Wie österliche Menschen leben – Impulse aus einem Gedicht von Rose Ausländer – Manuskript für einen Einkehrtag

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Einige Bemerkungen zu Rose Ausländer

Die deutsche Sprache ist etwas Wunderbares, und für mich gibt es kaum etwas Schöneres, als mit guten Freunden und Gefährten in Maulbronn, dem Kloster, in das der junge Hermann Hesse quasi „verbannt“ wurde, seine Erzählungen zu lesen, sie einander vorzulesen und sich von seiner Sprache aus der Gegenwart entführen zu lassen – aber nur, um von Hesse und in seiner Sprache durch das, was er erlebt und oft erlitten hat, zurückbringen zu lassen in meine und unsere Gegenwart, meist gestärkt, immer bereichert.

Aber nicht von Hermann Hesse und von seinem erzählerischen, seinem epischen Schreiben möchte ich erzählen, sondern von einer Lyrikerin, die seit 1965 und bis zu ihrem Tod im Jahr 1988 (mit 87 Jahren) nicht weit von hier, in Düsseldorf, gelebt hat und dort auf dem jüdischen Teil des Nordfriedhof beigesetzt ist. Es geht um Rose Ausländer, deren Biographie zu Lebzeiten viele Orte kennt, aber kaum einen Ort, der ihr auch Heimat oder ein Zuhause war. Zweimal lebte sie in enger Beziehung; die 1923 geschlossene Ehe mit Ignaz Ausländer hielt drei Jahre, dann folgte die Trennung. Sie lernte 1927 den Kulturjournalisten Helios Hecht kennen, mit dem sie eng verbunden lebte, trennte sich von ihm aber 1935. Beide Beziehungen blieben kinderlos. Rose Ausländer war über den Ozean hinweg sehr mit ihrer Mutter verbunden, die sie in Zeiten der Krankheit zweimal längere Zeit in Czernowitz pflegte und dafür sogar ihre Ausbürgerung aus den USA in Kauf nahm. Sie wurde verhaftet, als vermeintliche Spionin ins Gefängnis gesperrt, ins Ghetto von Czernowitz gebracht (wo sie Paul Celan kennen lernte), überlebte bis zum Ende des Krieges in einem Kellerversteck. 1964 kam Rose Ausländer aus den USA nach Wien, ein Jahr später nach Düsseldorf. 1972 zog sie ins Nelly-Sachs-Haus, ins Altenheim der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf. 1975 lernte sie Helmut Braun, ihren Verleger, dann vertrauten Freund, Nachlassverwalter und Weggefährten kennen, der ihre Biographie geschrieben hat. Als sich Rose Ausländer 1977 einen Oberschenkelhalsbruch zuzog, beschloss sie, sie sei jetzt bettlägerig, und begab sich selbst in die Klausur ihres Zimmers im Altenheim. Täglich sorgte sich eine Privatschwester für einige Stunden um sie, und immer freitags kam Helmut Braun abends um 18:45 h für eine Stunde zu Besuch. In diesen elf Jahren der Schreib-Klausur Rose Ausländers sind – neben den Gedichten von Hilde Domin – die mir liebsten Gedichte entstanden, die ich kenne und die mir Orientierung geben, Wegweiser sind, mir vor allem aber das Herz aufschließen.

Lyrik: verdichtete Sprache und verdichtetes Leben

Lyrik ist verdichtete Sprache. Rose Ausländer beschrieb ihr Verhältnis zu sich, zu anderen Menschen, zu Phänomen, die sie beschäftigten, in „verdichteter Sprache“ – Sie merken, wie doppeldeutig dieses Wort ist. Aber mehr noch: Lyrik ist auch „verdichtetes Leben“ – und wieder gilt die Doppeldeutigkeit dieses Wortes. Die vielleicht engste Beziehung, die Rose Ausländer lebte, war die zu ihrer Mutter. Im Gedicht „Meine Nachtigall“[1] „verdichtet“ Rose Ausländer diese Beziehung. Um Sie hinzuführen ihrer Sprache, hier ihr Gedicht für ihre Mutter, von ihrer Mutter:

» Meine Nachtigall

Meine Mutter war einmal ein Reh
Die goldbraunen Augen
die Anmut
blieben ihr aus der Rehzeit

