Heinrich Faust lässt grüßen…
Mit 29 Jahren legt der 1988 geborene und aufgewachsene Simon Strauss[1] 2017 sein literarisches Debüt vor: „Sieben Nächte“. In den Generationenzuschreibungen steckt er mittendrin in der „Generation Y“, auch „Millennials“ genannt. Selbstverwirklichung, innere und äußere Flexibilität, damit verbunden eine Weltoffenheit und ein Unterwegssein als Digital Native sind Werte dieser Generation. Ein großes Selbstbewusstsein wird den ihr Zugehörigen zugeschrieben, weil sie ihre Werte vor allem auf dem Arbeitsmarkt suchen, finden, einsetzen. Aber genau hier, am Selbstbewusstsein, hängt es beim Erzähler – Strauß schreibt in der Ich-Form, ich möchte vermuten, dass vieles hier Festgehaltene einen biographischen Hintergrund bzw. einen biographischen Bezugspunkt hat.
Noch vor dem Vorwort, überschrieben mit „Vor dem Anfang“ steht, den Blick und das Verstehen leitend, Gottfried Benns Gedicht „Nur zwei Dinge“[2], entstanden 1953. Es endet mit den Zeilen: „Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere / was alles erblühte, verblich / es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich.“
Mit beidem beschäftigen sich die folgenden Kapitel, mit der Leere, und vor allem mit dem Prozess des gezeichneten Ichs.
Zunächst die Leere: Strauß bringt im Vorwort, in „Vor dem Anfang“, sich selbst und seine Lebenssituation ins Spiel. „DAS HIER SCHREIBE ICH AUS ANGST. Aus Angst vor dem fließenden Übergang. Davor, gar nicht gemerkt zu haben, erwachsen geworden zu sein. Ohne Initiation, ohne Reifeprüfung einfach durchgerutscht bis zur Dreißig. Alle Abschlüsse gemacht, alle Termine eingehalten, viel gelächelt, wenig geweint, aber vor allem gelächelt. Auf viele Züge aufgesprungen, kurz mitgefahren, dann wieder die Richtung gewechselt. Ich war schon weit weg, kenne mich aus in der Welt, habe mit vielen gesprochen, eine Menge Bilder gesehen, Stimmen gehört, stand hier und da auch im Wind, aber was mir wirklich etwas bedeutet, woran ich glaube, kann ich nicht sagen. Wohin ich will, schon: Immer weiter nach oben – die Leiter ist lang.“[3]
Wer ihn, die Person, oder es, das Werk, noch kennt, hört hier den Heinrich Faust in seiner nächtlichen Studierstube und sein (resp. Goethes) „Habe nun, ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie! Durchaus studiert mit heißem Bemüh’n. Da steh‘ ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor; […] Dass ich erkenne, was die Welt / im Innersten zusammenhält, / Schau alle Wirkenskraft und Samen, / Und tu nicht mehr in Worten kramen. / […] Mit Gläsern, Büchsen rings umstellt, / Mit Instrumenten vollgepfropft, / Urväter Hausrat drei gestopft – / Das ist deine Welt! Das heißt eine Welt!“[4]
… und Mephistopheles auch
