung und als Fortdauer der Panikzone erweisen. Um aus der blind machenden „Sehn-Sucht“ herauszukommen, hilft das, was in der Geschichte der Emmausjüngern im Fortgang erzählt wird:

  • Ein Impuls der hingehaltenen Hand auf einen vertrauten anderen hin, bei mir zu bleiben, mich aus meiner Blindheit herauszuholen: „Bleibe bei uns, denn es wird Abend, der Tag hat sich schon geneigt!“
  • Die Bereitschaft zur Wahrnehmung dessen, was um mich geschieht, auch wenn es nicht meine „Sehn-Sucht“ berührt: „Und es geschah: Als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach es und gab es ihnen.“
  • Die Offenheit für den Blick auf das, was meinem Leben hier und jetzt dient: „Da wurden ihre Augen aufgetan, und sie erkannten ihn.“
  • Die Verankerung des Erlebten so, dass es von mir erinnert werden kann, dass die Erfahrung von mir abgerufen werden kann: „Brannte uns nicht das Herz, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?“

Das geschah dort, in Emmaus, das ist das „There“ der Emmausgeschichte, so wie das „There“ des „Hobbits“ die Schlacht bei Esgaroth und das „There“ im „Herrn der Ringe“ das Land Mordor und der Turm des Herrschers Sauron ist. Allen dreien ist gemein, dass es ein „back again“ gibt. Beim „Hobbit“ und im „Herrn der Ringe“ ist es das Auenland mit Pfeife und Tee, bei den Emmausjüngern ist es die Panikzone schlechthin: „Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück, und sie fanden die Elf und die mit ihnen versammelt waren. Diese sagten: Der Herr ist wirklich auferstanden und ist dem Simon erschienen. Da erzählten auch sie, was sie unterwegs erlebt und wie sie ihn erkannt hatten, als der das Brot brach.“ Und doch sind sowohl die Hobbits als auch die Emmausjünger im Moment der Rückkehr nicht mehr die, die sie beim Aufbruch waren. Sie sind „Verwandelte“.

Sie erinnern sich an das Zitat des Römers Sallust, ein Mythos sei das, was niemals war und immer sei? Im Mythos des Ringens zwischen einer lebensschadenden „Sehn-Sucht“ und einer Sehnsucht, die Leben und Lebendigkeit fördert, gibt es solche mythischen Elemente, die niemals waren und immer sind:

  • Es scheint, dass es – wie Jesus in Emmaus und dann später wie die Elf in Jerusalem – immer Gefährten und Gefährtinnen braucht, die diesen Weg aus der Komfortzone heraus, die Lernzone entdeckend, durch die Panikzone hindurch anstoßen, begleiten, vielleicht sogar moderieren.
  • Es scheint, dass nur so einer wild wabernden „Sehn-Sucht“ ihre blendenden und blindmachenden Elemente genommen werden kann, damit dann die konkrete „Sehnsucht nach“ zu einer lebensfördernden Kraft werden kann.
  • Es scheint, nur auf diesem Weg aus dem „Wir aber hatten gehofft…“ ein „Da erzählten auch sie, was sie unterwegs erlebt und wie sie ihn erkannt hatten, als er das Brot brach“ werden kann.

Sehnsucht muss zu Erleben, Erkennen und Teilen führen, damit sie keine „Sehn-Sucht“ bleibt. Und so kann sich ein „back again“ ereignen, die zuerst durch die aus der „Sehn-Sucht“ erwachsenen Panikzone hindurchführt, in Geschehen eine neue und verwandelnde Lernzone entdeckt und in eine Komfortzone des Lebens, des Lebendigkeit und es Teilens von Leben führt.

Man könnte wohl auch von Auferstehung sprechen.

Amen.

Köln 16.04.2022
Harald Klein

[1] Über die Komfort-, Lern- und Panikzonen in Tolkiens beiden Romanen informieren [online] https://www.tolkienwelt.de/literatur/inhaltsangabe_der_hobbit.html [16.04.2022] bzw. [online] https://www.tolkienwelt.de/literatur/inhaltsangabe_der_herr_der_ringe.html [16.04.2022]

[2] Vgl. [online] https://www.fnp.de/boulevard/wenn-sehnsucht-blind-macht-10451329.html [16.04.2022]

[3] Vgl. [online]. https://www.lesejury.de/anne-schelzig/buecher/nicht-die-liebe-macht-blind-sondern-die-sehnsucht-danach/9783896563101[16.04.2022]