Hier war sie
halb Engel halb Mensch
die Mitte war Mutter

Als ich sie fragte, was sie gern geworden wäre
sagte sie: eine Nachtigall

Jetzt ist sie eine Nachtigall
Nacht um Nacht höre ich sie
im Garten meines schlaflosen Traumes
Sie singt das Zion der Ahnen
sie singt das alte Österreich
sie singt die Berge und Buchenwälder
der Bukowina
Wiegenlieder
singt mir Nacht um Nacht

Meine Nachtigall
im Garten meines schlaflosen Traumes

Das Lied der Nachtigall «
Zitiert in: Braun, Helmut (2018): Rose Ausländer. Der Steinbruch der Wörter, Berlin, 33f

Aus Lyrik leben: „Die Vergangenheit hat mich gedichtet…“

In diesem in den späten 1950er Jahren entstandenen Gedicht gibt es weder Versmaß noch sonstige Schreibregeln, Rose Ausländer lässt ihren Gefühlen und inneren Bildern auf die Mutter hin sprachlich einen freien Lauf. Sie kann das auch kürzer, und ein zweites Gedicht will ich Ihnen vorstellen, es trägt den Titel „Mein Atem“[2] und ist dem Spätwerk (1981) zuzuordnen:

» Mein Atem

In meinen Tiefträumen
weint die Erde
Blut

Sterne
lächeln in meinen Augen

Kommen Kinder zu mir
mit vielfältigen Fragen
Geht zu Sokrates
antworte ich

Die Vergangenheit
hat mich gedichtet
ich habe
die Zukunft geerbt

Mein Atem heißt
jetzt «
In: Ausländer, Rose (1981): Mein Atem heißt jetzt, Frankfurt/Main, 85.

Der eine Vers wäre schon einen Einkehrtag wert: „Die Vergangenheit / hat mich gedichtet / ich habe / die Zukunft geerbt // Mein Atem heißt / jetzt“. Sie haben ihn ja, diesen Vers, und ich bin ganz zuversichtlich, dass Sie daraus etwas machen werden, wenn es dran ist.

Aus Lyrik österlich leben: Brot, Wort und Umarmung

Für unseren gemeinsamen Einkehrtag habe ich Ihnen ein drittes Gedicht mitgebracht, mit dem ich die Predigten von Palmsonntag über Gründonnerstag und Karfreitag bis in die Osternacht hinein gestaltet habe. Es ist 1984 publiziert worden, vielleicht ist es einige Jahre älter, aber es gehört zu Spätwerk Rose Ausländers. Es trägt den Titel „Unsere Sterne“[3]:

» Unsere Sterne

Um den Atemmond
namenlose erleuchtete Sterne.

Unsere irdischen Sterne
Brot Wort und
Umarmung «
In: Ausländer, Rose (1984): Gelassen atmet der Tag. Gedichte, Frankfurt/Main, 50.

Unser Einkehrtag trägt den Titel „Wie österliche Menschen leben“. Das kann einmal eine Frage sein, auf die eine Antwort folgt. „Du fragst, wie österliche Menschen leben. Ich will Dir sagen, wie österliche Menschen leben.“  Oder es ist schlicht eine Beschreibung, die ein Angebot darstellt, wie aus einem Katalog oder einem Prospekt: „Schau her, hier siehst Du, wie österliche Menschen leben.“ Die Worte dieses kurzen Gedichtes von Rose Ausländer können Sie nachher in der stillen Zeit nehmen – als Angebot, als Beschreibung, als Antwort.