Aber damit nicht genug. Neben dem Erzählenden als „Quasi-Faust“ wird „vor dem Anfang“ auch noch ein „Quasi-Mephistopheles“ eingeführt. Die Klage des „Vor dem Anfang“ kippt um in Hoffnung, als ein Unbekannter ins Spiel kommt: „Ich habe ein Angebot bekommen. Einer, den ich kaum kannte, dem ich vor Kurzem begegnet bin, hat mit mir einen Pakt geschlossen. Er wolle mich führen, hat er gesagt, dorthin, wohin es mich drängt. Ich weiß nicht, warum, aber ich erzählte ihm alles, sprach von meiner Verzweiflung, von meinem Ungenügen. Und er hörte mir zu, unvermindert, ohne auf die Uhr zu schauen. Er blickte mich an, führte mich in Versuchung. Und am Ende, nachdem ich ganz aus mir heraus gesprochen hatte, sagte er mit einem Zucken um seinen Mund, er wisse genau, was mir fehle. Und er kenne den Weg dorthin.“[5]
Es kommt zu einem Pakt zwischen dem Quasi-Faust und dem Quasi-Mephistopheles: „Immer um sieben Uhr abends würde er sich melden und mich auf einen Streifzug schicken durch die Stadt. Immer würde ich einer Sünde begegnen, einer der sieben Todsünden. ‚Auf dass du eine findest, in der du dich wohlfühlst. Oder dich für immer von ihnen abkehrst‘, hat er gesagt. Eine Nacht lang gebe er mir Zeit, nach dem Sturm zu suchen, ihn selbst zu entfachen. Aber wenn der Morgen graute, müsse ich geschrieben haben. Bis sieben Uhr früh sieben Seiten, jedesmal. Ich solle es mir überlegen.“[6]
Der Erzähler nimmt an – in der Weise, wie es den der Generation Y Zugehörenden vielleicht typisch ist: „Vielleicht kann ich mein Inneres auf Dauer nur bewahren, wenn ich es preisgebe. Für eine Nacht, für sieben Seiten. Der Angriff wird mich angreifbar machen, aber auch schützen vor zu viel Schutz. Weil mir die Gefahr sonst nirgends begegnet, muss ich sie mir selber suchen.“[7]
Das „sich schützen vor zuviel Schutz“ steht jeder Selbstverwirklichung und jeder Flexibilität, jeder Weltoffenheit und jedem Unterwegssein, sei es als Digital Native oder als Entdecker in der greifbaren Welt entgegen. Etwas riskieren, die Gefahr, abgemildert vielleicht die Herausforderung sich selbst suchend, starten nun die “Sieben Nächte“. Auf der Suche nach einer tragfähigen Begründung dessen, was er nun beginnt, schreibt der Erzähler: „Es gibt Chancen, die bieten sich nur einem bestimmten Alter. Dann muss man entscheiden: Entweder – Oder. Das alte Schicksalsspiel. Ich habe mich entschieden. Ich will es. Will erste Sätze schreiben. Ungeschützt schwärmen. Skizzen machen, Modelle bauen und Wünsche auflisten.“[8]
Die sieben Todsünden in den sieben Nächten
Superbia – der Hochmut
Im Text des Buches werden die einzelnen Nächte mit der bloßen, lateinischen Bezeichnung betitelt, nur das Glossar am Ende dient dem Nachschauen, was sich hinter Superbia verbirgt: Der Hochmut. Und ebenfalls nur im Glossar lässt sich nachschlagen, wo die Sünde zuschlägt „Im Hochhaus“, und wann sie zugeschlagen hat „07. September“. Ein Jahr ist nicht genannt.
Am 07. September beginnt es also mit dem HOCHMUT. Der Erzähler ist mit einem Bungee-Seil von einem Hochhaus gesprungen ist. Aus diesem Wagnis entwickelt sich Erzähler Bereitschaft, hineinzuspringen, ins Ganze der Gesellschaft, ins Ganze der Welt. „Diese Welt braucht mich. Ich bin bereit. Ich bin gesprungen. Ich habe alles geprobt.“[9]
Gula – die Völlerei
