24. Sonntag im Jahreskreis – Leben aus dem Überfluss

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Was ein Papst erwägen muss

Er war zwar nicht der Gründer, aber doch zeitnah nach der Gründung des Zisterzienserordens dessen Promotor: der aus dem französischen Adel stammende Bernhard von Clairvaux (1090-1153). Zu seinem engsten Freundes- und Gefährtenkreis gehörte der spätere Papst Eugen III. (1088-1153, seit 1045 Papst).

Dieser Papst Eugen III.bat seinen Freund Bernhard, ihm einen „Papstspiegel“ zu schreiben, der heute noch unter dem Titel „Was ein Papst erwägen muss“[1] bestellt und gelesen werden kann – sehr lesenswert übrigens, auch für Nicht-Päpste und Nicht-Päpstinnen. Bernhard beschreibt Grundhaltungen des Christseins, die er dann quasi auf das Papstamt „verlängert“. Diese Schrift zeichnet sich dadurch aus, dass für die frühen Zisterziensermönche das Hohelied der Liebe aus dem Alten Testament ein – eben – „Spiegel“ für das Leben mit Gott und das Leben untereinander darstellte. Zisterziensiche Spiritualität atmet diese gütige und kluge Liebe wie die Entschlossenheit, immer wieder dorthin (wie zu einer Quelle) zurückzugehen und von dort aus (aus der Quelle) neu zu starten.

An diese Quelle erinnert und aus dieser Quelle lebt der „Papstspiegel“, den Bernhard von Clairvaux verfasst hat. In der Theologie wird Bernhard wegen seiner Weise des Predigens und Lehrens als „doctor mellifluus“ bezeichnet, als honigfließender Lehrer. Um so unverständlicher, dass sein Freund, Papst Eugen III. noch im Jahr seiner Papstwahl den II. Kreuzzug ausrief und Bernhard mit der Kreuzzugspredigt beauftragte. Es scheint etwas schiefgelaufen zu sein mit dem, was ein Papst erwägen muss, aber auch mit dem, der diesen Papst daran erinnern und als lebendiges Beispiel irgendwie anders, geprägt vom Hohelied und von Leben und Botschaft Jesu Christi, vorangehen sollte.

» Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll.
Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen.
Wir aber sind oft blind.
Wir bleiben in den schönen und bösen Stunden hängen
und erleben sie nicht durch
bis an den Brunnenpunkt,
an dem sie aus Gott herausströmen.
Das gilt für alles Schöne
und auch für das Elend.
In allem will Gott Begegnung feiern
und fragt und will die
anbetende, hingebende Antwort.
Die Kunst und der Auftrag ist nur dieser, aus diesen Einsichten und Gnaden
dauerndes Bewusstsein und dauernde Haltung zu machen und werden zu lassen.
Dann wird das Leben frei in der Freiheit,
die wir immer gesucht haben. «
P. Alfred Delp SJ, am 17. November 1944 auf einen Kassiber von Alfred Delp mit gefesselten Händen geschrieben aus seiner Zelle im Gefängnis Berlin-Tegel)

Die Schale der Liebe

Zwar nicht im „Papstspiegel“, aber doch in einem Kommentar zum Hohelied, findet sich ein zeitloser Text von Bernhard von Clairvaux, der dem Papst genau gelten könne wie Ihnen und mir. Unter dem Titel „Schale der Liebe“ ist er in unzähligen spirituellen oder frommen Büchern zu finden:

„Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale, nicht als Kanal.
Bei einem Kanal ist es so, dass er fast gleichzeitig empfängt und weitergibt.
Die Schale aber wartet, bis sie gefüllt ist, bis sie überfließt.
Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter,
denn sie weiß, dass der verflucht ist, der seinen Teil verweigert.
Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen,
und habe nicht den Wunsch, freigebiger als Gott zu sein.
Die Schale ahmt die Quelle nach.
Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist,
strömt sie zum Fluss, wird sie zur See.
Die Schale schämt sich nicht,
nicht überströmender zu sein als die Quelle.
Du tue das Gleiche!
Zuerst anfüllen und dann ausgießen.
Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen.
Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst.
Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst,
wem bist du dann gut?
Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle;
wenn nicht, schone dich.“

Ein unbarmherziger Gläubiger?

Bernhards „Schale der Liebe“ macht auf einfache Weise deutlich, was ein moralisierend gedeutetes Evangelium von einem spirituell gedeuteten Evangelium unterscheidet. Die Rede ist von einem verschuldeten Knecht, dessen Herr ihm nach viel Flehen und Klagen die Schuld schenkt.[2] Auf dem Weg nach draußen begegnet dem (jetzt ehemals) verschuldeten Knecht ein Mitknecht, der wiederum bei ihm in Schuld steht. Dieser klagt, bittet, und der gerade entschuldete Knecht packt und würgt ihn und fordert: „Bezahl, was du schuldig bist!“

Die umstehenden Knechte berichten davon dem Herrn, der lässt den ersten (entschuldeten) Knecht holen und schilt ihn: „Hättest du nicht auch mit deinem Mitknecht Erbarmen haben müssen, wie ich mit dir Erbarmen hatte?“ Matthäus erzählt weiter: „Und in seinem Zorn übergab ihn der Herr den Peinigern, bis er die ganze Schuld bezahlt hatte.“