Gedanken zum österlichen Leben

Da ist die Rede vom Atemmond. Rose Ausländer ist jüdischen Glaubens. „Atem“ ist eine der möglichen Übersetzungen des hebräischen Wortes „Ruach“ – es steht sowohl für Atem als auch für Geist, und es hat seinen prominentesten Ort in der Schöpfungsgeschichte. Hier schwebt der Geist über dem Tohuwabohu, dem Urchaos, und hier steht er für den Lebensatem Gottes, den der Schöpfer dem Adam in die Nase bläst und so der irdischen Form das göttliche Leben einhaucht. Die Verbindung von „Atem“ und „Mond“ können Sie lesen und sehen als „Leben in der Dunkelheit“, als Leben, Geist, Ruach, der da ist – aber verdunkelt. Das Herz schlägt noch, aber schwach, und die Seele ist in sich zurückgezogen, unfähig zur Kommunikation, zur Gestaltung, zum Leben – das ist der Mensch als Atemmond. Um ihn herum namenlose erleuchtete Sterne – da bedarf es nicht vielerlei Deutung. Wer in der Situation des Atemmondes ist, fühlt sich nicht nur verlassen, sondern fast schon bedroht von den erleuchteten namenlosen Sternen um sich herum, die den Atemmond als Zentrum haben, als Achse, um sie sich drehen, aber ohne wirklich in Kontakt mit ihm zu sein. – Der Palmsonntag: Beim Einzug Jesu in Jerusalem ist Jesus namenlos, die Menge der Erleuchteten, auch der Erlauchten ist ebenso namenlos. Der Mann, der den Saal gibt, und der, der das Fohlen der Eselin hergeben muss – sie werden nicht namentlich vorgestellt oder beim Namen genannt. Das Hosanna am Abend vor seiner Leidenswoche gilt namenlos dem „Sohne Davids“, Jesus wird nicht bei Namen genannt – das gilt übrigens auch in der Passion. Bei Johannes taucht der Name Jesu dreimal auf. Zu Beginn fragt er die Häscher: „Wen sucht ihr?“ Und sie antworten zweimal: „Jesus von Nazareth.“ Das dritte Mal ist es die Nennung auf dem Schild über dem Gekreuzigten: „INRI – Jesus von Nazareth, der König der Juden“. Er ist hier in der Leidensgeschichte der Atemmond,Und drum herum eine Menge namenloser erleuchteter Sterne, bei Johannes sind nur wenige Namen genannt, aber eine Menge namenloser, wenn auch nur wenig erleuchteter Sterne. Die Jesus beim Namen genannt hat, verraten ihn oder laufen weg.

Unsere irdischen Sterne: Brot – mit Blick auf das Abendmahl braucht dazu wohl nichts gesagt zu werden. Eins vielleicht: Johannes berichtet nichts vom Mahl, dafür aber von der Fußwaschung. Brot hat etwas mit Dienen zu tun, mit sich niederlassen, auch am Tisch. Es geht darum, den Hunger der anderen zu stillen, so Sie es vermögen. Es geht darum herauszufinden, was Sie wirklich nährt. Und es geht darum, Ihren Hunger anderen einzugestehen. – An Gründonnerstag finden Sie all das berichtet: Im Mahl („Tut dies zu meinem Gedächtnis“), in der Fußwaschung („Ein Beispiel habe ich Euch gegeben“), im Eingeständnis des Hungers („Konntet Ihr nicht einmal eine Stunde mit mir wachen?“).

Unsere irdischen Sterne / … Wort …“: Wenn Sie an die Passion nach Johannes denken, welches Wort aus der Passion, aus der Leidensgeschichte mag Ihnen da als erstes einfallen? Vielleicht das „Kreuzige ihn“ oder das „Nicht diesen, sondern Barabbas“ des Volkes, oder das „Was ist Wahrheit?“ des Pilatus, vielleicht auch das „Es ist vollbracht“ Jesu? Sie finden in der Leidensgeschichte gewaltige Worte, Gewaltworte, die dem Jesus wie auch Ihnen den Atem, den Lebensatem nehmen. Sie finden Worte, die eine Balance herstellen, ich nenne sie Balanceworte – das sind die Pilatus-Worte, der zwischen dem angeklagten Jesus drinnen und dem Volk draußen immer wieder hin- und herläuft, nicht Fisch und nicht Fleisch, in der Haltung des „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“. Und Sie finden mitten in der Dunkelheit des Lebens im Atemmond Jesu die Sternenworte: „Frau, siehe, Dein Sohn“ und zum Jünger: „Siehe, Deine Mutter!“ Sie hören das Wort des Leidens an die Menschen um ihn herum: „Mich dürstet!“ Und Sie hören das Wort des Aufgebens, der Übergabe seiner selbst an Gott „Es ist vollbracht“. Sternenworte sind Worte, die eine neue Wirklichkeit setzen – wie bei Maria und Johannes – oder die eine Wirklichkeit in die Hand anderer übergeben.