Der VÖLLEREI begegnet der Erzähler am 05. Oktober. „Ich esse Fleisch, damit ich werde, was ich noch nicht bin. Jemand, der nicht das nachmacht, was andere ihm vormachen, der selbst seinen Ton findet. Der eigene Überzeugungen hat, sie gegen andere verteidigt, sich traut, den Mund aufzumachen, auch wenn er in der Minderheit ist.“[10] Er frönt der Völlerei, weil er all das eben nicht ist, der vor allem nicht ehrlich ist, so bekennt er selbst.[11]
Acedia – die Faulheit
Die FAULHEIT hat ihren Ort nicht nur am 23. November zu Hause. „Statt raus zu gehen, den Alltag auszufüllen wie ein Kreuzworträtsel, bleibe ich heute zu Hause. In dieser Wohnung, die niemand mehr mit besonderen Erwartungen betritt. Die bis oben hin zugestellt ist mit Gewohnheit.“[12] Es geht um „Selbstverwirklichung im Kleinen“. Strauss schreibt: „Immer, wenn ich allein bin, stelle ich mir vor, es schaute mir jemand beim Alleinsein zu. Ich spiele mein Leben einem unbekannten Zuschauer vor. Der sitzt da und schaut auf jede Bewegung, die ich mache. Er kennt mich gut mittlerweile, weiß um meine Schwächen und Stärken. Die Sit-ups am Morgen mache ich nur für ihn, genauso wie die rhythmischen Handbewegungen beim Musikhören. Ich würde ihn gerne einmal kennenlernen, meinen Zuschauer, vielleicht könnte er mir ein paar Ratschläge geben, was ich besser machen kann. Bisher hat er sich noch nicht gemeldet. Aber er wird schon noch anrufen. Bis dahin bleibe ich noch ein bisschen zu Hause. Schaue auf die tanzenden Paare und schweigenden Schatten. Und warte.“[13]
Die FAULHEIT im Kopf behaltend, wundert sich der Lesende, wie es dazu kommen konnte, dass der Erzähler sich auf die siebe Nächte hat einlassen können. Die Antwort gibt er selber, schon „vor dem Anfang“, wie oben festgehalten: Das Innere kann er nur auf Dauer bewahren, wenn er es preisgibt, und wenn auch nur für eine Nacht, für sieben Seiten. Etwas in Angriff zu nehmen, macht angreifbar, schützt aber auch vor zu viel Schutz. Die Gefahr ist selbst zu suchen, weil sie sonst nicht begegnet.
Avaritia – die Habgier
Der HABGIER begegnet der Erzähler am 19. März auf der Trabrennbahn. Der erste Satz ist der mir wichtigste, er lenkt den Blick: „SCHLIMM IST NICHT DAS VERLIEREN. Schlimm ist der Gewinn der anderen.“[14] Es geht der Habgier nicht immer nur um ein Multum, um eine quantitative Menge, z.B. an Gewinn; es kann ihr auch um ein Magis gehen, um ein qualitatives Mehr. In einem Rennen hat der Erzähler zwei Euro gesetzt, zweiundvierzig bekommt er ausgezahlt. Das wäre das Multum. Das Magis drückt sich in diesem gewonnenen Rennen vorher anders aus: „Jetzt passiert doch noch etwas. Meergörl setzt sich an die Spitze der Verfolger, reißt sich von den Hinterbänklern los und stürmt zur Spitze, Schlamm spritzt an die Bande. Hundert Meter noch bis zum Ziel. Hundert Meter. […] ‚Komm, mein Meergörl!‘ Für wenige Sekunden wird das fremde Tier zum Privatbesitz, verliert die Unverletzlichkeitsklausel von Eigentum jeden Wert. Würde ein Teufel in diesem Moment einen faustischen Pakt vorschlagen, meine Seele, meine Verbeamtung gegen MeergörlsSieg – ich würde keinen Moment zögern. Denn die Habgier hat mich gepackt. Ich will gewinnen. Unbedingt.“[15]
Da ist er, der faustische Pakt, der mir so wichtig für das Verstehen des Romans ist. Die Habgier hat mich gepackt. Ich will gewinnen. Unbedingt.