Eine moralisierende Geschichte: Ich habe dir vergeben – du hast meine Vergebung erfahren – jetzt vergib du den anderen! Das ist – in Bernhards Bild – „Kanal“, nicht „Schale“. Die Vergebung soll flugs fließen, kann so, kann als erwartete Handlung eben nicht zur Haltung, zum Grund des Überflusses z.B. an Vergebung werden! Der gerade entschuldete Knecht ist noch nicht gefüllt, nicht erfüllt mit dem, was ihm da geschehen ist. Wenn sein Herr ihm gut gesonnen gewesen wäre, hätte er ihm beigestanden, „Schale“ zu werden, und nicht erwartet, „Kanal“ zu sein!

Eine spirituelle Geschichte – sie könnte so beginnen: Der entschuldete Knecht tritt den, der bei ihm Schulden hat, dieser fleht um Erlass. Klug wäre gewesen, wenn der entschuldete Knecht ihn für morgen oder übermorgen bestellt hätte, um Zeit zu gewinnen, das an ihm Geschehene zu verkosten, innerlich zu feiern, sich anreichern und innerlich bereichern zu lassen vom Gutsein seines Herrn ihm gegenüber. „Schale“ eben, nicht „Kanal“.

» Alle intensiven Beziehungen unter Menschen lassen sich durch eine zentrale ‚Standpunktgemeinsamkeit‘ beschreiben. [...]. Fragt man nach Jahren, was Menschen wesentlich, jenseits aller Augenblicksschwankungen, zusammenhält, so ist es fast immer eine Gemeinsamkeit fundamentaler Werteempfindungen und (religiöser) Überzeugungen. Dazu zählt nicht, dass zwei Menschen sich in allen Fragen ‚einig‘ sind – dass sie dieselbe politische Partei wählen oder in dieselbe Kirche gehen, dass sie dieselben Hobbys hegen oder den gleichen Freizeitsport betreiben -, unverzichtbar aber ist eine gleiche Sicht auf die Menschen, bedeutsam ist eine Gleichartigkeit der Wahrnehmung menschlicher Not, entscheidend ist eine zumindest vergleichbare Bereitschaft, darauf einzugehen. ‚Am selben Strick zu ziehen‘ bildet irgendwann das wohl tiefste Glück der Verbundenheit, vorausgesetzt, an diesem ‚Strick‘ hängt menschlich Wertvolles, bewegt sich etwas, das über Sinn und Unsinn, über Gelingen und Misslingen des Lebens entscheidet. Und diese ‚Standpunktgemeinschaft‘ ist es, die der johanneische Jesus sowohl zwischen sich und seinen Jüngern als auch zwischen den Jüngern untereinander betrachtet. «
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Zweiter Teil, Düsseldorf, 231.

Schale der Liebe werden – Schale der Liebe sein

Beten ist eine Weise, sich zur Schale der Liebe zu formen und sich zu einer solchen Schale formen zu lassen. Skeptisch bin ich auch hier dem „frommen“, dem, „moralischen“ Beten gegenüber – inwieweit Stundengebet, Rosenkranz oder das „Komm Herr, Jesus, sei du unser Gast“ wirklich hilfreich ist, „Schale der Liebe“ zu werden, erschließt sich mir nicht. Da flutscht das Gebet eher durch wie durch einen Kanal, um Bernhards Bild zu nutzen.

Ich denke eher an ein „spirituelles“ Beten: am Morgen den beginnenden Tag in den Blick nehmen mit dem, was schon feststeht, mit dem, was kommt – als läge ein weißes Blatt Papier vor mir, das ich „beschreiben“ darf, im doppelten Sinne des Wortes. Am Abend abschließen mit dem Blick darauf, was mir in meine „Schale der Liebe“ gelegt wurde. Und herausnehmen, äußern (auch im doppelten Sinne des Wortes), was keinen Platz in dieser Schale hat. Und wahrnehmen, was ich bewahren will, so, dass es irgendwann in mir „über-flüssig“ wird, mich also zum einen erfüllen und von mir zum anderen weitergegeben werden kann.

Dafür brauche ich kein Gebot, keine frommen Vorgaben, keinen tobenden Herren, das geschieht dann – einfach so, aus Überfluss, als Überfluss. Was wäre wohl passiert, wenn der entschuldete Knecht Zeit, Muse, Spiritualität zur Verfügung gehabt hätte – und dann seinem Schuldner begegnet wäre?

Bernhard von Clairvaux schrieb darüber, was ein Papst erwägen muss. Spirituell gelesen gilt das, was er schreibt und ebenso das, was Matthäus in seinem Evangelium schreibt, Ihnen und mir – um mit dem „überflüssigen Kanal“ aufzuhören und um mehr „überfließende Schale“ zu werden und zu sein.

Amen.

Köln, 15.09.2023
Harald Klein

[1] Bernhard von Clairvaux (2021): Was ein Papst erwägen muss. Sammlung Christliche Meister, Einsiedeln.

[2] vgl. Mt 18, 21-35.