„Unsere irdischen Sterne /… und / Umarmung“: Neben Brot und Wort nimmt die Umarmung in Rose Ausländers Gedicht einen besonderen Platz ein, dieser dritte „Stern“ ist abgesetzt und steht eine Zeile tiefer als Brot und Wort. Das spricht für sich! Der Hunger nach Umarmung, nach Nähe ist wesentlich ein anderer, ein grundlegenderer als der nach Brot oder nach Wort. Ich habe die Umarmung als Osterwort genommen, und das, obwohl in allen Osterevangelien keine einzige Umarmung genannt wird. Im Gegenteil: Das „noli me tangere“, das „Rühre mich nicht an“ bzw. das „Halte mich nicht fest“ des vermeintlichen Gärtners Maria Magdalena gegenüber ist ja fast das Gegenteil davon. Aber in meiner Fantasie stelle ich mir vor, wie Maria Magdalena zu den Aposteln kam, oder wie die Jünger von Emmaus in den Kreis in Jerusalem dazu traten und erzählten, was sie erlebt hatten. Ich kann mir nur vorstellen, dass es die Apostel vom Hocker gerissen hat, dass sie außer sich waren und sich voll Freude und in großem Trost umarmten. Ich stelle mir in der Apostelgeschichte vor, wie Petrus und Johannes den Gelähmten im Namen Jesu, des Nazoräers heilen, wie er aufsteht und sich mit einer Umarmung bedankt. Wie groß ist die Sehnsucht nach der Umarmung in den Ereignissen der Karwoche, egal, bei wem. Und wie beglückend ist die Umarmung der Menschen nach Ostern – in ihr wird Ostern, wird das Geschehen an Ostern, wird Auferstehung deutlich und heilsam erfahrbar.

Zum betenden Umgang mit dem Gedicht

In diesen drei Worten „Brot Wort und Umarmung“ ist eine Umschreibung gegeben, wie österliche Menschen leben. Für die Zeit der Besinnung und in der Feier des Gottesdienstes gebe ich den Impuls dieser Worte von Rose Ausländer weiter an Sie. Spüren Sie dem doch einmal nach, schauen Sie, wie Sie als österliche Menschen leben – und wohin es Sie vielleicht lockt, mehr österlich zu leben. Einige Impulsfragen habe ich Ihnen dazu notiert, ind der Hoffnung, dass sie Ihnen hilfreich sind:

Für die Stille Zeit einige Impulse:

  • „Um den Atemmond / namenlose erleuchtete Sterne“: Sie können sich einige Situationen präsent machen, in denen Sie ein Atemmond waren, in denen das Leben eher der Nacht glich. Wie wirkt sich dieser Atemmond, der Sie sind, auf die um Sie herum aus? Greift das Bild von den namenlosen erleuchteten Sternen? Kennen Sie die Wechselwirkung zwischen beiden, hier, jetzt, in Ihrer Gemeinschaft?
  • „Unsere irdischen Sterne / Brot …“: Wonach hungert es mich hier, jetzt, in meiner Gemeinschaft? Welches Brot kann ich schenken, welchen Dienst kann ich tun – hier, jetzt, in meiner Gemeinschaft? Wem kann, darf, will ich hier, jetzt, in meiner Gemeinschaft meinen Hunger eingestehen, damit sie, damit er ihn mit mir teilt, vielleicht auch stillt?
  • Unsere irdischen Sterne / … Wort …“: Wie sieht unser Reden miteinander aus? Welche Worte sind typisch für mich – auch unausgesprochen, in meinen Gedanken? Wo höre ich hier, jetzt, in meiner Gemeinschaft Sternenworte, wo, wem gegenüber und wie gebrauche ich sie selber?
  • „Unsere irdischen Sterne / … und / Umarmung“: Die Erfahrungen des Ostermorgens – in Traurigkeit, Verlassenheit, Enttäuschung umarmt mich das Leben, auch wenn ich es zuerst nicht erkenne – habe ich dafür „Osteraugen“ und ein „Osterherz“? Es gibt eine Nähe, die sich eben nicht das „Halte mich nicht fest“ vorwerfen muss, die mich freilässt und mir Kraft zum Gehen schenkt? Kann ich diese Art von Nähe schenken, kann ich sie annehmen? Kann ich mich selbst in den Arm nehmen, mir gut sein, mich selbst trösten? Und kann ich die anderen in meiner Gemeinschaft in guter Weise umarmen, so, dass sie aufleben – und ich auch? Wem gebe ich umarmend Halt, wer hält umarmend mich?

Um es mit einer einzigen Frage abzuschließen: Kann ich auf diese Weise österlich leben? Will ich es? Hat es etwas Verlockendes für mich? Und: womit werde ich beginnen?

Köln 22.04.2021
Harald Klein

 

[1] Zitiert in: Braun, Helmut (2018): Rose Ausländer. Der Steinbruch der Wörter, Berlin, 33f.

[2] In: Ausländer, Rose (1981): Mein Atem heißt jetzt, Frankfurt/Main, 85.

[3] In: Ausländer, Rose (1984): Gelassen atmet der Tag. Gedichte, Frankfurt/Main, 50.