Invidia – der Neid
In der Nacht des 11. Mai setzt sich der Erzähler dem NEID aus. Der Ort ist mir sympathisch, es geschieht in der Universitätsbibliothek. Sie scheinen degradiert: „Uns fehlen vor allem die richtigen Räume. Wir lassen uns wegnehmen und verordnen, was ursprünglich gerade wegen seiner Nutzlosigkeit und Unordnung wirksam war. Die Bibliothek zum Beispiel, in der ich hier sitze, ist nichts als eine Servicestation. Statt von Bücherregalen wird man von Informationsschaltern und von Bildschirmen empfangen. Überall kann ich meinen Ausweis verlängern, mich über Zahnhygiene informieren oder Club-Mate-Flaschen zurückgeben. Es gibt ein Reparatur-Café, in dem defekte Elektrogeräte wiederbelebt werden. Im zweiten Stock gibt es 3D-Drucker und ein Tonstudio. Das Gesundheitsamt wirbt für Workshops, eine Drohenflugschau wird annoncieret. Unten, im Familienbereich, wo Kinder auf digitalen Sitzplätzen herumhüpfen und an Konsolen zocken, gibt es einen Gong, der immer wieder ertönt, wenn im Kreißsaal der Stadt ein neues Kind geboren wird. Aber die Bücher, die stehen am Rand. Sie passen nicht ins Bild einer modernen Architektur der Leere. Deshalb werden sie ausgelagert und zu Platzhaltern degradiert. Von einem Ort, an dem Bücher wie Schätze behandelt wurden, dicker Staub das Wissen schützte, hat sich die Bibliothek zu einem profanen Ort gewandelt, an dem viel geschieht und wenig gelesen wird. Revolutionen fressen ihre Kinder nicht immer gleich, manchmal saugen sie sie auch nur aus.“[16]
Ich lese die Klage des Erzählenden aus der Bewegung des NEIDES heraus so, als vergleiche er sich selbst mit der Bibliothek, als einem Bauwerk in einer Architektur der Leere. Der Kosmos an Positionen[17], der auf kleinstem Raum im Buch, erst recht in der Bibliothek zu finden ist, kommt einer neidischen Persönlichkeit, die nicht gefragt ist, nahe. Strauss verwendet die Metapher der „Bibliothek als Abflughalle. Die Bücher als Flugzeuge mit heruntergelassener Gangway. Warten geduldig auf ihren einzigen Fluggast. Irgendwann wird er kommen, an einem dunklen Winterabend, und beim Gang entlang der Regale einen zufälligen Griff tun. Dann startet der Motor und das Flugzeug hebt ab.“[18]
Alles ist schon da, ist schon dagewesen. Strauss schreibt: „Neid heißt bei mir also vor allem: die Jahre zählen. Rechnen, wie viel Abstand schon ist, welcher Spielraum noch bleibt. Heißt: Einmal Rimbaud sein wollen. Einmal leben ohne Einstweh. Schöpfer sein, Theaterregisseur, notfalls auch Diskursbegründer – nur da sein, wirklich da sein, und nicht nur Visitenkarten sortieren im Büro. Als ewiger Adabei und Schattenboxer, der nie den Ring betrat, immer nur von Musik träumte, unter deren dröhnendem Klang ihm das Publikum entgegenjubeln würde.“[19] Leben geschieht, wenn es denn geschieht, im Konjunktiv. Das ist die Realität die schon „vor dem Anfang“ beschrieben wurde. Gottfried Benns „Leere“, und sein gezeichnetes Ich“. Das, was der Erzähler in seiner inneren Bibliothek hat, ist alles schon geschrieben. Es gibt nichts Neues mehr, was er selbst schreiben, dazustellen kann. Ich möchte die „Bücher“ der „Bibliothek“ lesen als die Inhalte, die Erlebnisse und Erfahrungen, die Begegnungen, Die Freuden und die Leiden des Erzählenden. Dann klingt Strauss auf einmal ganz anders:
„Jetzt kommen die Bücher dran. Tag für Tag werden sie penibel gesäubert, bis die letzte Staubfluse ausgemerzt ist. Sie glänzen wie nie zuvor, diese Bücher, aber gelesen werden sie nicht. Mit dem Staub verschwindet auch das Wissen. Die Aura von Berührbarkeit. Uns fehlt das Feuer. Der Mut. Wir ewigen Zweiten. Die wir nachts heimlich die eigenen Namen in die Bücher unserer Väter schreiben, in der Hoffnung, das Erbe gäbe uns Kraft.“[20]
Luxuria – die Wollust
Es ist ein Maskenball am 22. Juli, der unter dem Zeichen der WOLLUST steht. „Alles tun, was wir wollen, und nicht fürchten, dass etwas nach draußen dringt.“[21] – das macht das Feld der WOLLUST noch sehr weit. „Der Traum von der einen Nacht, in der alles verziehen wird. Wo man die Scham verliert, sie endlich einmal loswird, die alte Klette, die sich seit Kindesbeinen an einen geheftet hat. Nackte Haut berühren, Gläser splittern lassen, durch Labyrinthe streifen. Dunkelheit und Kerzen, ein Schatten von irgendwoher, der zum Freund wird, zur Geliebten für kurze Zeit. Und dann weiterzieht, als wäre nichts gewesen, als dürfte diesmal das Spiel alles sein und die Rechnungen unbezahlt. Lippen schweigen / Flüstern Geigen / Hab mich lieb. Den Traum habe ich schon lange.“[22] – so fokussiert Strauss die WOLLUST auf den Maskenball. Hier finden Begegnungen statt, hier beginnen Beziehungen, die sich an anderen Orten vertiefen wollen. Wenn das werbende Spiel um die körperliche Liebe nicht gelingt, bleibt das Spiel um das Glück am Roulette-Tisch, ebenfalls von der WOLLUST initiiert und begleitet. „Am Roulettetisch treffen sich die Glücklosen. Was sie in der Liebe verfehlen, muss doch wenigstens im Spiel zu finden sein. Sie setzen alles auf Schwarz, ihre Farbe der Hoffnung.“[23]
Die Nacht der WOLLUST entwickelt sich nur für diejenigen, die Freude am Nachsinnen und Philosophieren haben, zu einem fantastischen Abenteuer. Für den Erzähler bleiben – neben flüchtigen Begegnungen und samtigen Gesprächen – nur Einsichten und Erkenntnisse. „Wen die Wollust findet, dem helfen kein Samt mehr und keine Südfrüchte, der muss sich wehrlos abführen lassen. So schnell lässt sie einen nicht wieder los. Egal, wie oft oben das Telefon klingelt, egal, wie heftig die Zweige gegen das Fenster schlagen.“[24]
Ira – der Jähzorn
Bleibt noch – terminiert am 06. November – der ZORN, von Strauß als JÄHZORN während einer Autofahrt verdeutlicht. Des Erzählers ZORN richtet sich gegen die, die vor ihm waren oder noch sind. Gegen sie gilt es aufzubegehren, um den eigenen Weg, um zu sich zu finden. „DER ZORN HAT SCHMUTZ unter den Fingernägeln. Er kratzt am Lack, an der Oberfläche, kratzt und reißt so lange herum, bis die Haut offen ist und die Nerven blitzend und blank daliegen. Am Steintisch sitzen und Karten spielen? Das ist ein Bild für spätere Tage. Vorher, mit fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig, muss man den Mund aufreißen, sonst bleibt er später für immer trocken und die Karten werden niemals neu gemischt.“[25]
Aber der ZORN geht nicht nur gegen andere ins Gericht. Er wendet sich auch gegen sich selbst. „Im Auto neben mir sitzt der, in dem ich mich spiegle. Kein Freund, kein Fremder. Ein Mensch dazwischen. Der Handschlag ist gefällig geworden mit der Zeit. Er sieht mir nur kurz in die Augen, und dann gleich am Kopf vorbei in die Ferne, er ist noch nicht ganz da, oder schon einen Schritt weiter, bei der nächsten Aufgabe, dem nächsten Geschäft. Das Lenkrad hält er wie ein Jungunternehmer, mit einer Hand, während der linke Arm lässig aus dem offenen Fenster hängt.“[26]
Wie so oft bei der Lektüre von Strauß‘ „Sieben Nächte“ empfinde ich die „stillen“ Todsünden besser beschrieben, nachvollziehbar, als die „lauten“, von denen ja auch kaum die Rede ist. Ich suche den Zorn in diesem Kapitel, und finde vor allem eine Auseinandersetzung des Erzählers mit sich selbst.
Das kann dann heißen: „Wir haben die Taschen voll. Wir teilen Autos und Ansichten, wollen nie besitzen, hasten von einer Verspätung zur nächsten – immer entschuldigt, immer kurz vorher einen Zweizeiler abgeschickt -, wir hatten immer schon das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, und werden nie verstehen, wie wichtig es ist, einmal das Falsche zu tun. Mit vollen Segeln in die verkehrte Richtung zu steuern, gegen den Strom, gegen den Wind.“[27]
„Dann reiß doch den Mund auf und schrei“, möchte man dem Erzähler sagen. „Dann tue doch mal das Falsche, dann fahr doch mit vollen Segeln in die verkehrte Richtung, gegen den Strom, gegen den Wind. Übernimm Verantwortung für Dein Tun, das, genau das ist: Dein Tun. Und schau, was passiert.“ Und was passiert?
„Eigentlich ist Zorn ja ein Gefühl aus einer anderen Zeit. Zornig klingt nach Comicstrip oder Familienvätern der Fünfziger Jahre. Vom Zorn Gottes hat sowieso schon lange niemand mehr gesprochen. Das Neue Testament passe besser in unsere Zeit, hat neulich ein evangelischer Pfarrer gepredigt. So als könne man das Abgründige einfach eingemeinden in die Ländereien der dumpfen Zufriedenheit, in denen die Fahnen immer auf Halbmast wehen, ohne dass einer sagen könnte, worüber man trauert.“[28]
Am Ende der siebten Nacht
Im Rückblick auf die „sieben Nächte“, noch unmittelbar am Ende der Beschreibung des ZORNS zu finden, hört der Erzähler innerlich die Stimme seiner Mutter, die ihn immer aufgefordert hat, sich „mehr reinzuknien“[29] Ist es eher tragisch, eher optimistisch, wenn er resümiert: „Ich mache den Weg zu meinem eigenen und lasse mich von den Füßen tragen. Die Stadt ist leer geworden, in den Geschäften blinken nur noch die Werbelichter. Am Ende wird die Zeit doch der Sieger sein. Denn sie läuft immer weiter. Auch wenn uns alle der Schlaf übermannt – sie kommt ans Ziel. Lässt die Geträumten zurück in ihrem Kummer darüber, dass jeder von uns aus zweien besteht – wie es bei Marivaux heißt – ‚aus einem, der sich zeigt und einem, der sich verbirgt.‘“[30]
Zum wiederholten Mal spielt Strauß bei seinem Erzähler mit der Faust-Parallelität, mit dem „Habe nun, ach…“, gerade zum Ende hin, wenn der Erzähler auf die Zeit der „sieben Nächte“ zurückschaut: „Die sieben Nächte mit den sieben Sünden waren sieben Nächte gegen die Zeit. Durch sie ist meine Prüfung für den Moment aufgeschoben. Ich habe gesehen, was es heißt zu reifen. Bin durch viele Formen geschritten und habe Kinderfragen gestellt. Habe nach Sinn und Sagbarem gesucht und Umrisse in den Sand gezeichnet. Gegen die Leere. Damit etwas bleibt.“[31]
Des Teufels Verärgerung…
In der Rahmung der „sieben Nächte haben „vor dem Anfang“ noch der Erzähler und sein Gesprächspartner, „einer, den ich kaum kannte, dem ich vor kurzen begegnet bin“[32], miteinander geredet. Das Gespräch, der Kontakt wird nach der siebten Nacht zumindest nicht dialogisch aufgegriffen. Das Schlusskapitel, besser: das Schlusswort „Vor dem Ende“ ist ein Brief, unterzeichnet mit „Gute Nacht und viel Glück! Dein T“
Der Teufel selbst – ich bin von dieser Deutung nicht abzubringen – beginnt diesen Brief mit „LIEBER S., ICH GRATULIERE, DIE REIFEPRÜFUNG ist bestanden. Willkommen, du bist jetzt einer von uns.“[33] Und lässt dabei offen, wen er mit „uns“ meint, in welche Community, in welche Gemeinschaft er den Erzähler nun hineinsummiert. Erst das Wort von der „Festanstellung, für deine Rolle als Ehemann, Vater und Vorbild“, für das S., der Erzähler, bestens gerüstet sei, verdeutlicht es. Und fährt im Brief fort: „Ich bin mir sicher, du bist am Ende doch froh, den dir in der Welt vorherbestimmten Platz einnehmen zu können. Dazuzugehören. Vielleicht nicht zur Mitte, ein Stück daneben, vermutlich links (oder rechts?), als lauterer kritischer Geist.“[34]
Anders als bei Goethes FAUST wird der Teufel von S., dem Erzähler, enttäuscht. „Wütend und traurig bin ich, weil ich mir selber so viel davon versprochen habe. Für mich. Weil ich gehofft hatte, ein Rezept zu bekommen, um meinem Leben mit Frau und Hund und Gewohnheit etwas entgegenzusetzen. Leider vergeblich. Wo sind bei dir schon die Gedanken, die Sätze, die Formeln, die mich retten, wenn es nötig ist? Was sind die Veränderungen, die du bewirkt hast, welche Spuren hast du hinterlassen, welchen Eindruck gemacht, gegen wen hast du dich aufgelehnt, welche neue Epoche begründet? War die Besonderheit deines Blicks nur eine Färbung des Lichts, nachtblau das eine und zornesrot das andere Mal? Kein schwerer Schlag, keine echte Bedrohung, kein Neuanfang war dabei, nichts, das mich verpflichtet hätte, mich loszusagen von allem, woran ich bisher geglaubt habe.“[35]
T. wird S nicht lassen! Sein Brief und mit ihm die Erzählung endet mit den Worten: „Ich komme dich bald besuchen in deinem neuen Leben. Dann können wir nochmal einen Abend lang so tun, als ob wir träumen. Von einem letzten Sommer. In Freiheit, ohne Fesseln, ohne Sorgen. In Wirklichkeit aber gibt es für uns keinen Weg zurück zu diesem Spätsommertag, auch wenn die Wegbeschreibung irgendwo tief in deinen Texten verborgen ist. Manch anderer wird hoffentlich die Unternehmung wagen, die wir geplant hatten. Der Versuch lohnt sich in jedem Fall. Denn ganz sicher kann diese Welt neue Luftschiffer und echte Träumer gerbrauchen. Das Gute ist, dass wir uns jetzt, wo du auf unsere Straßenseite gewechselt bist, häufiger sehen werden. Das eine oder andere Glas werden wir schon austrinken – da bin ich mir sicher. Weise Männer pflegten einst zu sagen: Gute Nacht und viel Glück! Dein T“[36]
der ich könnte sein. «
Ein Fazit?
Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten sei die Gerade, lehrt die Geometrie. Auf das Leben und das Erleben von S. hin gedeutet möchte man meinen, der eine Punkt sei der Sinnspruch „Und der ich bin grüßt traurig den, der ich könnte sein“, den Friedrich Hebbel (1813-1863) notiert hat. Und der zweite Punkt könnte von Ödön von Horvath (1901-1938) stammen: „Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur viel zu selten dazu“. Wer ein Fazit zu dieser Erzählung ziehen mag, kann sich – je nach eigener Vorliebe und eigenem Verständnis – irgendwo auf der Geraden einordnen, deren Anfangs- und Endpunkt die beiden Zitate bilden. Aber Achtung: Die Frage ist, ob es denn zwischen den „Punkten“ überhaupt eine Gerade geben kann…
Köln, 29.01.2025
Harald Klein
[1] Näheres zur Person und dem Werk des Autors auf [online] https://de.wikipedia.org/wiki/Simon_Strauß [15.01.2025]
[2] Nachzulesen und im Vortrag zu hören auf [online] https://www.deutschelyrik.de/nur-zwei-dinge.html [15.01.2025]
[3] Strauss, Simon (2017): Sieben Nächte, Berlin, 11. – Die ersten Worte eines neuen Kapitels sind im Buch in großen und fettgedruckten Buchstaben notiert und werden hier so übernommen.
[4] vgl. [online] https://www.reclam.de/data/media/978-3-15-019152-1.pdf [15.01.2025]
[5] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 20.
[6] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 21.
[7] ebd.
[8] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 23.
[9] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 37.
[10] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 47.
[11] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 48.
[12] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 57.
[13] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 68.
[14] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 71.
[15] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 78.
[16] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 89.
[17] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 90.
[18] ebd.
[19] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 94.
[20] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 95.
[21] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 101.
[22] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 100.
[23] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 108.
[24] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 112.
[25] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 115.
[26] ebd.
[27] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 116.
[28] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 123.
[29]Strauss, Simon (2017), a.a.O., 125.
[30] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 127f.
[31] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 128.
[32] vgl. Strauss, Simon (2017), a.a.O., 20.
[33] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 133.
[34] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 134.
[35] ebd.
[36] Strauss, Simon (2017), a.a.O., 138.